Streit um Tarifeinheit In Gegnerschaft geeint

Erstveröffentlicht: 
08.03.2011

Arbeitgeber und DGB wollen, dass in Betrieben nur eine Gewerkschaft das Sagen haben soll. Das gilt auch beim für diese Woche angekündigten Lokführerstreik.

 

Selten waren sie so einig: Als im Juni 2010 das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt die Tarifeinheit kippte, zauberten die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und die Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) noch am selben Tag ein Papier aus der Schublade. Darin forderten sie die Bundesregierung auf, das Prinzip "ein Betrieb - eine Gewerkschaft" wiederherzustellen.

 

Seither liegen Berufsgewerkschaften wie der Marburger Bund, die Lokführergewerkschaft GDL oder die Vereinigung der Flugkapitäne Cockpit mit dem DGB über Kreuz. "BDA und DGB wollen ihr Machtkartell in der Tarifpolitik erhalten, der DGB sagt uns den Kampf an", sagt Rudolf Henke, Vorsitzender des Marburger Bunds. Bei der Ärztegewerkschaft befürchtet man, auf die Bedeutungslosigkeit geschrumpft zu werden. Der DGB wolle sie daran hindern, künftig Tarifverträge abzuschließen, sagt Henke.

 

Es sind schwerwiegende Vorwürfe. Allerdings sind es auch weitreichende Forderungen, die BDA und DGB an den Gesetzgeber gerichtet haben. Er soll per Gesetz festlegen, dass in einem Betrieb, in dem mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften miteinander konkurrieren, nur der Vertrag gilt, dessen Gewerkschaft dort auch die meisten Mitglieder hat. Zudem - ein Novum - soll die unterlegene Gewerkschaft während der Laufzeit des fremden Tarifvertrags nicht streiken dürfen.

 

Dabei ist der Grundsatz "ein Betrieb - ein Tarifvertrag" unter Arbeitsrechtlern seit langem umstritten. Das BAG hat ihn vor Jahren in seiner Rechtsprechung entwickelt, ohne ihn jemals in ein konkretes Gesetz zu gießen. Im letzten Sommer rückten auch die Richter am BAG vom Grundsatz ab. In der Praxis gibt es die Tarifpluralität: So existieren in Krankenhäusern Tarifverträge von Ver.di für die Krankenschwestern und solche des Marburger Bundes für die Ärzte nebeneinander.

 

Arbeitgeber wollen maximale Ruhe im Betrieb


BDA und DGB ist diese Pluralität ein Dorn im Auge. Die Arbeitgeber wollen maximale Ruhe im Betrieb und mit möglichst wenigen und verlässlich einschätzbaren Tarifpartnern verhandeln. Selbstbewusste Tarifforderungen, wie aktuell von der GDL, sind da ein Graus. Der für diese Woche angekündigte Lokführerstreik, heißt es, wird sich auf den Güterverkehr konzentrieren.

 

Die GDL will einheitliche Tarifbedingungen für rund 26.000 Lokführer auf dem Niveau der Deutschen Bahn (DB) durchsetzen. Die DB-Konkurrenten beschäftigen ihre Lokführer derzeit zu schlechteren Konditionen. Die GDL-Forderungen führen auch die DGB-Gewerkschaften vor, die seit Jahren mit Mitgliederverlusten kämpfen und gut qualifizierte Arbeitnehmer wie Ärzte, Lokführer oder Flugkapitäne in Scharen an die Konkurrenz verloren haben.

 

Doch was durch ein paar Absätze im Gesetzbuch festzuschreiben wäre, zieht viele neue Probleme und verfassungsrechtlich schwerwiegende Bedenken nach sich. Und könnte vor allem für den DGB problematisch werden. Dann nämlich, wenn das Bundesverfassungsgericht eine neu verankerte Tarifeinheit wieder kippt, weil ein partielles Streikverbot gegen das im Grundgesetz festgeschriebene Recht auf Koalitions- und Streikfreiheit verstößt, das für "jedermann und für alle Berufe" gilt.

 

Auch in den zuständigen Ministerien ist man sich bewusst, wie komplex das Ganze ist. Zwar signalisierte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kurz nach dem Richterspruch ihre Sympathien für den BDA-DGB-Vorstoß. Doch seit Monaten überlegen die Experten, ob und wie der Gesetzgeber eingreifen soll.

 

Auch im DGB gibt es massiven Widerstand. Im Mitgliedernetz von Ver.di tobte eine Diskussion über das "unsolidarische" und vorab mit keinem Wort kommunizierte Vorgehen des DGB. Der Vorstoß sei ein "gefährlicher Weg". Aus "reinem Machtkalkül" wolle der DGB gemeinsam mit den Arbeitgebern das Streikrecht reglementieren. Manch einer warnt, dass Ver.di selbst als mitgliederschwächere Gewerkschaft künftig dazu verdammt sein könnte, Tarifverträge von arbeitgeberfreundlichen Gewerkschaften zu akzeptieren, beispielsweise bei den sozialen Diensten. Aus den Bezirken, Regionen und Fachbereichen von Ver.di hagelte es Anträge, die Initiative abzublasen.

 

Englische Verhältnisse: Pausenlose Streiks


"Wir haben die Sache zu spät und völlig unzureichend in die Gewerkschaften kommuniziert", sagt Christoph Schmitz, Sprecher von Ver.di-Chef Frank Bsirske. Doch im Grundsatz stehe man zur Initiative. Schmitz beschreibt, wie die Arbeitgeber, Schreckensszenarien von englischen Verhältnissen: Pausenlose Streiks von immer mehr Splittergewerkschaften. "Wenn die Tarifvielfalt ausufert, kämen die politischen Angriffe auf das Streikrecht viel schneller, als wir uns das ausmalen können."

 

Dabei bezweifeln Arbeitsrechts- und Gewerkschaftsexperten, dass mit der gekippten Tarifeinheit plötzlich allerorts neue Berufsgewerkschaften entstehen oder mehr gestreikt würde. Die Hürden für Gewerkschaftsgründungen liegen einigermaßen hoch. Und um die Streikfreude ist es traditionell nicht gut bestellt: Deutschland liegt mit fünf durchschnittlichen Streiktagen zwischen 2000 und 2008 je 1.000 Arbeitnehmer noch hinter den USA mit 30 Tagen. Für Schmitz ist die Tarifeinheit aber auch ein Grundwert an sich. Arbeitnehmer in stärkeren Positionen, wie Fluglotsen oder Ärzte, müssten für Schwächere solidarisch einstehen. Das ginge nur unter einem Dach.

 

Der Idee kann auch der renommierte Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler viel abgewinnen. Trotzdem hält er den Vorstoß von BDA und DGB für "fatal": "Man will die Berufsgewerkschaften, die viel erreicht haben, kleinbekommen." Solidarität aber sei nur politisch untereinander herzustellen, nicht durch administrative Verfügungen. Däubler betont die positiven Effekte der Berufsgewerkschaften: "Den Kitastreik von Ver.di hätte es ohne die Vorarbeit des Ärztestreiks vom Marburger Bund vielleicht gar nicht gegeben."

 

Auch Gewerkschaftsforscher Heiner Dribbusch sagt, das tarifpolitische Signal, das von Abschlüssen des Marburger Bunds, von Cockpit oder der GDL ausgehe, "erschwert eher die Erosion von Tarifstandards nach unten".

 

"Massiver Eingriff in Koalitionsfreiheit"


Däubler hat in einem 60-seitigen Gutachten akribisch die komplexen Folgen des Vorstoßes analysiert. Er schaffe zahlreiche Rechtsunsicherheiten, bürokratischen Aufwand, könne für einige Beschäftigtengruppen zu "tariffreien Zonen" führen und zur Erosion des Flächentarifvertrags beitragen. Da es problematisch wäre, ad hoc festzustellen, wer im Betrieb die meisten Gewerkschaftsmitglieder hat, könnten verunsicherte Arbeitnehmer sogar noch häufiger auf Streiks verzichten. Die Idee, die Tarifeinheit gesetzlich festzuschreiben, sei keine "Ausgestaltung von Grundrechten, sondern ein massiver Eingriff in die Koalitionsfreiheit", resümiert Däubler. Dies würde sowohl gegen das Grundgesetz wie auch den Artikel 11 der Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.

 

Dribbusch moniert, dass der DGB in der Initiative nur die höheren Lohnforderungen durch die Berufsgewerkschaften kritisiere, nicht aber die Lohndrückerei durch arbeitgeberfreundliche Gewerkschaften. Dabei sei die wesentlich relevanter. Paradoxerweise gräbt das BAG-Urteil, das der DGB bekämpft, Lohndumpinggewerkschaften das Wasser ab: Jetzt ist es nicht mehr möglich, dass der speziellere Haustarifvertrag einer arbeitgeberfreundlichen Gewerkschaft den Flächentarifvertrag einer DGB-Gewerkschaft aushebelt.

 

Die Spitzen der DGB-Einzelgewerkschaften stehen offiziell geschlossen hinter dem Vorschlag. Doch hinter vorgehaltener Hand redet so manch einer an der Spitze der IG Metall von einem Desaster. Klar ist: Wenn Karlsruhe eine neu eingeführte Tarifeinheit wegen des Eingriffs in die Koalitions- und Streikfreiheit wieder kippt, wäre das für die Gewerkschaften ein beachtlicher Imageschaden.

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Finger weg vom Streikrecht! Gewerkschaftsfreiheit statt Arbeitsfront. (.pdf)

Sonderseite von FAU und labournet zum Angriff des DGB und BDA auf das Streikrecht