Angesichts der wichtigen Beschäftigung mit der französischen und
deutschen Polizeistrategie, die offensichtlich auf eine bewusste
Eskalation der Situation hinarbeitete, um die Proteste gegen den
NATO-Gipfel in Straßburg zu zerschlagen, droht die inhaltliche
Aufarbeitung des Gipfels ein wenig unterzugehen. Deshalb hier eine
erste vorläufige Analyse der Kernelemente.
Artikel | Audio Interview
Effektivierung von Krieg und Besatzung und Kollisionskurs mit Russland
von Jürgen Wagner
Neue Macht- und Arbeitsteilung
Eine wichtige Rolle spielte auf dem Gipfel der Versuch, eine neue
transatlantische Macht – und Arbeitsteilung auf den Weg zu bringen. Die
machtpolitisch geschwächten Vereinigten Staaten sind bestrebt, die EU
stärker an den Kosten für die (militärische) Aufrechterhaltung der
bestehenden Weltordnung zu beteiligen. Dafür bieten sie den EU-Staaten
umgekehrt aber an, ihre Interessen künftig in deutlich größerem Maße
als bislang zu berücksichtigen.
Dieses Angebot wurde bereits Anfang Februar auf der Münchner
Sicherheitskonferenz unterbreitet und nun zum Auftakt des NATO-Gipfels
von Präsident Barack Obama nochmals wiederholt: "Wir wollen nicht
herablassend auf Europa schauen", so Obama. "Wir wollen nicht der
Schutzpatron Europas sein, wir wollen der Partner Europas sein."
Gleichzeitig betonte er, die Militarisierung der Europäischen Union,
die von Washington lange Zeit als rivalisierendes Projekt abgelehnt
wurde, sei aus Sicht Washingtons im Sinne der neuen Lastenteilung
begrüßenswert: "Je mehr militärische Fähigkeiten wir sehen, desto
glücklicher werden wir darüber sein, desto effektiver werden wir unsere
Fähigkeiten koordinieren können." (Spiegel Online, 3.4.09)
Dementsprechend fordert auch das Abschlussdokument des
Straßburg-Gipfels eine weitere Militarisierung der Europäischen Union:
"Die NATO erkennt die Bedeutung stärkerer und effektiverer
EU-Verteidigungskapazitäten an." (Ziffer 20)
NATO-Strategie 2010
Eine der wohl wichtigsten Entscheidungen des Gipfels bestand darin, nun
auch offiziell die Erarbeitung eines neuen Strategischen Konzeptes in
Auftrag zu geben. Es soll "die längerfristige Rolle der NATO im
Sicherheitsumfeld des 21. Jahrhunderts ausarbeiten", heißt es in der
Abschlusserklärung (Ziffer 1). Ziel ist es, das Konzept auf dem
nächsten NATO-Gipfel zu verabschieden.
Kernelement der Strategie soll der Comprehensive Approach sein. Der
Comprehensive Approach zielt darauf ab, "Stabilisierungseinsätze", also
Besatzungen wie im Kosovo und in Afghanistan, künftig "erfolgreicher"
durchführen zu können. Hierfür sollen zivile Akteure eingebunden werden
und vor Ort Hand in Hand mit dem Militär zusammenarbeiten, um so für
ein reibungsloses Funktionieren der Besatzung zu sorgen.
Durch diese Zivil-militärische Zusammenarbeit werden zivile Akteure
jedoch systematisch zu integralen Bestandteilen westlicher
Militäreinsätze degradiert und damit für große Teile der Bevölkerung
vor Ort zu Gegnern. Zivile Akteure werden so für die Durchsetzung
strategischer, wirtschaftlicher und politischer Zielen
instrumentalisiert und die Gewährleistung humanitärer Hilfe hierdurch
erheblich erschwert, teils gar verunmöglicht. Aus diesem Grund lehnen
Entwicklungsorganisationen diese Zivil-militärische Zusammenarbeit ab,
erst vor kurzem etwa der Dachverband entwicklungspolitischer
Nichtregierungsorganisationen (VENRO).[1] Dennoch wurde auf dem
NATO-Gipfel beschlossen, mit der Implementierung eines – weiterhin
geheimen – Aktionsplans zur Umsetzung des Comprehensive Approaches mit
Nachdruck fortzufahren und die Ergebnisse im Dezember 2009 zu
evaluieren (Abschlussdokument: Ziffer 18).
Prototypisch wird der Comprehensive Approach erstmals in großem Stil
beim NATO-Einsatz in Afghanistan erprobt. VENRO befürchtet nun, dass
die Zivil-militärische Zusammenarbeit künftig von Afghanistan "auf
andere Konflikt- beziehungsweise Post-Konfliktszenarien übertragen
wird."[2] Dies scheint tatsächlich genau der Plan zu sein. Die NATO
benötige eine grundsätzlich neue Strategie, so Angela Merkel in ihrer
Regierungserklärung kurz vor dem NATO-Gipfel. "Das hört sich einfach
an, ist aber vergleichsweise revolutionär", sagte Merkel und forderte,
dass "die Nato mit ihren militärischen Mitteln Teil eines umfassenden
und kohärenten Ansatzes" sein müsse, zu dem auch eine Vielfalt an
zivilen Aktionen gehöre. "Dieses Grundverständnis, das wir jetzt in
Afghanistan entwickelt haben, wird aber in Zukunft nicht der Einzelfall
sein, sondern muss zum strategischen Allgemeingut der Nato werden."
(süddeutsche.de, 27.3.09)
Ein zweiter wichtiger Aspekt, der höchstwahrscheinlich eine wichtige
Rolle bei der Überarbeitung der NATO-Strategie spielen wird, ist das
Bestreben, die NATO künftig "pro-aktiver", also schneller und flexibler
einsatzfähig zu machen, wie es Obamas Sicherheitsberater James Jones
nannte. Hierfür schlugen die derzeit wichtigsten Papiere zur Erneuerung
des Strategischen Konzepts, eines von fünf ehemaligen hohen
NATO-Generälen und eines, erstellt von vier der wichtigsten
US-Denkfabriken, folgendes Maßnahmenbündel vor: Abschaffung des
Konsensprinzips (zumindest auf allen Ebenen unterhalb des NATO-Rats);
Keine Mitspracherechte an NATO-Kriegen für die Mitgliedsländer, die
sich nicht beteiligen; Übernahme der Einsatzkosten durch sämtliche
NATO-Staaten und nicht nur diejenigen, die sich an einem Krieg
beteiligen.[3]
Sollte dieser Umbau der Entscheidungsstrukturen tatsächlich umgesetzt
werden, würden die Machtverhältnisse innerhalb der NATO drastisch
zugunsten der großen Staaten verschoben und die Kriegsführungsfähigkeit
des Bündnisses erheblich gesteigert. Ein versteckter Hinweis, dass an
eine Überabreitung der Strukturen und Entscheidungsprozesse gedacht
wird, findet sich in einem weiteren auf dem Gipfel verabschiedeten
Dokument: "Wir müssen außerdem die NATO-Strukturen reformieren, um eine
schlankere und kosteneffizientere Organisation zu schaffen. Wir werden
die Fähigkeiten der NATO vergrößern, dort wo unsere Interessen
betroffen sind, eine wichtige Rolle im Krisenmanagement und der
Konfliktlösung zu spielen."[4]
Besatzung konkret: Afghanistan, Irak
Des Weiteren wurde Obamas neue Afghanistan-Strategie von den
Verbündeten vorbehaltlos begrüßt: Sie beinhaltet mehr Hilfe, vor allem
aber eine Vergrößerung der Truppenanzahl, verbunden mit einer
Eskalation der Kampfhandlungen – möglicherweise bis nach Pakistan: "Die
Allianz stellt sich geschlossen hinter Obamas neue
Afghanistan-Strategie." (süddeutsche.de, 4.4.09) 62.000 Truppen
befinden sich gegenwärtig am Hindukusch, die USA haben bereits
zusätzlich 21.000 beschlossen und nun hat die NATO nachgezogen und will
ebenfalls weitere 5.000 stellen.
Auch was den Irak anbelangt findet sich ein viel sagender Hinweis.
Angesichts der Tatsache, dass auch die neue US-Regierung die Besatzung
des Landes zumindest mittelfristig aufrecht erhalten will, hat die NATO
bereits im Dezember 2008 beschlossen, dass die "NATO Training Mission
in Iraq" künftig auch innerhalb des Landes agieren soll. Ihre Aufgaben
umfassen Hilfe bei der "Absicherung der Grenzen", einer
"Verteidigungsreform" und dem Aufbau von
"Verteidigungsinstitutionen".[5]
Dieses Engagement, mit dem man den USA direkt bei der Besatzung unter
die Arme greift, soll nun offenbar verstetigt werden. Im
Abschlussdokument heißt es hierzu: "Wir erneuern unser Angebot an die
irakische Regierung für einen Rahmen zur strukturierten Kooperation als
Basis für eine langfristige Zusammenarbeit und begrüßen die
diesbezüglich bereits erzielten Fortschritte." (Ziffer 11; Hervorhebung
vom Autor) Nach den schweren Konflikten um den Irak-Krieg sind dies
Entscheidungen mit erheblicher Symbolwirkung – sowohl gegenüber den USA
als auch gegenüber dem Rest der Welt, sie setzen ein "klares Zeichen
für einen Neuanfang."[6]
Kollisionskurs mit Russland
Trotz der begrüßenswerten Absichtserklärung der US-Regierung, den
nuklearen Abrüstungsprozess wieder in Gang zu bringen, wurde ansonsten
gegenüber Russland ein harter Ton angeschlagen. "Die ohne die
Zustimmung der Regierung erfolgte russische Militärpräsenz in den
georgischen Regionen Abchasien und Süd-Osstien ist besonders Besorgnis
erregend. Darüber hinaus stellen Russlands Handlungen in Georgien seine
Bereitschaft zur Einhaltung der fundamentalen OSZE-Prinzipien in Frage,
auf der Sicherheit und Stabilität in Europa aufbauen."
(Abschlussdokument: Ziffer 57)
In diesem Zusammenhang dürfte Moskau besondere Sorge bereiten, dass
weiterhin auf die mehrfach als "rote Linie" bezeichnete NATO-Aufnahme
Georgiens und der Ukraine beharrt wird. Im Abschlussdokument heißt es
hierzu: "Auf dem Gipfel in Bukarest haben wir uns darauf verständigt,
dass die Ukraine und Georgien Mitglieder der NATO werden und wir
bestätigen nochmals alle Elemente dieser Entscheidung." (Ziffer 29)
Gleichzeitig wird im Abschlussdokument auf die Bedeutung der
NATO-Ukraine und NATO-Georgien-Kommissionen verwiesen, die zur
Jahreswende mit dem Ziel eingesetzt wurden, die Heranführung beider
Länder an das Bündnis zu beschleunigen.
Auch in der Frage der NATO-Raketenabwehr, die zusätzlich zu den
US-Komponenten aufgebaut werden soll, hält man am bisherigen Plan trotz
scharfer russischer Kritik fest. Zwar wird festgestellt, dass
"zusätzliche Arbeit erforderlich ist" (Ziffer 51) - ein Verweis auf die
gravierenden technischen Probleme -, gleichzeitig wird aber der
Ständige NATO-Rat damit beauftragt, mit der Ausplanungen für ein
Abwehschild fortzufahren, der nicht nur im Ausland stationierte
Truppen, sondern auch NATO-Territorium abdeckt und so russische Raketen
neutralisieren könnte (Ziffer 53).
Darüber hinaus finden sich in der Obama-Regierung zahlreiche
Befürworter einer "Globalen NATO", also dem Bestreben, das Bündnis um
"befreundete" Demokratien außerhalb des euro-atlantischen Raums zu
erweitern. Damit will man eine Konkurrenzorganisation zur UNO schaffen,
um das dortige Vetorecht Russlands und Chinas gegenüber
Militäreinsätzen auszuhebeln. Mit Bestürzung reagiert man in Moskau auf
derartige Pläne, aus der NATO eine Art Alternativ-UNO mit Lizenz zur
militärischen Gewaltanwendung zu machen. So äußerte sich der russische
Nato-Botschafter Dmitri Rogosin kurz vor dem NATO-Gipfel: "Heute
bekommen wir weitere Hinweise darauf, dass die Nato ihre Rolle
globalisieren will. Faktisch geht es um die künftige Möglichkeit,
Länder in die Allianz aufzunehmen, die mit dem euroatlantischen Raum
nichts zu tun haben - wie etwa Australien, Japan, Neuseeland und
Indien." Vor diesem Hintergrund wolle die Nato anscheinend eine
"gewisse Demokratien-Liga" gründen. Doch der Versuch, den
UN-Sicherheitsrat durch solch ein Gremium zu ersetzen, bedeute eine
"ernsthafte Herausforderung an die meisten Länder der Welt." (Ria
Novosti, 13.3.09)
Dennoch wurde auf dem Gipfel beschlossen, mit Anders Fogh Rasmussen
einen erklärten Befürworter der "Globalen NATO" zum nächsten
Generalsekretär des Bündnisses zu ernennen.[7] Auch im
Abschlussdokument des Gipfels findet sich der Verweis, künftig noch
intensiver mit Nicht-NATO-Demokratien zusammenarbeiten zu wollen,
explizit genannt werden Australien, Japan, Neu-Seeland, Südkorea mit
Blick auf deren Beiträge in Afghanistan (Ziffer 40).
Fazit
Auf dem NATO-Gipfel wurde der Eskalationskurs des Bündnisses konsequent
fortgesetzt. Sämtliche Entscheidungen deuten auf eine Intensivierung
des Kriegskurses hin. Allein schon deshalb wird man sich auch in
Zukunft weiter kritisch mit der NATO auseinandersetzen müssen.
Anmerkungen:
[1] Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan, VENRO-Positionspapier 1/2009.
[2] Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan, VENRO-Positionspapier 1/2009, S. 2.
[3] Vgl. The Washington NATO Project: Alliance Reborn: An Atlantic
Compact for the 21st Century, Februar 2009; Naumann,
Klaus/Shalikashvili, John/Lord Inge/Lanxade, Jacques/Breemen, Henk van
den: Towards a Grand Strategy for an Uncertain World: Renewing
Transatlantic Partnership, URL: http://tinyurl.com/5bujl9; An interview with General James L. Jones, NATO Defense College, Research Paper, Januar 2008.
[4] Declaration on Alliance Security, 3.4.2009, URL: http://www.nato.int/cps/en/natolive/news_52838.htm
[5] Final communiqué of The Meeting of the North Atlantic Council at
the level of Foreign Ministers, NATO Presseerklärung, 3.12.2008
[6] Riecke, Henning: Mehr Einsatz in Afghanistan. Deutschland kann
Obama konkrete Kooperationsangebote machen, in: Internationale Politik,
Januar 2009, S. 39-44.
[7] Rasmussen, Anders Fogh, Address to the US Chamber of Commerce, 28.02.2008.
Jürgen Wagner, IMI (Informationsstelle Militarisierung)
Artikel als PDF
Interview auf Radio Z Nürnberg - 10:20 Minuten
Frankreich will nach NATO-Protesten Vermummungsverbot einführen
nato 2009
die liste der o.g. ziffern findet sich hier
www.nato.int/cps/en/SID-9F636D4D-33538698/natolive/news_52837.htm?mode=p...
interessant dabei, wie sich die nato selbst zu feiern versucht:
"Today we renew our commitment to a common approach to address the challenges to peace and security in the Euro-Atlantic area. We underscore that the existing structures – NATO, the European Union (EU), the Organization for Security and Cooperation in Europe (OSCE) and the Council of Europe – based on common values, continue to provide every opportunity for countries to engage substantively on Euro-Atlantic security with a broad acquis, established over decades, that includes respect for human rights; territorial integrity; the sovereignty of all states, including their right to decide their own security arrangements; and the requirement to fulfil international commitments and agreements."
man wird diesem orwell'schen babylon. sprachkonstrukt vermutlich nur gerecht, wenn man das interpretiert: d.h. bombardierung von afghanistan, pakistan, - sicherung der ölquellen im irak (der rest ist für sie unwichtig), aufbau der sogen. anti-piraten-seestreitkräfte, etc.etc.
die oben behauptete darstellung "Trotz der begrüßenswerten Absichtserklärung der US-Regierung, den nuklearen Abrüstungsprozess wieder in Gang zu bringen...", ist leider falsch, sie wird seit 1953 immer wieder von den regierungen der usa kolportiert (vgl. jungewelt vom 9.4.09), insbesondere wenn es die moderne gesellschaft schon wieder vergessen hatte.
bedeutsam ist jedoch die verbindung von ökonomischen entwicklung und militärischen 'zwängen' - ohne den sicheren zugang zum öl, zu den 'freien weltmärkten' etc. ist der laden nicht zu halten, dies erfordert die notwendigkeit der militärischen herrschaft. wenn merkel kürzlich meinte, in afgh. entscheide sich der fortbestand der nato, und damit auch die militärische absicherung der kapalist. ausbeutungsstrukturen, so hat ihr da jemand mal was richtiges in den rede-text reingeschrieben. vermutlich ist auch die nervosität und (para-)militärischen absicherung von strasbourg-baden-baden-kehl auf diesem hintergrund zu betrachten und daher festzuhalten, dass dies künftig -2010 in portugal- nur noch so laufen wird; die verkoppelung der inneren und äußeren sicherheit - zum wohl der extraprofite, die grad nicht mehr so gut sprudeln - war schon immer ein traum dieser polit-kader.