No Borders Calais: In Erinnerung an Marie-Noelle

Marie-Noelle Gues, Zetkin

Am Samstagmorgen ist unsere Genossin Marie-Noelle Gues, auch als Zetkin bekannt, an Krebs verstorben. Marie-Noelle war die erste No Border-Aktivistin in Calais. Schon vor dem No Border Camp 2009 in Calais führte sie über Jahre hinweg einen einsamen Kampf gegen das Grenzregime. Sie patroullierte die Straßen, bewaffnet nur mit einer Fotokamera und ihrem unglaublichen Mut, schritt bei Polizeiübergriffen gegenüber Migrant_innen ein, dokumentierte und informierte über die Brutalität der Polizei. Damit widersetzte sie sich dem Schweigen und der Apathie, die den Nährboden für jegliche Repression darstellen. Sie ließ sich weder von den zahlreichen Anklagen und Gerichtsverfahren seitens des Staates, noch Schikanen der Polizei oder Todesdrohungen der Faschos aufhalten. Sie war immer in den Straßen, Jungles und Squats von Calais anzutreffen, beim Filmen, Schreiben, Diskutieren (z.B. diskreditierte sie meine Ideen für das weitere Vorgehen in Calais als "humanitäre Arbeit"), Schreien ("Petain! Revient! T'as oublié tes chiens!") oder Singen ("Verdammt, es ist so schwierig neue Reime auf Sarkozy zu finden."). Und nicht zuletzt war sie eine Inspiration für so viele von uns.

Eine Genossin erinnert sich an Marie-Noelle:

"Es fällt mir schwer von ihr in der Vergangenheitsform zu sprechen.

Marie-Noelle war unabhängig und mutig, ein großes Vorbild für alle Aktivist_innen. Sie wußte, dass ein konsequenter Kampf für eine gerechtere Gesellschaft diejenigen verärgern würde, die an der Erhaltung des status quo interessiert sind. Das hielt sie aber nie davon ab genau dies zu tun: ob Polizist_innen, Beamt_innen, oder Mitarbeiter_innen der Hilfsorganisationen, denen mehr am Erhalt ihrer eigenen Privilegien, als dem Aufzeigen der abscheulichen Ungerechtigkeit der Grenzkontrollen liegt - sie alle bekamen ihre Meinung zu hören.

Als ich 2009 zum ersten Mal nach Calais kam, war ich von der Person begeistert, die eine eine-Frau-FITwatch zu sein schien. Marie-Noelle ging allein in den alten Pashtunenjungle, der damals ein sehr bedrohlicher Ort war. Sie sprach mit Leuten und falls die Polizei kam stellte sie sich ihnen entgegen und machte Fotos.

Trotz der einschüchternden Atmosphäre trat diese zierliche Frau mit einer großen Persönlichkeit dem Staat furchtlos und oft allein entgegen, riskierte polizeiliche Schikanen und Gerichtsverfahren. Ihre höhere Wertschätzung von Gerechtigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung ist etwas, von dem sich so manche gewiss ein Stück abschneiden können.

Sie war besonders für Frauen ein großes Vorbild. Es erfordert großen Mut, sich in dieser extrem patriarchalen Umgebung zu behaupten, seien es männliche Migranten, die aus Verhältnissen kommen in denen sie höher geschätzt werden als Frauen und deshalb die "Reise" nach Europa antreten dürfen. Oder männliche Mafiamitglieder, die in Calais einen Kampf um Geld und Einflüsse führen. Oder die männlichen CRS-Beamten, die Drohungen und Gewalt einsetzen um den patriarchalen Staat zu verteidigen. Und schließlich männliche Nazis, die ihr Todesdrohungen schickten.

So wie sie zuvor selbst von Clara Zetkin und anderen Kommunist_innen beeinflusst wurde, gab mir Marie-Noelle Kraft im Kampf gegen die Staatsgewalt in Calais. Lasst uns den Geist des Widerstandes durch die Erinnerung an sie am Leben erhalten."

Marie-Noelle beschrieb ihre Arbeit in den Straßen von Calais folgendermaßen: "Es ist wichtig ihnen zu zeigen, dass wir immer in der Nähe sind und wenn sie etwas tun werden wir da sein. Ich will sie diese Angst spüren lassen" ("C'est important d'être capable de montrer qu'on peut être toujours là et qu'on peut être présent quand ils font quelque chose. C'est cette peur la que je veux leur donner.", so MN im Film "L'Exil et Le Royaume").

Sie schrieb ebenfalls regelmäßig Berichte über die Polizeirepression und postete sie bei Indymedia Lille und ihrem Blog (http://passworld.over-blog.net/). Ihr Kunstname und Nom du Guerre war Zetkin, zu Ehren der Kommunistin und Feministin Clara Zetkin (https://secure.wikimedia.org/wikipedia/de/wiki/Clara_Zetkin). Der letzte Blogeintrag vom 15. August vergleicht die Situation in Calais mit den Deportationen von 1942 und verurteilt nicht nur die Polizei, sondern auch die "collabos" ("Kollaborateur_innen") von der SNCF (französische Bahn), die die Polizei über sich am Bahnhof aufhaltende Migranten informieren. Marie war sichtlich total unberührt vom letzten Gerichtsverfahren, in dem sie (zum x-ten Mal, wir haben aufgehört zu zählen) für "outrage", die Beleidigung von Staatsbeamt_innen - dieses Mal, weil sie von ihr "collabos" geschimpft wurden - verurteilt wurde.

Hier http://www.dailymotion.com/zetkin#videoId=xk6dxy finden sich einige Videos, die Marie-Noelle in einer für sie typischen Aktion zeigen - allein mit ihrer Kamera und der totalen "outrage"-Attitüde gegenüber den Cops.

Wir werden Marie als Freundin, Genossin und Inspiration im Gedächtnis behalten. In den letzten Tagen singen wir immer wieder das "Lied der Partisanen" ("Chant de Partisans"):  "Amie, si tu tombes, une amie sort de l'ombre à ta place" ("Freundin, falls du fällst kommt eine Freundin aus dem Schatten und nimmt deinen Platz ein."). Genoss_innen aus ganz Europa gedenken Marie.

Wir ermuntern alle Freund_innen und Genoss_innen zu Aktionen zur Erinnerung an Marie.

einige Menschen aus dem No Borders Calais-Kollektiv

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