- chi non ha memoria non ha futuro -
Am Samstag, den 30. April 2011 fuhren wir nach Genova, um die Eltern von Carlo Giuliani zu interviewen. Es war gut, dass unser Übersetzer ein gebürtiger Neapolitaner war, denn sonst hätten wir uns kaum in Genova zurecht gefunden. Die Giulianis wohnen hoch über Genova, an den Hängen der umgebenden Bergen. Von ihrem Haus und Garten hat man einem fantastischen Blick auf die lingurische Hafenstadt.
Bevor wir auf der kleinen Terrasse zum Mittagessen Platz nahmen und im
Anschluss das Interview führten, durchquerten wir einen schönen Garten.
Einen Garten mit viel Patina. Einen Garten dessen Blumen einen
angenehmen Frühlingsduft verströmten. Eine Urlaubsatmosphäre, die im
krassen Widerspruch zu Inhalt des Interviews stand.
(Wir weisen darauf hin, dass wegen der Übersetzung das gesprochene Wort etwas „eingedeutscht“ wurde. Also Begriffe und Ausdrücke umgangssprachlich niedergeschrieben wurden. Wir haben uns erlaubt, Antworten die beide gleichzeitig und ergänzend gaben, einer Person zuzuordnen. Ein herzliches Dankeschön hier noch mal an dem Übersetzer. Und auch an unseren Nachübersetzer aus Dortmund.
Das Interview war sehr lebhaft und chaotisch. So fängt die Aufzeichnung schon an einem Punkt an, wo die Eingangsfrage noch nicht gestellt wurde. Wir bitten das zu entschuldigen.)
Haidi Giuliani: Ich habe mit anderen eine Organisation gegründet. Es ist eine Organisation, die alle die Fälle sammelt, in denen von staatlicher Seite aus Menschen getötet wurden. Die dazu recherchiert und veröffentlicht. Und so bin ich in Kontakt mit vielen Committees und Vereinigungen von Opfern, die schon vor Carlo zu Opfern wurden. Seit drei Jahren bin ich auf diversen Treffen gewesen. Und wir haben uns entschlossen eine gemeinsame Internet-Site zu installieren. Alle haben zugestimmt. Auch die Vereinigungen der Hinterbliebenen der faschistischen Anschläge der 60ziger und 70ziger Jahre. Der Opfer von der Piazza Fontana 1969, Piazza della Loggia in Brescia 1974, der Bahnhhof von Bologna 1980, usw..
Und natürlich die vielen einzelnen Opfer von staatlicher und polizeilicher Gewalt.
Azzoncao: Wie heißt diese Internet-Site?
Haidi Giuliani: Sie heißt reti-invisibili. Ich sage immer: Um meinen Sohn in mir heranwachsen zu lassen, brauchte ich 9 Monate. Für diese Internet-Site brauchte ich drei Jahre.
Es gab die verschiedensten Meinungen und es war schwierig sie in Einklang zu bekommen. Z.B. die Vorsitzenden der Vereinigungen der Opfer der Anschläge der 60ziger und 70ziger Jahre wollten nicht ihre Opfer mit anderen Opfern vergleichen. Sie unterstrichen, dass ihre Angehörigen zufällige Opfer gewesen sein, nicht wie andere Opfer bewusst ausgesucht worden sind. Andere sagten, dass ihre Angehörigen nicht auf Grund einer politischen Idee ermordet worden seien, sondern dass es sich um einen Zufall handele. Ich habe immer gesagt, dass ich an diesen Unterschieden kein Interesse habe. Für mich ist es entscheidender, dass alle Opfer des italienischen Staates geworden sind. Und das allen diesen Menschen weder Gerechtigkeit, noch Wahrheit widerfahren ist.
Z.B. Giuseppe Pinelli oder Pier Paolo Pasolini, sie haben nie Gerechtigkeit vor einem Gericht erfahren. Derjenige, der sich damals selbst des Mordes an Pasolini bezichtigte, war nicht sein Mörder. Es waren andere Personen, die hinter der Tat standen.
Und auch nachdem wir diese Site gemacht haben hat es weitere Morde gegeben. Federico Aldrovandi und Stefano Cucchi. Über diese Beiden wurde in den Medien berichtet. Aber es gibt noch viele Namen von weiteren Todesopfern, die die Italiener nicht kennen. Und dabei reden wir nicht von den vielen Menschen, die in italienischen Gefängnissen sterben. Nicht von den durch den Staat ermordeten MigrantInnen, deren Namen wir nie erfahren werden In Italien gibt es nicht die Todesstrafe per Gesetz. Aber es gibt die Todesstrafe de facto, in der Realität. Bei all diesen Opfern handelt es sich um Opfer, bei denen die Tat und die Täter mit staatlichen Institutionen verknüpft sind. Deshalb werden sie nicht zur Verantwortlichkeit gezogen. Deshalb kommt die Wahrheit nicht ans Licht.
Giuliano Giuliani: Es gibt in den staatlichen Institutionen fast schon die Gewohnheit sich extralegal zu bewegen und sich krimineller Machenschaften zu bedienen.
Z.B. gibt es diese Kaserne der Carabinieri in dem Stadtteil Quadraro in Rom, wo der junge Mann Stefano Gucchi zu Tode geprügelt wurde. Mit Schlägen wurden ihm das Becken und die Wirbel zertrümmert. Einige Wochen vor diesem Fall, wurde in der gleichen Kaserne einer jungen Frau von drei Carabinieris und einem Polizisten Gewalt angetan. Diese wurden vom Dienst suspendiert. Anders wie Stefano Gucchi überlebte die junge Frau die Gewalt.
Im Fall von Stefano Gucchi, der im Krankenhaus an den Folgen der Schlägen starb, gibt es nicht eine einzige Anklage gegen einen Carabinieri.
Haidi Giuliani: Auch für Genova 2001 gibt es keine einzige Anklage gegen einen Carabinieri. Nur Polizisten wurden angeklagt. Für die Schule Diaz und die Ereignisse in Bolzanetto. Mehr nicht.
Giuliano Giuliani: Weil Massimo D'Alema die Carabinieri zur vierten Militärischen Macht im Lande gemacht hat. Heer, Marine, Luftwaffe und seit 2000 auch die Carabinieri. Mit einer totalen Autonomie.
Azzoncao: Am Freitag, den 20. Juli 2001. Was machtet Ihr an diesem Tag?
Giuliano Giuliani: Ich habe noch um drei Uhr Nachmittags mit Carlo telefoniert. Er war zu diesem Zeitpunkt auf der Piazza Manin, wo die Polizei und die Pazifisten des Netzwerks Lilliput sich gegenüberstanden. Ich sagte, wir seien äußerst besorgt um ihn. Er erwiderte, dass wir uns keine Sorgen um ihn machen sollten, ihm ginge es gut. Das war das letzte Mal, dass wir von ihm hörten. Alles weitere erfuhren wir später aus dem Fernsehen. Zunächst nur, dass die Polizei einen Demonstranten auf der Piazza Alimonda erschossen hätte. Da fingen wir an uns Sorgen zu machen. Das es Carlo war erfuhren wir aber erst später. Am Abend. Als die Polizei zu unserem Haus kam und uns aufforderte zum Präsidium zu kommen. Als wir zum Polizeiauto gingen sprach in einer Sendung Bruno Vespa den Namen Carlo aus. Da kam uns der Verdacht, dass es unser Sohn sein könnte. Im Nachhinein ist es vielleicht besser, dass wir es durch die Polizei erfuhren und nicht zuerst durch das Fernsehen.
Haidi Giuliani: Für mich war es wohl genau so, wie für Carlos Schwester. Als wir über den Toten aus dem Fernsehen erfuhren, haben wir Carlo auf der Erde erkannt, aber wir wollten ihn nicht wiedererkennen. Ich habe mit vielen anderen Müttern, deren Söhne ermordet wurden, über diese Situation geredet. Man will es nicht akzeptieren, man will es nicht glauben, dass du deinen Sohn mit zerschlagenen Kopf siehst. Du denkst, dass das nicht wahr ist. Und ich sagte noch damals zu meiner Tochter, denk mal an die Mutter, die dies erfahren muss. Und ich wusste im selben Moment, es ist mein Sohn.
Ich war im Garten und hatte meine Hände noch schmutzig von der Arbeit dort, als Giuliano nach Hause kam. Er ging ins Haus und machte den Fernseher an. Ich ging ihm nach und sah rechts den Fernseher stehen. Dort lag Carlo auf der Erde. Aber das habe ich gänzlich ausgeblendet.
Auch wenn Menschen dir sagen, dass ist dein Sohn, sagst Du dass das nicht wahr ist. Nein, dass ist nicht mein Sohn.
Demnächst wird ein Buch in Comicform erscheinen, das all diese Einzelheiten und Umstände des Todes von Carlo enthält. Es wäre sicherlich gut, es auf Deutsch zu übersetzen.
Giuliano Giuliani: Elena, Carlos Schwester, hat um ca. 19.00 Uhr auf dem Handy von Carlo angerufen.
Aber Carlo nahm nicht ab. Es ging jemand anderes an das Handy. Ein Polizist oder ein Carabinieri. Sie sagte, dass sie Carlos Schwester sei und ihn sprechen wolle. Die Person sagte, dass ginge jetzt nicht, er sei vorne in der Demonstration. Und um diese Uhrzeit wissen sie schon genau, wer er ist. Uns benachrichtigen sie um 23.15 Uhr.
Haidi Giuliani: Später gibt man an, dass sie Carlo als Dealer erkannt hätten. Aber das ist unwahr. Carlo wurde damals verwechselt. Aber auch das wird in diesem neuen Buch/Comic deutlich erklärt. Ein Buch, das übrigens in mehreren Sprachen geschrieben ist, Italienisch, Latein und Französisch.
Azzoncao: Wie gingen die Ereignisse weiter?
Haidi Giuliani: Carlo wurde am Freitag erschossen. Die Justiz und die Polizei erlaubten uns nicht unseren Sohn zu sehen. Am Samstag gingen wir aber dahin, wo sein Leichnam sich befand. Ein Krankenhausangestellter half uns heimlich ihn zu sehen. Er hatte große Sorge, dass wir dabei entdeckt würden. Es war das einzige Mal, dass wir Carlo noch einmal zu Gesicht bekommen haben. Der Schädel war gespalten. Und man hatte mit einem Skalpell seine Haut entfernt. Es war nur ein kurzer Augenblick. Und wir haben ihn nur sehr kurz, einige Sekunden sehen können. Wir hatten Angst entdeckt zu werden. Der Angestellte des Krankenhauses befürchtete Repressalien, wenn es heraus käme, dass er uns geholfen hat.
Die Haut war Carlo in der Autopsie entfernt worden. Deswegen sah man seine blanken Knochen. Aber erst drei Jahre später haben wir verstanden, warum Carlos Schädel gespalten war. Erst drei Jahre später.
Giuliano Giuliani: Es gibt Fotos von einem Mann, der aus dem dritten Stock fotografiert hat. Diese Fotos haben wir auch dem Gericht vorgelegt. Um Carlo liegen verschiedene Gegenstände. Darunter ein Stein. Zwei der Fotos zeigen den Stein einmal links, ein anderes Mal rechts von ihm. Einmal blutverschmiert, das andere Mal ohne Blut.
Der Bruch von Carlos Schädelfront ist durch einen Schlag mit einem Stein zu erklären. Nachdem Carlo am Boden lag hat ihn jemand die Motorradhaube heraufgezogen, ihn mit dem Stein auf den Kopf geschlagen und den Stein neben Carlo abgelegt. Dies lässt sich an diesen Fotografien des Tatorts beweisen.
Einige Minuten später beschuldigte ein Vice-Questore lauthals einen Demonstranten, Carlo mit dem Wurf dieses Steines umgebracht zu haben. Er schrie „Mörder“, „Bastard“, „Du hast ihn mit deinem Stein getötet“. Dieser Demonstrant wurde dann verfolgt.
Dies hat sich kurz nach den Schüssen abgespielt. Als die ersten Kameras am Platz erschienen waren.
Haidi Giuliani: Ich habe Nichts mehr verstanden. Als ich Carlo dort liegen sah, war ich sozusagen außerhalb von mir selbst. Da waren zwei Gedanken. Zu einem, Da liegt dein Sohn. Geschlagen, getreten, erschossen und zwei mal von einem Jeep überfahren. Es ist Juli. Und obwohl er in einem Kühlraum liegt, scheint er zu stinken. Das kannst du nicht akzeptieren.
Zum anderen habe ich eine Tochter. Und ich sah, wie sie ihren Bruder ansah und den Blick nicht von ihm wenden konnte.
Uns wurde dann mitgeteilt, dass Carlo beerdigt werden müsse. Es aber keinerlei Platz auf einem Friedhof gäbe. Carlo müsste verbrannt werden. Wir sind keine religiöse Familie. Weder ich, noch mein Mann, noch meine Tochter. Wir wussten nicht was wir tun sollten. Wir entschieden uns für eine Verbrennung. Auch weil ein Anwalt uns dazu riet. Nach langer Zeit begriffen wir erst, dass nur ein Richter eine solche Verbrennung hätte verfügen dürfen. Das wir dumm gewesen waren. Alle waren mit dieser Entscheidung glücklich. Am Mittwoch war dann Carlos Beerdigung.
Heute können wir gewisse Dinge nicht beweisen. Denn es gibt keine Möglichkeit einer weiteren Autopsie. Carlo ist verbrannt worden.
Azzoncao: Wie reagierte die Öffentlichkeit auf all dies. Was und wie bekamt ihr mit?
Giuliano Giuliani: Ich war es, der vor allem in der Öffentlichkeit auftrat. Der mit Journallisten sprach, etc.. Ich war es gewohnt als Gewerkschaftssprecher aufzutreten. Haidi brauchte lange bis es ihr wieder einigermaßen gut ging und konnte erst nach ca. einem Jahr in der Öffentlichkeit reden.
Wir erhielten viel Unterstützung von unseren Familien.
Wir versuchten so schnell wie möglich das Warum herauszufinden. Was passiert war. Wer die Verantwortung trug. Begaben uns an die Recherche des Warum.
Azzoncao: Wie hat die Regierung und die Medien reagiert?
Giuliano Giuliani: Die Regierung sprach von Selbstverteidigung. Fini, Gianfranco Fini, der Vize-Präsident des Konzils. Am Abend des 20. Juli sagte er im Fernsehen, dass die Ordnungskräfte sich haben verteidigen müssen. Vier, fünf Stunden nach der Ermordung Carlos. Die Regierung rechtfertigte die Repression. Die Zeitungen, und das fast alle, wiesen die Verantwortung den gewalttätigen Demonstranten zu. Und sprachen von einer Unzahl von gewalttätigen DemonstrantInnen. Eine Unterscheidung zwischen dem Black bloc und den anderen DemonstrantInnen fand so gut wie nicht statt.
Azzoncao: Was wurde über Carlo seitens der Regierung und der Medien berichtet?
Giuliano Giuliani: Die Medien präsentierten Carlo als einen Deliquenten. Einen Kriminellen, ohne familiäre Bande, ohne festen Wohnsitz, alles diese Dinge. Eine Rechtfertigung. Aber eine Rechtfertigung wofür? Jemanden zu töten, weil er keine Wohnung hat? Diese Darstellung dauerte sehr lange an. Fast ein Jahr. Aber auch heute tauchen diese Dinge immer wieder auf.
Wie die Regierung reagierte? Das haben wir ja erzählt.
Azzoncao: Was war mit dem Polizisten der Carlo erschossen hat?
Giuliano Giuliani: Es war kein Polizist. Es war ein Carabinieri. Das ist sehr wichtig. Denn es gab einige Polizisten, die wegen Gewalttaten auf der Straße, in der Scuola Diaz oder in Bolzanetto angeklagt wurden. Es wurde aber kein einziger Carabinieri angeklagt.
Haidi Giuliani: Wir sind auch nicht einverstanden mit der Version, dass dieser Mann Carlo erschossen hat. Es gibt einige Motive, die darauf hinweisen, dass es ein Anderer, ein Übergeordneter, war, der Carlo erschoss.
Giuliano Giuliani: Also, angenommen es war der junge Carabinieri, so ist nach meiner Auffassung für die Erschießung Carlos zunächst die Regierung, hier in der Person Gianfranco Finis, verantwortlich. Dann die Generäle, die Tenente Collonello, die Colonelli, die Capitani, die Tenente, die Marichalli und dann erst dieser Carabinieri.
Ich glaube aber ebensowenig wie Haidi, dass der Carabinieri Placanica der eigentliche Schütze war. Ich glaube er ist ein Feigenblatt. Ein Bauernopfer. Es gibt eine ganze Reihe von Hinweisen, die mich dies glauben lassen. Eine Reihe von Fakten, die darauf hinweisen, dass er es nicht war.
Und wenn es ein Offizier gewesen wäre, so hätte er nicht die Fassung verlieren dürfen, angesichts von 10 Jugendlichen, die um seinen Jeep herum randalieren.
Die andere Frage ist, warum die ca. 80 Carabinieri die 20 Meter vom Geschehen entfernt standen nicht eingriffen. Warum diese abwarteten.
Haidi Giuliani: Der Verdacht besteht, dass jemand anderes auch geschossen hat. Und der Verdacht besteht, dass es einen Plan gab, dass es zu Todesopfern kommen sollte. Wir denken, dass dies der Fall war. Ein gab ein Projekt, dass jemand sterben müsse. Um die Bewegung zu zerstören.
Und so gibt es unter diesen vielen kleinen Hinweisen dafür, die Haltung der Pistole. Sie wird wie von einem Killer gehalten. Und zwar so (Haidi demonstriert dies.)
Ein junger Mensch, der nicht weiß wie man schießt, der nur ein paar mal geschossen hat, der von sich sagt, er könne nicht schießen, wie soll er in dieser Körperhaltung geschossen haben? Jemand der in einer solchen Körperhaltung schießt, mit einem Fuß auf dem Fensterrahmen abgestützt, mit einer solchen Präzension, mit einer Hand in einer solchen Position, kann nicht der junge Placanica gewesen sein. Das war ein Profi.
Darüber besteht der Verdacht, dass es ein anderes Kaliber war, dass Carlo traf. Ein Projektil mit dem Kaliber 9mm hätte den Kopf von Carlo explodieren lassen. Und jetzt wird die Schuld diesem geworfenen Stein gegeben, der die Kugel auf Carlos Kopf gelenkt hätte.
Es war ein Spezialkaliber.
Giuliano Giuliani: Carlo war ungefähr hier und sah auf die Distanz sehr gut die Hand mit der Pistole.
Haidi Giuliani: Carlo sah die Pistole auf sich gerichtet. Und als er den Feuerlöscher hoch hielt, machte er dies instinktiv, um sich vor der Bedrohung zu schützen. Anatomisch lässt sich das gut an seiner Körperhaltung nachvollziehen.
Azzoncao: Es gab also keinen Prozess gegen Placanica?
Giuliano Giuliani: Nein, es gab keinen Prozess gegen ihn. Von der Staatsanwaltschaft archiviert, zu den Akten gelegt. Das war, glaube ich, im Dezember 2002 oder im Mai 2003.
Azzoncao: Was war der Tod Carlos? Ein Versehen? Ein Unfall? Ein kalkuliertes Risiko? Ein absichtlicher Mord? Wie seht Ihr das?
Giuliano Giuliani: Drei Sekunden nach den Schüssen schlug die Mäusefalle zu. Erst die Provokationen und dann wurde der Jeep als Mäusespeck, mit dem man Demonstranten fängt, geliefert.
Azzoncao: Wie würdet Ihr nach all dieser Zeit das gewalttätige Vorgehen der Ordnungskräfte in Genova 2001 beurteilen?
Haidi Giuliani: Sehr einfach. Wir haben die Entwicklung seit Genova sehen können. Das Vorgehen gegen die streikenden FIAT-Arbeiter in Melfi, gegen die protestierenden StudentInnen in Mailand und Rom. Genova symbolisiert eine Veränderung im Umgang mit der Opposition. Egal mit wem. Mit der Bewegung im Val di Susa, den Protestierenden in Neapel, überall und gegen alles. Es ist eine Drohung. Wir machen ab jetzt Ernst. Und ihr macht das, was wir sagen.
Giuliano Giuliani: Genova war eine neue Strategie der Medien. Es wurde die Unterstützung der öffentlichen Meinung gegen die Demonstranten organisiert
Haidi Giuliani: Als sie die Demonstranten zusammenschlagen steht in der Öffentlichkeit fest, dass sie dies zu Recht tun. Wenn Menschen sich organisieren, werden sie durch die Medien als Gruppen von Stalinisten, Anarchisten und black blog, die Verwüstungen anrichten, dargestellt.
Giuliano Giuliani: Es gibt auf der Welt ca. 2 Milliarden Menschen, die an diesem Wochenende die Hochzeit zweier Bescheuerter in London verfolgt haben. (Gemeint hat er wohl den britischen Thronfolger William und Kate Middleton). Zwei Milliarden Menschen, die sich für einen solchen Scheiß interessieren. Und morgen werden 1 Milliarde Menschen der Seligsprechung des Ex-Papstes Józef Wojtyła, Johannes Paul II, im Fernsehen zuschauen. Dem Papst der die „Theologie der Befreiung“ bekämpfte und zerstörte.
Azzoncao: Was machte Genova 2001 mit der Familie Giuliani?
Giuliano Giuliani: Ein Teil der Menschen aus Genova will alles vergessen
Haidi Giuliani: Man hat das Gefühl: Basta - Es reicht. Wir wollen nicht mehr darüber reden.
Azzoncao: Und für Euch Beide?
Giuliano Giuliani: Das ist schwer zu sagen.
Haidi Giuliani: Jugendliche, die heute ca. 20 Jahre alt sind, waren damals Kinder. Sie haben ein Interesse daran, was damals in Genova 2001 passierte.
Giuliano Giuliani: Deshalb sind wir sehr oft in Schulen und sprechen mit SchülerInnen.
Azzoncao: Entschuldigt bitte die Nachfrage. Was hat es mit Euch gemacht?
Haidi Giuliani: Der Schmerz ist nicht vorbei. Nicht außerhalb von mir. Er ist noch immer in mir. Siehst Du mein Zittern? Das hatte ich vor 10 Jahren nicht.
Vor 10 Jahren waren wir nicht so. Wir waren andere Menschen. Seit 10 Jahren arbeiten wir jeden Tag zu dem Fall unseres Sohnes. Zu ihm. Zu anderen jungen Menschen, denen es so erging. Zu Genova. Seit Jahren machen wir Nichts anderes. Oder etwas Schönes. Und wenn es irgendetwas dazu gibt. Ein Theaterstück, wir arbeiten mit. Ein Buch, wir helfen. Eine Veranstaltung, wir kommen. Eine Ausstellung, wir tragen etwas dazu bei. Usw. usf. . Seit 10 Jahren. Wir sind dafür überall in Italien gewesen. Wir waren in Deutschland, Belgien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Ungarn, Österreich. Giuliano war in Irland, England, Schweiz. Usw. Wir sind überall hingegangen.
Ich habe auch meine Rolle als Abgeordnete im Parlament dazu genutzt über Genova 2001 zu sprechen.
Du bist heute hier. Aber weißt du wie viele Menschen schon hier waren, um uns zu interviewen?
Wir haben hier einen kleinen Sitz für ein Komitee, eine Initiative. Und wir sind zwei Personen mit einer eigenen Geschichte. Wir reden natürlich über den Widerstand, die Verfassung, die Politik...
In Cuba gibt es z.B. einen kleinen Ausstellungsraum zur Geschichte Carlos.
Giuliano Giuliani: Wir haben Eröffnungsreden in Büros der A.N.P.I. gemacht. Wir haben alles gemacht. Jetzt soll es eine symbolische Umbenennung eines Parks in Berlin geben. Wir schreiben eine Grußadresse. (http://gipfelsoli.org/Home/Genova_2001/8802.html)
Warum machen wir das? Um an Carlo zu erinnern. Und um zu verhindern, dass es andere gibt, die wie Carlo ermordet werden.
Haidi Giuliani: Um den Menschen die Augen zu öffnen, wie so etwas in unserem Italien passieren kann. Wie so etwas in Melfi und Val Susa passieren kann.
Wenn Menschen in solche Dinge verwickelt werden und sich fragen wie kann so etwas in Italien passieren, reden wir mit ihnen.
Ich habe noch ein eigenes Projekt. Ich habe begonnen ein Netzwerk mit all den anderen Müttern zu knüpfen, denen es so ergangen ist wie mir. Mit den Schwestern der Söhne, mit den anderen Verwandten. So gehen wir zur Unterstützung zusammen zu den Prozessen, wie z.B. zu dem von Federico Aldrovandi und anderen. Jedes Jahr im Juli seit Genova 2001 organisieren wir mit unserem kleinen Komitee Ausstellungen und Konzerte über drei bis fünf Tage. Dies seit 10 Jahren und das ist eine große, anstrengende Arbeit. Auch das Geld dafür aufzubringen. Ich saß einige Zeit im Parlament in Rom und meine Pension fließt in all diese Erinnerungsarbeit. Und dies ist eine Arbeit, die auch in Zukunft anhalten wird.
Azzoncao: Kann man das so sehen, dass diese Arbeit hilft mit dem Trauma umzugehen?
Haidi Giuliani: Nein, das hilft überhaupt nicht. Mir hilft das nicht. Nichts hilft mir den Schmerz zu entfernen.
Giuliano Giuliani: Die Solidarität mit anderen Menschen bringt dich dazu weiter nach vorne zu gehen und weiter zu machen.
Die Neugierde, die Emotionen, die Reaktionen der Schülerinnen in den Schulen wo wir berichten geben dir die Kraft eine weitere Versammlung, eine weitere Initiative zu ergreifen. All das Erzählen und Kommunizieren über die Ereignisse.
Azzoncao: Was ist in diesem Jahr in Genova geplant? 10 Jahre nach den Ereignissen.
Haidi Giuliani: Es wird einen Monat der diversen Aktionen geben. Veranstaltungen, Ausstellungen, Versammlungen. Wir organisieren vom 24. Juni bis zum 24. Juli im Palazzo Ducale eine Ausstellung mit dem Namen Cassandra. Warum Cassandra? Weil die Bewegung von 2001 die Probleme der Welt angesprochen hat. Und die Welt nicht zugehört hat. Nach 10 Jahren ist sehr vieles noch schlechter geworden. Die Kriege, die Unterdrückung, der Hunger – alles ist schlimmer geworden. Wir wollen in der Ausstellung darüber reden, was in all diesen Aspekten in den letzten 10 Jahren passiert ist.
Azzoncao: Wird es auch eine Demonstration geben?
Haidi Giuliani: Ja, am Samstag den 23. Juli 2011.
Giuliano Giuliani: Wir werden alle am 23. Juli auf der Piazza Alimonda sein.
Azzoncao: Vielen Dank für das Interview.
Links:
http://www.genova2011.org
http://it-it.facebook.com/pages/Cassandra-Genova-2001-Genova-2011/128602...
http://www.youtube.com/watch?v=3OB-XynaH0A
http://www.piazzacarlogiuliani.org
http://gipfelsoli.org/Home/Genova_2001/8802.html
http://www.processig8.org
http://www.processig8.org/multilanguage/Multilanguage_DE.html
Zur Schädelfraktur Carlos/Stein:
http://kchannel.splinder.com/post/11003727/per-non-dimenticare
http://www.lestintorecheamleto.net/giuliani.htm
http://www.piazzacarlogiuliani.org/pillolarossa/
http://www.piazzacarlogiuliani.org/pillolarossa/modules.php?name=News&fi...
Haidis Projekt:
http://www.reti-invisibili.net
Stefano Cucchi
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2009/1...
Federico Aldrovandi
http://federicoaldrovandi.blog.kataweb.it/il-caso-aldrovandi-in-tv/
Theologie der Befreiung
http://de.wikipedia.org/wiki/Befreiungstheologie
http://alt.ikvu.de/html/aktuell/Befreiungstheologie-Literatur.html
http://www.ila-bonn.de/artikel/256eswar.htm
Proyecto Memoria
Interviews:
Proyecto Memoria - Der faschistische Mord an Renato Biagetti / Rom
http://linksunten.indymedia.org/de/node/6511
Proyecto Memoria - Der faschistische Mord an Carlos Palomino / Madrid
http://linksunten.indymedia.org/de/node/6622
Proyecto Memoria - Der faschistische Mord an Davide Cesare / Mailand
http://linksunten.indymedia.org/de/node/6647
Proyecto Memoria - Der faschistische Mord an Feodor Filatov / Moskau
https://linksunten.indymedia.org/de/node/12199
Proyecto Memoria - Der faschistische Mord an Timur Kacharava in St. Petersburg
http://linksunten.indymedia.org/de/node/12338
Recherchen:
Proyecto Memoria - Dortmund vor 10 Jahren: Die faschistischen Morde an drei PolizistInnen
http://linksunten.indymedia.org/de/node/21477
Proyecto Memoria – Die Morde an Martin Kemming, Dagmar Kohlmann und Patricia Wright
http://linksunten.indymedia.org/de/node/35656
1994 - In Erinnerung an Eisam Chandim - Der Brand in der Herner Str. 87
http://linksunten.indymedia.org/de/node/42044
Antifaschistisches Graffiti in Bochum:
http://www.nadir.org/nadir/initiativ/azzoncao/grafitti.html
http://de.indymedia.org/2008/12/236148.shtml
http://de.indymedia.org/2008/12/236171.shtml
Film „uno di noi – einer von uns“ zum Antifa-Graffiti in Bochum:
http://unodinoi.blogsport.de
In Erinnerung an Ivan Khutorskoy – uno di noi
http://linksunten.indymedia.org/de/node/20828
Film zum antifaschistischen Graffiti für Ivan Khutorskoy
http://blip.tv/colectivo-la-plataforma/uno-di-noi-3886735
Azzoncao:
alt - http://www.nadir.org/nadir/initiativ/azzoncao
neu - http://lunte.indymedia.org/azzoncao
Adresse:
Azzoncao, ein Polit-Cafè
c/o Bahnhof Langendreer
Wallbaumweg 108
44894 Bochum
Gipfelstuermer - Die blutigen Tage von Genua
http://www.youtube.com/watch?v=E9H731Xt_04