AdÜ: Alain Badiou ist ein französischer Philosoph, der 1937 im heute marokkanischen Rabat geboren wurde. Zusammen mit Giorgio Agamben und Slavoj Žižek ist er einer der zentralen kontinentalen Philosophen, die sich gegen die Postmoderne wenden. Seine politische Heimat ist der Maoismus. Obwohl er noch 1979 die vietnamesische Invasion Kambodschas kritisierte, vertrat er später zunehmend libertärte Positionen. Seit 1985 ist er an der "Organisation politique" beteiligt, die zum Ziel hat, die Sans-Papiers in ihrem Kampf zu unterstützen und ihre Selbstorganisation zu fördern. Der französische Text kann auf lereveil.ch gelesen werden.
Der Ostwind siegt über den Westwind. Wie lange noch wird der untätige und dämmernde Westen, die „internationale Gemeinschaft“ von jenen, die sich immer noch für die Gebieter der Welt halten, der ganzen Welt Lektionen in Sachen guter Führung und gutem Verhalten erteilen? Ist es nicht lächerlich wie einige Dienstintellektuelle, Soldaten mitten im Debakel des Kapitalo-Parlamentarismus, der uns als Ersatz für ein mottenzerfressenes Paradies dient, sich den wunderbaren tunesischen und ägyptischen Völkern anbieten, um diesen Wilden das ABC der „Demokratie“ beizubringen? Welch betrübliche Nachhaltigkeit kolonialer Arroganz.
In der Situation
politischer Misere, die seit drei Jahrzehnten die unsrige ist, ist es da
nicht offensichtlich, dass wir es sind, die alles zu lernen haben von
den aktuellen Volksaufständen? Sollten wir nicht dringend und sehr genau
alles, was dort den Sturz oligarchischer, korrupter, und zudem – und
vielleicht vor allem – sich in einer Situation des Vassalentums
gegenüber den westlichen Staaten befindenden Regierungen durch die
kollektive Aktion möglich gemacht hat, analysieren?
Ja, wir müssen
die Schüler, und nicht die dumme Professoren dieser Bewegung sein. Denn
sie erwecken im Wesen ihrer Erfindungen einige politische Prinzipien
wieder zum Leben, die man uns schon lange versucht als überholt zu
präsentieren. Und speziell das eine Prinzip, an das Marat immer wieder
erinnerte: wenn es um Freiheit, Gleichheit, Emanzipation geht, verdanken
wir alles den Volksaufständen.
Wir haben Recht, zu revoltieren.
Genau wie unsere Staaten und diejenigen, welche sich auf sie berufen
(Parteien, Gewerkschaften und servile Intellektuelle), der Politik die
Verwaltung vorziehen, ziehen sie der Revolte die Forderung vor und
jeglichem Bruch „den geordneten Übergang“. Die ägyptischen und
tunesischen Völker erinnern uns an die Tatsache, dass die einzige
Aktion, die einem geteilten Gefühl einer skandalösen Besatzung der
Staatsmacht gewachsen ist, der Massenaufstand ist. Und dass in diesem
Fall der einzige Schlachtruf, der die disparaten Komponenten der Menge
vereinen kann, lautet: „Du, der du dort bist, hau ab!“ Die
aussergewöhnliche Wichtigkeit der Revolte in diesem Fall, seine
kritische Macht, ist die Tatsache, dass dieser von Millionen Menschen
wiederholte Schlachtruf ankündigt, was zweifellos und unumkehrbar ihr
erster Sieg sein wird: die Flucht der so designierten Person. Und was
danach auch geschehen mag, dieser Triumph der Volksaktion,
natürlicherweise illegal, wird für immer siegreich gewesen sein. Der
absolute Sieg einer Revolte gegen die Staatsmacht ist eine Lektion mit
universeller Tragweite. Dieser Sieg zeigt immer den Horizont, aus
welchem sich jegliche kollektive Aktion, die sich der Autorität des
Gesetzes entzieht, herauslöst, jenen den Marx „das Absterben des
Staates“ nannte.
Es bedeutet, dass die Völker eines Tages, frei
verbunden durch die Entfaltung ihrer schöpferischen Kraft, den tödlichen
staatlichen Zwang nicht mehr nötig haben werden. Genau deswegen, wegen
dieser ultimativen Idee, löst eine Revolte, die eine eingerichtete
Autorität niederwirft, auf der ganzen Welt grenzenlosen Enthusiasmus
aus.
Ein Funke kann das Land zum Brennen bringen. Alles begann mit
dem Selbstmord durch Feuer eines Arbeitslosen, welchem man das miserable
Geschäft verbieten wollte, das es ihm erlaubte, zu überleben, und der
von einer Polizistin geohrfeigt wurde, um ihn verstehen zu lassen, was
in dieser niederen Welt real ist. Diese Geste entfaltet in einigen
Tagen, einigen Wochen eine Breitenwirkung bis Millionen von Menschen auf
einem fernen Platz ihre Freude herausschreien und bis die mächtigen
Potentaten in Anbetracht der Katastrophe die Flucht ergreifen. Woher
kommt diese fabelhafte Ausdehnung? Das Umsichgreifen einer
Freiheitsepidemie? Nein. Wie es Jean-Marie Gleize poetisch ausdrückt,
„breitet sich eine revolutionäre Bewegung nicht durch Ansteckung aus.
Sondern durch Resonanz. Etwas, das hier entsteht, klingt mit der
ausgelösten Schockwelle von etwas, das dort entstanden ist, nach“.
Nennen wir diese Resonanz „Ereignis“. Das Ereignis ist die brüske
Entstehung, wenn auch keiner neuen Realität, so zumindest einer Unzahl
neuer Möglichkeiten.
Keine davon ist die Wiederholung von etwas
schon Bekanntem. Darum ist es ignorant, zu sagen, „diese Bewegung
fordert die Demokratie“ (sprich diejenige, an welcher wir uns im Westen
erfreuen), oder „diese Bewegung fordert eine soziale Verbesserung“
(sprich den durchschnittlichen Wohlstand unseres Kleinbürgers).
Ausgehend von fast nichts und überall nachklingend kreiert dieser
Volksaufstand für die ganze Welt unbekannte Möglichkeiten. Das Wort
„Demokratie“ wird in Ägypten fast nicht gebraucht. Man spricht dort von
einem „neuen Ägypten“, vom „wahren ägyptischen Volk“, von einer
verfassungsgebenden Versammlung, von einer absoluten Veränderung der
Existenz, von unglaublichen und zuvor unbekannten Möglichkeiten. Es geht
um das Neue, das an die Stelle dessen tritt, das durch den Funken dem
Feuer zum Opfer fiel. Es liegt zwischen der Erklärung einer Umkehrung
der Kräfteverhältnisse und dem eigenhändigen Erledigen neuer Aufgaben.
Zwischen dem, was eine junger Tunesier sagte: „Wir, Arbeiter- und
Bauernsöhne, sind stärker als die Kriminellen“; und dem, was ein junger
Ägypter sagte: „Von heute, dem 25. Januar, an nehme ich die Geschäfte
meines Landes in die Hand“.
Das Volk, nur das Volk, ist der Schöpfer
universeller Geschichte. Es ist sehr erstaunlich, dass bei uns im
Westen die Regierungen und die Medien die Revoltierenden auf dem Platz
in Kairo als „ägyptisches Volk“ bezeichnen. Wie das? Das Volk, das
einzig vernünftige und legale Volk für diese Leute, wird es nicht
normalerweise beschränkt auf eine Mehrheit in einer Umfrage oder in
Wahlen? Wie kommt es, dass plötzlich Hunderttausende Revoltierende
repräsentativ sind für eine Volk von 80 Millionen Menschen? Dies ist
eine Lektion, die wir nicht vergessen sollten, nicht vergessen werden.
Nach
dem Erreichen einer gewissen Stufe von Entschlossenheit, Beharrlichkeit
und Mut kann das Volk tatsächlich seine Existenz auf einen Platz, eine
Strasse, einige Fabriken, eine Universität usw. konzentrieren. Denn die
ganze Welt wird Zeuge dieses Mutes sein und vor allem der verblüffenden
Kreationen, die damit einhergehen. Sie werden als Beweise gelten, dass
dort ein Volk ist. Wie es ein junger ägyptischer Demonstrant deutlich
ausdrückte: „Zuvor sah ich fern, jetzt sieht das Fernsehen mich.“
PROBLEME OHNE DIE HILFE DES STAATES LÖSEN
In
der Entwicklung eines Ereignisses besteht das Volk aus denjenigen, die
die vom Ereignis gestellten Probleme lösen können. Wie zum Beispiel die
Besetzung eines Platzes: Nahrung, Schlafplätze, Wache, Transparente,
Gebete, Defensivgefechte, um den Ort, wo sich alles abspielt, der Ort,
der als Symbol dient, von seinem Volk gehalten wird, um jeden Preis.
Probleme, die in Anbetracht Hunderttausender, die von überall gekommen
sind, unlösbar scheinen, umso mehr weil auf diesem Platz der Staat
verschwunden ist. Ohne die Hilfe des Staates unlösbare Problemen lösen,
dies ist das Schicksal eines Ereignisses. Und das führt dazu, dass ein
Volk plötzlich, für eine unbekannte Zeit existiert, dort wo es
entschieden hat, sich zu versammeln.
Ohne kommunistische Bewegung
kein Kommunismus. Der Volksaufstand, von dem wir sprechen ist
offensichtlich ohne Partei, ohne hegemonische Organisation, ohne
anerkannten Anführer. Wir werden immer noch Zeit haben zu analysieren,
ob dies eine Stärke oder eine Schwäche ist. Auf jeden Fall ist es genau
das, was es ausmacht, dass der Aufstand in einer sehr reinen Form, wohl
der reinsten seit der Pariser Kommune, alle Züge trägt von einem, wie
man es nennen sollte, Kommunismus in Bewegung. „Kommunismus“ heisst
hier: gemeinsame Kreation des kollektiven Schicksals. Dieses „gemeinsam“
hat zwei spezifische Züge. Vor allem ist es an einem Ort repräsentativ
für die ganze Menschheit. An diesem Ort gibt es alle Arten von Leuten,
aus welchen ein Volk besteht, jegliche Rede wird angehört, jeglicher
Vorschlag untersucht, jegliche Schwierigkeit als das behandelt, was sie
ist. Ausserdem überwindet es alle grossen Widersprüche, von welchen der
Staat behauptet, nur er könne sie verwalten ohne sie je zu überwinden:
zwischen Intellektuellen und Handarbeitern, zwischen Männern und Frauen,
zwischen Armen und Reichen, zwischen Moslems und Kopten, zwischen
Leuten aus der Provinz und der Hauptstadt...
Tausende neuer
Möglichkeiten, die diese Widersprüche betreffen, eröffnen sich in jedem
Augenblick, für welche der Staat – jeder Staat – absolut blind ist. Man
sieht junge Ärztinnen aus der Provinz, die Verletzte behandeln und
inmitten eines Kreises wilder junger Männer schlafen, und sie sind
unbesorgter als je zuvor, denn sie wissen, dass niemand ihnen auch nur
ein Haar krümmen würde. Man sieht auch eine Organisation von Ingenieuren
aus der Provinz junge Vorstädter bitten, mit ihrer Energie im Kampf den
Platz zu halten und die Bewegung zu beschützen. Man sieht auch eine
Reihe Christen, die stehend Wache hält vor knienden und betenden
Moslems. Man sieht Händler, die Arbeitslose und Arme ernähren. Man sieht
alle mit ihren unbekannten Nachbarn sprechen. Man liest Tausende
Schilder, auf welchen sich das Leben eines jeden ohne Kluft mit der
grossen Geschichte aller mischt. All diese Situationen, diese
Erfindungen bilden den Kommunismus in Bewegung. Seit nun schon zwei
Jahrhunderten ist dies das einzige politische Problem: wie kann man den
Kommunismus in Bewegung dauerhaft verwirklichen? Und die einzige
reaktionäre Reaktion darauf bleibt: „das ist unmöglich, vielleicht sogar
schädlich. Vertrauen wir dem Staat“. Ehre den tunesischen und
ägyptischen Völkern, die uns an die wahre und einzige politische Aufgabe
erinnern: gegenüber dem Staat eine organisierte Treue zum Kommunismus
in Bewegung.
Wir wollen nicht den Krieg, aber wir fürchten ihn
nicht. Überall sprach man von der friedlichen Ruhe der gigantischen
Demonstrationen und verband diese Ruhe mit dem Ideal der repräsentativen
Demokratie, das man der Bewegung unterschob. Stellen wir jedoch fest,
dass es Hunderte von Toten gab und immer noch jeden Tag gibt. In vielen
Fällen waren diese Tote Kämpfer und Märtyrer der Initiative zur, und
schliesslich dem Schutz der Bewegung. Die politischen und symbolischen
Orte des Aufstands mussten gehalten werden zum Preis blutiger Kämpfe
gegen die Milizen und Polizeien der bedrohten Regime. Und in diesem
Fall, wer bezahlte mit seinem Leben, wenn nicht die Jungen aus den
ärmsten Bevölkerungsschichten? Die „Mittelklasse“, von welcher unsere
unverhoffte Michèle Alliot-Marie sagte, dass der demokratische Erfolg
der aktuellen Periode von ihr und nur von ihr abhänge, sollte nicht
vergessen, dass im entscheidenden Moment das Andauern des Aufstands
garantiert wurde durch das Engagement ohne Einschränkung der
Volkseinheiten. Defensive Gewalt ist unvermeidlich. Sie dauert übrigens
unter schwierigen Bedingungen in Tunesien an, nachdem die jungen
Aktivisten aus der Provinz in ihre Misere zurückgeschickt wurden.
Kann
man ernsthaft glauben, all diese unzähligen Initiativen und all diese
grausamen Opfer hätten als grundlegendes Ziel die Wahl zwischen Suleiman
und El Baradei, wie man sich bei uns resigniert darauf beschränkt,
jämmerlich zwischen Sarkozy und Strauss-Kahn zu wählen? Sollte das die
einzige Lektion dieser glänzenden Episode sein? Nein, tausend Mal nein!
Die tunesischen und ägyptischen Völker sagen uns: Aufstand, Schaffung
eines öffentlichen Ortes eines Kommunismus' in Bewegung, seine
Verteidigung mit allen Mitteln, indem man die folgenden Etappen der
Aktion erfindet, das ist das Reale populärer Emanzipationspolitik. Die
arabischen Staaten sind sicher nicht die einzigen die grundsätzlich,
Wahlen hin oder her, illegitim sind. Was auch immer daraus werden mag,
der tunesische und ägyptische Aufstand haben eine universelle Bedeutung.
Sie eröffnen neue Möglichkeiten, deren Wert international ist.
Alain Badiou
Für den Kommunismus!
Wow. Ganz starker Text von Badiou.
Werden zwar in der deutschen Linken, oder dem was sich dafür merkwürdigerweise so hält, nicht allzuviele verstehen, aber wen interessieren die schon.
Geschichte wird gemacht, es geht voran. Und die Geschichte wird nicht von westlichen weißen Mittelklassekids gemacht.
Empfehlung
super text.
Perfekte Grundlage zur Diskussion in Gruppen/Zirkeln/Lesekreisen. Er enthält einige Anstoßpunkte, die in großen, breiten Kreisen unbedingt diskutiert werden müssen.
Die Aktualität der Revolution muss wieder Tagespolitik werden!
tie