Wenn du über das Negative von Deutschland reden willst, sollst du
über den Islam reden(4)
So wichtig die antideutsche(5) Kritik für die Leipziger radikale Linke(6) in
Bezug auf Antisemitismus war, so fatal hat sich ihr Einfluss auf die
Problematisierung von Rassismus ausgewirkt. Die antideutsche Verweisung von
Geschlechterherrschaft in andere, vornehmlich muslimisch geprägte
Länder unter ausblenden und bestreiten von Heterosexismus in Westeuropa
und in den eigenen Sozialisationszusammenhängen, wird zumindest von
feministischen Gruppen, wie dem afbl kritisiert(7). Das mit 9/11 einsetzende
antideutsche Antira-Bashing hat dagegen weitestgehend zur Verbannung des Themas
Rassismus aus linker Kritik und Politik in Leipzig geführt. Mehr noch als
Feminismus gilt (Anti)Rassismus heute großen Teilen der Leipziger Linken
als Steckenpferd nervender Sprachpolizist_innen(8) oder als Vorwand für
sogenannte Kulturrelativist_innen, sich nicht mit Antisemitismus und Islamismus
auseinandersetzen zu müssen.
Im Zuge der Diskussionen um die Positionen
vom AK 2009 und INEX zur Verfasstheit des wiedervereinigten Deutschlands wird
die Delegitimierung antirassistischer Kritik nun verkomplettiert durch das
Wegdefinieren von Rassismus. Die Beschäftigung mit rassistischen
Zuständen in Deutschland und Westeuropa wird als unemanzipatorisch und
unnötig gebrandmarkt oder gar als eine der „gefährlichsten
Bastionen des Antihumanismus innerhalb der Linken“(9) denunziert. Solcherart
Delegitimierungsrethorik liefert gleichzeitig eine perfekte Entschuldigung
für weiße deutsche Linke, sich nicht mit den eigenen rassistischen
Privilegien und Projektionen auseinandersetzen zu müssen.(10) Entsprechend
wird Rassismus vom größten Teil der Leipziger Linken explizit oder
implizit ausschließlich als Problem ostzonaler Nazis behandelt.
Implizit, weil es keine politische Bezugnahme auf rassistische
Zustände gibt, solange nicht einzelne Nazis oder ganze Dorfgemeinschaften
Leib und Leben von Migrant_innen attackieren. Augenscheinlich wurde das zuletzt
bei der geplanten Unterbringung von Flüchtlingen am Stadtrand von Leipzig
mit zum Teil offen rassistischen Begründungen seitens der
Stadtverwaltung.(11) Ökonomisch pragmatisch war die Entscheidung des
Stadtrates jedenfalls nicht, die dezentrale Unterbringung von Menschen im
Asylverfahren kostet Kommunen und Länder viel weniger als deren
menschenverachtende Internierung und Versorgung in
Gemeinschaftsunterkünften und Abschiebelagern (das gleiche gilt auch
für die Versorgung mit Lebensmittelpaketen oder Gutscheinen). Doch den
meisten Leipziger Linken war die Mobilisierung gegen den Stadtratsbeschluss
ziemlich egal. Rassismus unterhalb von „Skandalen“ wie in Mügeln
reißt die Genoss_innen nicht aus den Schreibtischsesseln oder von den
Barhockern.
Beispielhaft für die explizite Zurückweisung von Rassismus als
relevanter Problematik sind einige Texte im CEE IEH Newsflyer(12). Darin finden
sich folgende Argumentationslinien:
1.) Abgesehen von ein paar Nazideppen oder Dorfdeppen, ist Rassismus in
Deutschland kein Problem gesellschaftlich relevanter Kräfte mehr.
Stattdessen leben wir in einem Land des antirassistischen Konsenses, in dem
Multikulti abgefeiert wird und Islamismus und Antisemitismus gefördert
werden.
2.) Staatlichen Rassismus gibt es in Deutschland nicht. Asyl- und
Migrationspolitik sind parlamentarisch kontrolliert und orientieren sich
ausschließlich an den kapitalistischen Anforderungen an die
Nationalstaaten. Das produziert Diskriminierung und Ausgrenzung, ist aber nicht
rassistisch.
Dieser Analyse liegt eine eindimensionale Rassismuskonzeption zugrunde und sie
verkennt völlig die rechtlichen und gesellschaftlichen Kontinuitäten
und Realitäten in Deutschland.
Rassistische Gesellschaft vs. fremdenfeindliche Individuen
Rassismus hat in Deutschland verschiedene Facetten. Dazu zählen
völkisch / biologistische Rassevorstellungen und Übergriffe von Nazis
sowohl in ostdeutschen Regionen als auch in den alten Bundesländern. Ob
das reicht, um heute undifferenziert von einem „rassistischen Konsens“ zu
sprechen, bei dem Staat und Volk gemeinsame Sache machen, darf bezweifelt
werden. Die Gefahr, dass sich eine Volksgemeinschaft in staatlicher Form
realisiert, besteht aktuell nicht(13). Politische und zivilgesellschaftliche
Akteure lehnen völkische Rassekonzepte und rassistische Gewalt ab und
sogar sächsische CDU-Politiker anerkennen die gesellschaftliche
Realität in einem „Einwanderungsland“ zu leben. Mit einem
„antirassistischen Konsens“ im öffentlichen Diskurs und im
alltäglichen Denken und Handeln hat das alles leider nichts zu tun. Der
als politischer „Tabubruch“ inszenierte Alltagsrassismus à la
Sarrazin scheint dem deutschen Feuilleton überaus willkommen und die
zahlreichen Studien zur Verbreitung antisemitischer und rassistischer
Einstellungen will ich hier nicht zum x-ten Mal zitieren. Auch wenn die BRD
einen Minister mit Migrationshintergrund hat und die deutsche
Nationalmannschaft mit schwarzen Fußballstars wirbt: Rassismuserfahrungen
machen auch Herr Rösler(14) und Frau Okoyino de Mbabi(15).
Trotz Bekenntnissen zu Einwanderungsland, trotz Reform des
Staatsbürgerschaftsrechts, trotz zunehmend kosmopolitischem Flair an der
Leipziger Uni und in den großen Städten, trotz Kampagnen für
Vielfalt und trotz antirassistischer Bildungsmaterialien leben wir in einem
rassistisch strukturierten Staat. Diese Feststellung setzt an den
Rassismuserfahrungen von People of color und Migrant_innen an und fußt
auf einer Konzeption, die Rassismus nicht nur auf individuelle Rassifizierung
und Diskriminierung reduziert. Rassismus ist ein kontinuierliches und
kollektives Phänomen der europäischen Moderne, der seine spezifische
deutsche Ausprägung im deutschen Kolonialismus und Nationalsozialismus
erfahren hat und diese Gesellschaft und unser Wissen über die Welt
grundlegend strukturiert. Rassismus ist eine Ungleichheitsideologie und ein
gesellschaftliches Ordnungssystem, das durch individuelle Handlungen wie auch
durch Gesetze und institutionelle Regeln und Routinen zugunsten der
gesellschaftlich hegemonialen Gruppe wirkungsmächtig und aufrechterhalten
wird. Rassismus in Deutschland ordnet jeden Menschen einer von zwei Gruppen zu:
der der biodeutschen mehrheitsdeutschen „Wir“-Gruppe (die ich mit dem
politischen Begriff weißdeutsch beschreibe) und der der Anderen.
Die rassifizierende Zuordnung basiert auf einer Kombination von Merkmalen wie
Aussehen, Nationalität, Herkunft und Sprache. Sie führt zu
Benachteiligungen innerhalb des rassistischen Ordnungssystems, aber auch zur
Ausprägung von Identitäten, die zwar sozial hergestellt, gleichzeitig
aber wirkungsmächtig und spürbar sind, ob beim
Einstellungsgespräch, in der Straßenbahn oder an der Discotür.
Die Gruppenzuordnung enthält bereits eine Bewertung der Rassifizierten:
Wenn wir(16) schwarz als signifikante Kategorie sehen, denken wir schon in
kolonialer Tradition. Wir denken in der Regel nicht: „deutsch“, sondern je
nach Kontext meist an exotisches oder armes „Afrika“ oder manchmal an
„USA“. Deshalb müssen rassistische Handlungen (z.B. Sprechweisen)
oder Regeln (z.B. in Gesetzen und Behördenrichtlinien) nicht notwendig
intendiert sein, um einen ausgrenzenden und stigmatisierenden Effekt zu
haben.(17)
Rassismus und Nation: Staatsangehörigkeit und Integrationsimperativ
Rassismus ist struktureller Bestandteil des deutschen National- und
Rechtsstaates. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht war von Anfang nicht
auf territoriale Anwesenheit, sondern darauf ausgerichtet, die Nation per
Abstammung zu definieren und per Abstammungsrecht rein zu halten. Deutschen
Kolonialsoldaten war die Eheschließung mit Frauen aus den Kolonien
untersagt, um zu verhindern, dass nichtweiße Kinder deutsche
Staatsangehörige wurden. Dem (ehemaligen
Reichs)Staatsangehörigkeitsrecht liegt bis heute eine rassifizierende
Vorstellung vom Staatsvolk – als Ethnos – zugrunde.
Entsprechend exklusiv ist die deutsche Staatsangehörigkeit, die man auch
nach der Reform 2001 nur schwer erlangen kann(18) und die nur in
Ausnahmefällen als doppelte Staatsangehörigkeit verliehen wird.
Einwanderer_innen aus der ehemaligen Sowjetunion, die deutsches Blut in ihren
Adern nachweisen, können die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten,
in Deutschland geborene Kinder chinesischer Arbeitsmigrant_innen dagegen nicht.
Diese Logik ist rassistisch und so mag es auch nicht verwundern, dass Listen
der Wehrmacht und der SS noch immer die Grundlage dafür bilden
nachzuprüfen, wer als „Aussiedler/in“ anerkannt wird und wer nicht.
Auch die mentalen Überreste des alten Blutsrechts sind
allgegenwärtig. Während traditionelle Normvorstellungen in einer sich
zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft, z.B. in Bezug auf
Homosexualität in Deutschland, zunehmend durcheinander gewirbelt werden,
erweisen sich alte biologische Vorstellungen vom Volk als äußerst
stabil. Nach der Ermordung oder Flucht der „nicht arischen“
Bevölkerung im Nationalsozialismus wirkt die Idee eines ethnisch homogenen
Staates bis heute fort. „Deutsch“ gilt als statische Kategorie, die man
passiv, als Schicksal in Empfang nimmt, als etwas Unentrinnbares, eingepflanzt
durch Abstammung und Sozialisation. Die Geschichte des deutschen Kolonialismus
verschwindet dabei genauso wie die Existenz jüdischer oder schwarzer
Deutscher. Migration nach Deutschland findet im kollektiven Gedächtnis
eigentlich erst seit den 60ern als „Gastarbeitermigration“ statt. Deutsch
ist weiterhin, wer weiß und christlich ist. Deshalb reden alle von
„Ausländerfeindlichkeit“, „Fremdenhass“. Als wären die
Subjekte des Rassismus verirrte Einzelne, als wären seine „Objekte“
tatsächlich „Ausländer“ oder „Fremde“ und als setzte
Rassismus Feindseligkeit oder böse Absichten voraus.
Deshalb soll der Bau von Moscheen und kopftuchtragende Frauen im
öffentlichen Raum verboten werden, während sich an deutschen
Kirchenglocken und dem Einfluss konservativer Christ_innen auf Familienbilder,
Lehrpläne und Unigebäude niemand stört. Deshalb müssen sich
schwarze Deutsche täglich fragen lassen, wo sie eigentlich herkommen bzw.
wann sie wieder zurückgehen(19) und Polizist_innen, die auf der Suche nach
Verstößen gegen die Residenzpflicht ausschließlich
nichtweiße Reisende kontrollieren, verstehen nicht, warum das rassistisch
sein soll(20).
Außerdem reden alle von „Integration“. Die „Anderen“ werden in
Deutschland nicht vor Rassismus geschützt, sie werden aufgefordert, sich
zu integrieren. An dieser Forderung hat sich seit Jahrzehnten nicht viel
geändert: Weder das Verständnis dessen, wer und was Deutsch ist,
noch die Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Migrant_innen und People of
Color. Die aktuellen Debatten um Integration sind bei genauem Hinsehen eine
Wiederauflage der Konzepte aus den 70ern, als sie unter dem Begriff
Assimilierung diskutiert wurden. „Integration“ beinhaltet damals wie heute
eine negative Prognose: Es gibt 1.) Probleme, deren Ursache 2.) die Defizite
von bestimmten ethnisch definierten Gruppen sind. Das Ziel ist deshalb 3.)
deren Angleichung an die Norm/die Leitkultur, die Wiederherstellung von
Ganzheit und Einheit. (21) Das auch in konservativen Kreisen angekommene
Bekenntnis zu „Vielfalt“ weicht von alten essentialisierenden Norm- und
Ordnungsvorstellungen deshalb auch um keinen Deut ab.
Deshalb ist die Ablehnung eines, sich als Antirassismus gerierenden
Multikulturalismus richtig, egal ob in seiner exotisierenden Variante oder als
kulturalistischer Entschuldigungsdiskurs. Wer sich essentialisierend auf
ethnische Gemeinschaften oder auf besondere kulturelle Identitäten
bezieht, hilft entscheidend bei der Durchsetzung ethnischer Zuschreibungen und
betreibt nichts anderes als kulturalistischen Rassismus. Die Kampagnen gegen
Fremdenfeindlichkeit, für kulturelle Vielfalt und Toleranz stehen ganz in
der Logik von Integrationsimperativ und Multikulturalismus und müssen
dafür kritisiert werden. Trotzdem schießen die hier kritisierten
antideutschen Positionen übers Ziel hinaus. Weil sie alle, die Rassismus
thematisieren, zu Multikulturalist_innen erklären, obwohl es viele
antirassistische Gruppen und Positionen gibt, die seit Jahren auf die
Fallstricke eines solcherart missverstandenen Antirassismus verweisen. Auch
verkennen sie die Anschlussfähigkeit ihrer
„Multikulti-Antira-Konsens“-Rhetorik an konservative Mehrheiten, die
„den gescheiterten Multikulturalismus“ als Argument gegen kosmopolitische
Gesellschaftsmodelle und als Ursache aller „Probleme mit Migration“
anführen. Schließlich bleibt völlig außer Acht, dass die
Rede vom Multikulturalismus hierzulande noch nie eine praktische Entsprechung
hatte. Konkrete Maßnahmen gegen Diskriminierung, ethnic monitoring,
Diversitypolicies, spezifische Förderprogramme oder gar Quoten, die man
auf ihre Wirkung hin überhaupt erst einmal untersuchen und dann auch gern
kritisieren könnte, gibt es in den USA, Kanada oder Großbritannien.
In Deutschland sind solche Konzepte, abgesehen von einigen
Großstädten, einfach nicht existent.
Rassestaat, struktureller Rassismus, bürgerlich kapitalistischer
Nationalstaat?
Natürlich ist die Bundesrepublik kein Rassestaat: Es gibt keine
Gesetze, die Menschen unter expliziter Bezugnahme auf die Kategorie
„Rasse“ benachteiligen.(22) Die Behauptung, die restriktive Asyl- und
Migrationspolitik sei „nicht rassistisch sondern pragmatisch, innerhalb
einer Welt, in der keine gerechte Verteilung der Reichtümer und der Arbeit
herrschen“ verkennt, dass Rassismus bei der globalen und nationalen Verteilung
von Reichtum und Arbeit eine Rolle spielt. Globale Ressourcenverteilung und
Konflikte sind die Hauptursachen für Flucht und Migrationswünsche und
ohne die historische Genese von Kapitalismus, Kolonialismus, Nationalstaaten
und Rassismus nicht verstehbar. Rassismus ist entscheidend für die
Konstitution von Nationalstaaten gewesen und ist es vermittelt über die
Staatsangehörigkeit, die Einwanderungspolitik und Bevölkerungspolitik
und die Arbeitsmarktregulierung bis heute.
Die koloniale Aufteilung des Weltmarktes in und unter den Nationalstaaten wirkt
sich bis heute auf die globale Verteilung von Ressourcen und eine rassifizierte
Arbeitsteilung aus. In der Funktion als billige „industrielle
Reservearmee“ und als Careworker_innen, die deutschen Facharbeiter_innen erst
den beruflichen Aufstieg ermöglichen, im „Inländerprimat“(23) , in
der dauerhaften Struktur der gesellschaftlichen Unterschichtung und in der
Verweigerung staatsbürgerlicher Rechte sind koloniale Muster bis heute
sichtbar. Das bestimmende Element in der deutschen Migrationspolitik sind nach
wie vor deutsche „Nationalinteressen“, während die Bedürfnisse
und Rechte der Migrierten, die als Arbeitsobjekte verdinglicht, als
Rechtssubjekte aber nur rudimentär anerkannt werden, keine signifikante
Rolle spielen. Eine scharfe Abgrenzung von ökonomisch-pragmatischen
Interessen und Konkurrenzzwängen und von rassistischen Vorstellungen der
Nation ist dabei weder möglich noch nötig. Solange Zugehörigkeit
über Ethnos und nicht Demos definiert wird, solange werden Zugänge zu
den sozioökonomischen und politischen Ressourcen kollektiv nach
rassifizierten Kriterien unterschiedlich verteilt. Auch Aufenthaltstitel werden
in Deutschland nicht frei von rassistischen Kriterien verliehen. Vor kurzem
wurde das Zuwanderungsrecht dahingehend geändert, dass Ehepartner_innen
von Migrant_innen aus bestimmten Ländern einen Nachweis über
Kenntnisse der deutschen Sprache erbringen müssen, wenn sie ein
Aufenthaltsrecht erhalten wollen. Und während in den USA die Kriterien
für den Ehegattennachzug für alle Bewerberinnen gleich (hart) sind,
ist es in Deutschland behördliche Regel, dass Menschen aus bestimmten
Ländern nachweisen müssen, dass sie keine Scheinehe führen.
Während Menschen aus postkolonialen Staaten weiter auf den Weg des
Asylverfahrens verwiesen sind und Menschen aus muslimischen Staaten automatisch
Staatsschutzabfragen über sich ergehen lassen müssen, ist es für
Bürger_innen westlicher Staaten von vornherein leichter auf deutsches
Territorium zu gelangen und dort zu bleiben.
An vielen Stellen entfaltet die deutsche Asyl- und Einwanderungsgesetzgebung
eine rassistische Eigenlogik, die nicht mit ökonomischen Interessen, z.B.
an hochqualifizierten oder billigen Arbeitskräften erklärbar ist bzw.
die diesen sogar offen entgegensteht.
Natürlich gibt es Ausnahmeregeln für vergünstigte
Aufenthaltsrechte, die sich an Verwertungskriterien (Ausbildung, Beruf,
Investitionen) orientieren, sich also an diejenigen richten, die „uns
nützen“. Doch gegenüber den langjährigen Forderungen aus
Wirtschaft und Demoskopie, Deutschland müsse sich endlich öffnen, um
konkurrenzfähig zu bleiben, erweist sich die deutsche Migrationspolitik
als erstaunlich resistent. Die Reform des Zuwanderungsrechts hat zu dieser
Öffnung nicht beigetragen und die von der Regierung Schröder 2002
lancierte Greencardregelung hat bis auf den Namen nichts mit der
US-amerikanischen Regelung zu tun und wurde von den erwünschten
hochqualifizierten Migrant_innen kaum in Anspruch genommen, weil z.B. die
Anforderungen an den Erhalt einer Niederlassungserlaubnis zu hoch war und ein
Familiennachzug nicht intendiert.(24)
Regelungen wie die Residenzpflicht haben mit ökonomischer
Rationalität rein gar nichts zu tun: sie ist willkürlich,
bürokratisch, ökonomisch sinnlos und ein Überbleibsel deutschen
Kolonialrassismus. Nur in Deutschland existiert eine Regelung, die es Menschen
mit legalem Aufenthalt verbietet, sich frei zu bewegen. Schon in ihren Kolonien
versuchten die Deutschen, die Bewegungsfreiheit der Kolonisierten zu
unterbinden. Damals gab es dafür ein „Eingeborenenregister“ und eine
Blechmarke als Passersatz. Da jede Marke nur in einem Bezirk gültig war,
konnten die Besatzer jederzeit feststellen, wer unerlaubt den zugewiesenen
Distrikt verlassen hatte. Die Residenzpflicht ist auch nicht vergleichbar mit
dem ökonomischen Zwang, dem alle Menschen im Kapitalismus bezogen auf die
freie Wohnungswahl unterliegen. Es geht nicht um die Wahl einer bestimmten
Wohngegend, sondern schlicht um die Möglichkeit zu einem Konzert, einer
politischen Veranstaltung oder einer Geburtstagsfeier zu kommen, ohne die
Ausländerbehörde um Erlaubnis fragen zu müssen.
Last but not least ist Recht mehr als ein formales Gesetz. Recht ist nicht
law in the books, sondern entfaltet sich erst über seine Anwendung
und Mobilisierung. Hier kommen Gerichtsurteile, Richtlinien und
Entscheidungsspielräume zum Tragen und Akteure, die diese Entscheidungen
treffen. Deshalb reicht ein Blick ins Staatsangehörigkeits-, Aufenthalts-
oder Polizeigesetz nicht aus, um rassistische Logiken auszumachen. Erst der
Blick in exekutive Praxen von Behörden und staatlichen Institutionen
zeigt, wie sich law in action entfaltet und ob Rassismus bei der Geltung
und Inanspruchnahme von Rechten eine Rolle spielt. Ist das der Fall, kann auch
von staatlichem oder institutionellem Rassismus gesprochen werden.
Objektives Wissen vs. Rassismuserfahrungen: Wer sind die Expert_innen?
Dass Rassismus nicht auf einzelne Nazis oder Ossis reduziert werden kann,
sondern ein Problem von gesellschaftlicher Relevanz darstellt, ist oft genug
betont worden. Trotzdem sei das Allgemein-wissen der weißen Deutschen
hinsichtlich Rassismus vergleichbar mit dem „Wissen“ der Männer
über die Rollen und die Behandlung von Frauen um 1850, schreibt Noah
Sow.(25) Dass auch weiße deutsche Linke mit gesellschaftskritischem
Anspruch empirische Evidenzen und theoretische Erkenntnisse der
Rassismusforschung einfach ignorieren, hat damit zu tun, dass sie sie einfach
ignorieren können. Zu entscheiden, „ich setze mich jetzt mal mit
Rassismus auseinander“ und es genauso schnell wieder lassen zu können, ist
ein Privileg, genauso wie die Möglichkeit, sich von Rassismus nicht
betroffen zu fühlen. People of Color und Migrant_innen haben diese Wahl
nicht(26).
Über Rassismuserfahrungen und Othering(27) als Analysekategorie wird sich
nur lustig machen, wer selber vollständig christlich-biodeutsch aussieht,
sozialisiert und privilegiert ist und andere Realitäten weder aus eigenen
Erfahrungen noch aus denen von Freund_innen, Genoss_innen, Nachbar_innen kennt.
Wer als schwarzer Deutscher, Bewohnerin im Flüchtlingsheim oder Migrant_in
in Sachsen lebt oder wer entsprechende Zeugnisse von Rassismuserfahrungen
einmal angehört oder zumindest gelesen hat(28), wird wissen, dass für
die meisten dieser Menschen nicht Nazis, sondern rassistische
Alltagserfahrungen in Behörden, in der Uni oder im Wohnhaus das
größte Problem sind. Ein damit verbundenes Problem ist, dass
ausschließlich Weiße definieren, was (Anti-)Rassismus bedeutet. Wir
glauben identifizieren zu können, wer die Täter_innen sind –
nämlich gewaltbereite Faschos und Nazis – und bleiben dabei blind
für unsere eigene Täter_innenschaft. Weißes (Kolonial-)Wissen
und weiße Realität werden als „neutrale“ und „objektive“
Wahrheiten ins Zentrum der Wissensproduktion gestellt. Es ist privilegierte
Ignoranz, andere Erfahrungswelten abfällig wegzuwischen und
gesellschaftliche Verhältnisse ausschließlich anhand
formal-abstrakter Kategorien wie den Wert erklärt wissen zu wollen.
Rassismus ist nach alldem nicht nur ein Naziproblem, sondern auch eines der
Leipziger radikalen Linken. Während die Schriften von Marx und Adorno zu
ihrem Fundus gehören, leistet sie sich bislang in Bezug auf Rassismus den
Luxus asymmetrischer Ignoranz. Dessen Durchdringung steht noch aus. Und zwar
auch in selbstreflexiver Manier. Das bedeutet, das eigene Weißsein, die
damit verbundenen Privilegien, eigenen Zurichtungsmechanismen und rassistischen
Projektionen kritisch zu reflektieren.
Wer heute in Sachsen dagegen gar das Ende des Rassismus ausruft und das Ende
des Antirassismus fordert, trägt aktiv dazu bei, dass sich hier nichts
ändern wird, dass schwarze Deutsche, Flüchtlinge und Migrant_innen
weiter nach Berlin oder in westdeutsche Großstädte ziehen, dass es
keine Reflektion, keine Kritik, keine Politik gegen rassistische
Diskriminierungen gibt, dass die Linke in Leipzig weiter so homogen bleibt wie
eine ostdeutsche Kleinstadt. Er/sie muss sich deshalb nicht nur den Vorwurf der
Ignoranz gefallen lassen, sondern auch den der Mitwirkung an der Perpetuierung
rassistischer Zustände.
Lou Sander
Anmerkungen
(1) Ein Bewohner einer sogenannten Gemeinschaftsunterkunft. Zitiert
nach: Juliane Wetendorf, RAA Sachsen: Struktureller Rassismus als Tabuthema im
öffentlichen Diskurs, in: Rassismus in Sachsen,
Antidiskriminierungsbüro Sachsen 2010, S. 48, 52.
(2) Grada Kilomba: „Wo kommst du her?“, http://www.migration-boell.de/web/diversity/48_608.asp
(3) Cafe Morgenland: Die Weizsäckerisierung der Militanz oder Die
Banalität des Blöden, 1994,
http://www.cafemorgenland.net/archiv/1994/1994.03.27_weisz.htm
(4) So beschreibt die kanakische Gruppe Cafe Morgenland den Kniff der
biodeutschen antideutschen Linken, von rassistischen Verhältnissen in
Deutschland abzulenken und mit dem rassistischen Mob gemeinsame Sache zu
machen. Cafe Morgenland: Das Geifern der Linken, 2005, http://www.fluchschrift.net/inc/geifern.htm#_ftnref8
(5) Ich beziehe mich auf die antideutsche Strömung, die sich an der
Zeitschrift BAHAMAS orientiert.
(6) Damit meine ich alle, die die moderne Gesellschaft einer
grundsätzlichen, auf individuelle Emanzipation zielenden Herrschaftskritik
unterziehen wollen und einen ausschließlich positiven Bezug auf
bürgerliches Recht, Staat und Zivilisation kritisieren.
(7) afbl: Raus aus der Komfortzone. Für eine feministische Position in
antideutscher Gesellschaftskritik, 2008, http://www.left-action.de/afb/antideutsch_feminismus.html
(8) Wem die Formulierung N-Wort nichts sagt, die/der ist vermutlich
weißdeutsch und kann z.B. hier Wissenslücken schließen: http://www.derbraunemob.de
(9) Martin Dornis, Die verkürzte Deutschlandkritik CEE IEH #176 (http://www.conne-island.de/nf/176/26.html).
(10) Cafe Morgenland bemerkte dazu, während der normale Deutsche seinen
Rassismus nicht erkläre, sondern nur auslebe, bräuchten linke
Rassisten eine „rationale“ theoretische Absicherung. Vgl. Cafe Morgenland:
Das Geifern der Linken, 2005.
(11) Anm. der Redaktion: Text aus dem CEE IEH #168.
(12) Hannes Gießler: 20 Jahre antideutscher antifaschistischer Widerstandskampf (http://www.conne-island.de/nf/169/29.html), CEE IEH #169; Martin Dornis, Die verkürzte Deutschlandkritik CEE IEH #176 (http://www.conne-island.de/nf/176/26.html).
(13) Vgl. INEX: Nie wieder Revolution für Deutschland, 2009, S. 26 (http://inex.blogsport.de/images/inex_nie_wieder_revolution_fuer_dtl_rc1.pdf).
(14) So titelten deutsche Zeitungen, nun habe es ein „Vietnamese“ in die
deutsche Regierung geschafft oder sprachen augenzwinkernd von der „gelben
Gefahr“.
(15) Celia Okoyino de Mbabi spielt in der deutschen Fußballnationalmannschaft.
(16) Die Autorin ist selber eine weiße Frau mit deutschem Pass.
(17) Vgl. Antidiskriminierungsbüro Sachsen: Rassismus auf Sächsisch, in: Rassismus in Sachsen 2010, S. 13. (http://www.adb-sachsen.de/media/documents/1270034069.pdf)
(18)
Durch Geburt im Inland wird ein Kind ausländischer Eltern das nach dem
1. Januar 2000 geboren wurde nicht durch Geburt auf deutschem
Territorium
Deutsche/r, sondern nur ein Elternteil seit acht Jahren seinen
gewöhnlichen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland hat und ein
unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt, § 4 Abs. 3 StAG.
(19) In der Regel gehen sie irgendwann nach Berlin oder in die USA.
(20) Das wollen auch die meisten nicht verstehen, die die „Wo kommst Du
eigentlich her? Frage stellen. Instruktive Antworten finden sich bei: Mutlu
Ergün: Die geheimen Tagebücher des Sesperado, in: re/visionen, 2007,
S. 261-264.
(21) Vgl. Mark Terkessidis: Interkultur, Suhrkamp 2010.
(22) Für Martin Dornis war Deutschland selbst im NS kein rassistischer
Staat. Für ihn erklärt sich die „Rassenforschung“ der Nazis
„nicht aus Rassismus, sondern strikt aus Antisemitismus“. Den NS als
Rassismus zu bezeichnen, verharmlose „den Naziunstaat samt seiner
systematischen Ermordungspolitik“, in dem „nichts ‚rassistisch` und
nichts ‚biopolitisch`“ gewesen sei. Damit verkennt er zum einen die
komplexe Verknüpfung von Antisemitismus, ethnisch-kolonialem Rassismus,
arischer Mystik und Eugenik. Auch die Rolle und Spezifik von Antislawismus und
Antiziganismus blendet er aus. Weil Rassismus, Eugenik und Biopolitik für
ihn keine Rolle spielen, sieht er auch nicht, dass neben der „Vernichtung
des Jüdischen“ auch die Ausmerzung „Artfremder“ und die
„Aufartung“ und „Optimierung“ des eigenen Erbguts zu den
Kernelementen des NS gehören. Auch Sinti und Roma waren von der
systematischen Ermordungspolitik der Nazis betroffen, und Blutschutzgesetze und
Maßnahmen zur Rassenhygiene wie Zwangsabtreibung, Eheverbot,
Sterilisation und Ermordung trafen auch andere „minderwertige Fremdrassen“
(die Nazis zählten dazu „Zigeuner, Neger und ihre Bastarde“). Vgl.
Dietmut Mayer: Rassistisches Recht in NS-Deutschland, in: Fritz Bauer Institut
(Hg.): Gesetzliches Un-recht. Rassistisches Recht im 20.Jahrhun-dert,
Frankfurt/Main 2005, S. 95-110; Birgit Rommelspacher: Ethnischer und
eugenischer Rassismus, die randschau 1/1993, S. 6-10; Lou Sander: Schwarz
– Weiß – Rot – Gold (Anti)Rassismus im deutschen Kontext,
Interventionen, 2009 (http://interventionen.conne-island.de/04.html).
(23)
Nach dem Motto „Arbeit zu erst für Deutsche“ gebietet §39
Aufenthaltsgesetz, dass Arbeitgeber_innen erst nach einer Genehmigung
des
Arbeitsamts Nichtdeutsche beschäftigen dürfen. Das Amt prüft, ob sich
für den Job 1.) kein/e Deutsche/r und 2.) kein/e EU-Bürger/in
finden lassen und generell, ob im konkreten Beschäftigungssegment gerade
eine hohe Arbeitslosigkeit unter Deutschen herrscht.
(24)
Vgl. zur Modernisierung des deutschen Zuwanderungsrechts, die keine
ist: Doris Liebscher: Zurück auf Los, in: Phase 2. 25/2007, S. 72-75 (http://phase2.nadir.org/index.php?artikel=494).
(25) Noah Sow, S. 36.
(26) Vgl. Otto Busse: weiß-sein, Diskus 3/2004, http://www.copyriot.com/diskus/03_04/01_weiss.html; Wer weiter über eigene
Privilegien nachdenken will, sei auf den Fragebogen im Anhang des Buches „Weißsein im Widerspruch“ von Eske Wollrad verwiesen.
(27) Othering meint die Erfahrung des Fremd-gemacht-werdens.
(28) Noah Sow, aaO. MarkTerkessidis: Banalität des Rassismus, 2004.
ehm
wtf?
Quellenangabe
Der Text ist im Juni 2010 hier erschienen: http://www.conne-island.de/nf/177/20.html
Wer ist rassistisch?
Wer von Rassismusproblemen spricht, sollte auch nicht über "Weißsein" schwadronieren. Sind die Privilegierten Südafrikas mit weißer Haufarbe eigentlich auch "weiß" oder wollen sich die "Antirassisten" nicht eingestehen, dass der Unterschied zwischen Schwarz und weiß dann doch nur via Hautfarbe funktioniert?
Eine Sackgasse.