Am gestrigen Freitag, den 16. September 2010 fand vor dem Amtsgericht Stuttgart der zweite Verhandlungstag gegen den Antifaschisten Chris statt. Nach einer wenig ergiebigen Beweisaufnahme, hielten Staatsanwaltschaft und Verteidigung ihre Plädoyers. Anschließend verlas Chris eine ausführliche und kämpferische Prozesserklärung. Das Gericht verurteilte ihn in beiden Anklagepunkten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 11 Monaten. Während der Urteilsverkündung empörten sich etliche Prozessbesucher, daraufhin kam es zur Räumung des Gerichtssaales.
Kundgebung vor Prozessbeginn
Bereits auf 9 Uhr hatte der Stuttgarter Solikreis zu einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude aufgerufen. Über 80 Menschen nahmen daran teil. Grußbotschaften hielten die Ver.di Jugend, die Partei Die Linke und die MLPD. Anschließend hielt der Stuttgarter Solikreis einen Redebeitrag in dem er unter anderem feststellte: „So erschreckend die vollkommen willkürlich angeordneten sechs Wochen Untersuchungshaft auch sind und ganz egal wie die heutige Gerichtsverhandlung auch ausgehen mag. Wir sagen klar und deutlich: Entschlossenes antifaschistisches Engagement und aktiver Widerstand gegen rassistische Hetzer war, ist und bleibt legitim!“
Zeugenaussagen bringen wenig neues
Im Anschluss begann um 10 Uhr die Gerichtsverhandlung gegen Chris. Als Sitzungsvertretung für den StA Stefan Biehl vertrat Oberstaatsanwalt Häussler höchst persönlich die Anklage. Erneut betrat Chris unter Applaus und Parolen den Gerichtssaal, der mit 64 Plätzen nicht annähernd groß genug für die anwesenden ProzessbesucherInnen war, deren Zahl bis zum Verhandlungsbeginn noch auf etwa 100 Personen angewachsen war.
Als erster Zeuge wurde ein Polizeibeamter vernommen, der am Polizeieinsatz am 2. Juni beteiligt war, als die Stuttgarter Polizei mit Pfefferspray und Schlagstöcken die friedliche Besetzung der Bühne der Rechtspopulisten beendete. Zu den Körperverletzungsvorwürfen gegen Chris, der auf der Bühne durch ein Transparent hindurch, einen Polizisten getreten haben soll, stellte er fest: „Ich bin nicht getreten worden (…), ich habe da auf Kniehöhe nichts mitbekommen.“
Anschließend wurde ein Rassist der Partei „Die Freiheit“ vernommen, der Geschädigter im Rahmen der Parkhausschlägerei gewesen sein soll. Zum Tatgeschehen hatte er wenig neues beizutragen. Auf die Frage ob er den Angeklagten erkennen könne antwortet er, er sei sich nicht sicher.
Als letzter Zeuge wurde der für die Lichtbildvorlage, die erst zu den Tatvorwürfen gegen Chris führte, zuständige Polizeibeamte in den Gerichtssaal gebeten. Anhand seiner Ausführungen wurde schnell klar, dass im Rahmen dieser Bildvorlage keine juristisch zulässige Methode angewandt wurde. Anstelle der üblichen Wahllichtbildvorlage wurden kurzerhand 130 Bilder aller erkennungsdienstlich behandelten Personen die in das relativ beliebige Raster eines der Zeugen (westeuropäisch, 160-170 cm, geb. zw. 1985 und 1994) fielen, vorgelegt. Darüberhinaus konnte der Zeuge nicht erklären aus welchem Grund Herr Sizzler, ein bekannter Stuttgarter Staatsschützer der für sein Vorgehen gegen Linke in anderen Fällen bekannt ist, bei der Erstellung der Lichtbildvorlage anwesend war. Vom Verteidiger nach der rechtlichen Grundlage einer solchen Lichtbildvorlage befragt, antwortete der Zeuge lediglich: „Gibt´s schon – ich kenn' aber nicht den Namen.“
Anträge der Verteidigung werden abgeschmettert
Nach der Entlassung des letzten Zeugen, verlas der Verteidiger insgesamt drei Anträge in denen er unter anderem „jeder Verwertbarkeit (…) der durchgeführten Lichtbildvorlage“ widersprach. Anschließend verlas das Gericht noch die erhobenen Strafanzeigen und die Einträge des Angeklagten im Bundeszentralregister.
Nach einer Unterbrechung lehnt das Gericht alle zu beurteilenden Anträge des Verteidigers (insgesamt sieben) mit unterschiedlichen Begründungen ab.
Oberstaatsanwalt plädiert auf schuldig
Sein Plädoyer führt OStA Häussler in chronologischer Reihenfolge. Zur Bühnenbesetzung am 2. Juni erklärt er, dass er „der Auffassung (sei), dass die Tat ihm nachgewiesen werden kann“. Nachdem seine weiteren Ausführungen bei den Prozessbesuchern zu Verwunderung und Empörung führten, richtete er sich mit autoritärem Ton an diese: „Kommentare verbitte ich mir! (…) Insbesondere verbiete ich mir eine Bezichtigung der Lüge und werde eine solche auch strafrechtlich verfolgen!“
In der Bühnenbesetzung sieht er einen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz nach §21 (Stören einer Versammlung) und eine Sachbeschädigung, da die Uhr eines Polizeibeamten im Zuge der Festnahme von Chris beschädigt worden sein soll.
Anschließend führte er zum Angriff auf die Rassisten der rechtspopulistischen Partei „Die Freiheit“ aus, dass er trotz der Einwände der Verteidigung in der Lichtbildvorlage „ein gewichtiges Indiz“ sehe. Als er behauptete, dass „diese Tat dem Angeklagten nicht wesensfremd“ sei, kam es zu erneuten Unmutsäußerungen im Gerichtssaal. Zusammenfassend stellte er fest, dass „eine deutliche Missbilligung ausgesprochen werden“ müsse, da „Straßenschlachten und Straßenschlägereien in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht hingenommen werden können“. Er beantragte eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten.
Verteidiger fordert Freispruch
Der Verteidiger stellte in seinem Plädoyer zu den Vorwürfen im Rahmen der Bühnenbesetzung fest, dass der „einzige Belastungszeuge Herr M.“ war. Anschließend fasste er die widersprüchliche Aussage dieses Zeugen zusammen und erklärte: „Meiner Meinung nach entbehrt die Zeugenaussage von Herrn M. jedem Beweiswert“. Im Bezug auf die anderen Aussagen stellte er fest, dass „Polizeikommissar M. vollkommen widerlegt ist“ und betonte, dass der Angeklagte weder getreten noch geschlagen hat.
Zur Auseinandersetzung im Rahmen des Gründungsparteitags der Landessektion der Partei „Die Freiheit“ beanstandete er erneut die durchgeführte Lichtbildvorlage: „Dass man hier versucht eine unrechtmäßige Maßnahme als rechtmäßig darzustellen, geht fehl! (…) Die Lichtbildvorlage entbehrt jeder rechtlichen Grundlage!“ Er betont, dass es nicht möglich sei die Lichtbildvorlage zu rekonstruieren und noch nicht einmal ausgeschlossen werden könne, dass der Angeklagte nicht die einzige vorgelegte Person mit dunklen Haaren sei.
Am Ende seines Plädoyers beantragte er den Angeklagten in beiden Anklagepunkten freizusprechen. Desweiteren forderte er die Aufhebung der Untersuchungshaft und eine entsprechende Haftentschädigung.
Prozesserklärung von Chris
„Was hier verhandelt wird ist der erfolgreiche Widerstand gegen Rassismus“ betont Chris zu Beginn seiner Erklärung. Nachdem er die Bedeutung des kulturell begründeten Rassismus in der aktuellen gesellschaftlichen Situation und kapitalistischen Krise dargelegt hatte, ging er direkt auf die Anklagende Behörde ein: „Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat gerade durch Sie, Herr Häussler ihre politische Motivation geäußert“. Anschließend stellte er mehrere Verfahren gegen Stuttgarter Antifaschisten in den vergangenen Jahre dar und stellte diesen den mangelnden Verfolgungswillen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft gegen Nazikriegsverbrecher entgegen. Mehrfach wurde er in seinen Ausführungen durch cholerische Äußerungen von OSta Häussler unterbrochen. Zum Abschluss seiner Erklärung bedankte sich Chris für die breite Solidarität die er erfahren hat.
Urteilsverkündung und Räumung des Gerichtssaals
Nach einer kurzen Unterbrechung verurteilte das Amtsgericht Stuttgart Chris zu einer Haftstrafe von 11 Monaten. Die ProzessbesucherInnen reagierten mit lautstarkem Protest, woraufhin die vorsitzende Richterin den Gerichtssaal durch Bereitschaftspolizisten und Justizbedienstete räumen ließ.
Im Flur vor dem Gerichtssaal kam es zu längeren Rangeleien mit Polizisten und Justizbeamten, die versuchten, sämtliche ProzessbesucherInnen abzudrängen und dabei auf kollektiven Widerstand stießen.
Abtransport von Chris
Nach der Urteilsverkündung versammelte sich ein Großteil der ProzessbeobachterInnen vor einer zentralen Ausfahrt des Amtsgerichts, um Chris an diesem Tag noch einmal gemeinsam zu grüßen und zu verdeutlichen, dass er, egal wie es mit seiner Haftsituation weiter geht, nicht alleine ist. Die anwesende Polizei führte auch in dieser Situation ihre Linie fort, verdrängte und belästigte die AntifaschistInnen, während Chris möglichst schnell durch einen Ausgang auf der anderen Seite des Gebäudes heraus geschleust wurde. Die schnelle Reaktion einiger AntifaschistInnen auf dieses Manöver ermöglichte es ihnen dennoch, den Gefangenentransport kurzzeitig zu stoppen und Chris lautstark mit Parolen und Klopfen gegen den Wagen zu grüßen.
Versuch eines vorläufigen Fazits
Das juristische Ergebnis des Prozesses ist angesichts der klaren politischen Intentionen dahinter nicht besonders überraschend. Einmal mehr wurde eindrücklich bewiesen, dass diese Justiz Willkür walten lässt um gegen linke und antifaschistische AktivistInnen vorzugehen. Was zählt, ist unsere Fähigkeit, trotz und wegen derartiger Angriffe zusammenzustehen und politisch nicht in die Defensive zu geraten. Trotz der Härte des Urteils, werden wir die Solidaritätsarbeit entschlossen weiter führen und uns nicht einschüchtern lassen.
Bei dem ersten Prozesstag wurde Chris von von der Staatsanwaltschaft eine Einlassung vorgeschlagen: Wenn er gestehe, bei der Auseinandersetzung bei der Gründung der Partei die Freiheit beteiligt gewesen zu sein, würden sie die Vorwürfe gegen ihn im Zusammenhang mit der Bühnenbesetzung am 02.06.2011 einstellen. Seine Haftstrafe hätte dann acht Monate betragen. Chris ist auf diesen dreisten Vorschlag nicht eingegangen, sondern hat an dem Tag als auch am Fortsetzungstermin weiterhin Stärke gezeigt.
Der Prozess gegen Chris hat eine breite Welle der Solidarität hervorgerufen, die zahlreiche Spektren der Linken umfasst. Es ist schön und motivierend zu sehen, wie viele Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen sich in verschiedenster Form an der sehr kurzfristigen Organisation einer angemessenen Soli-Arbeit beteiligt haben.
Als Solikreis, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, der Öffentlichkeitsarbeit und den Prozessmobilisierungen einen strukturellen Rahmen zu geben, möchten wir an dieser Stelle ein aufrichtiges Danke! an alle richten, die ihren Teil dazu beigetragen haben.
Zuletzt bleibt zu sagen, dass unsere Arbeit mit der Verurteilung von Chris in der ersten Instanz noch lange nicht vorbei ist. Nun steht zuvorderst das Betreuen unseres Freundes und Genossen im Knast an – eine umfangreiche Aufgabe, die uns alle angeht.
Ebenso werden wir zu dem anstehenden folgenden Prozess vor dem Landgericht in dieser Sache selbstverständlich erneut arbeiten.
Wir bleiben dabei: Es ist unser gutes Recht, den legitimen Widerstand gegen Rechtspopulismus und Rassismus zu verteidigen! Ob auf der Straße, in den Köpfen, oder in den Gerichtssälen!
Dazu stehen wir zusammen und lassen uns nicht spalten!
Antifaschismus ist und bleibt legitim!
Freiheit für Chris!
Mehr Infos unter: www.solikreis-stuttgart.tk
Solidarische Grüße...
... und viel Erfolg vor dem Landgericht! Wie hieß denn die Richterin beim jetzigen Prozess?
Auch Richter_innen haben Namen und Adressen!
Wenn Ich micht nicht täusche heißt sie "Burkhardt". Den Vornamen weiß' Ich leider auch nicht.