Stuttgart erlebt einen heißen Herbst. Berufsdemonstrant_innen verwandeln harmlose Kastanien Kraft ihrer Gedanken in helmbrechende Pflastersteine. Die aus allen Teilen Deutschlands angereiste Polizei verteidigt sich mit Sprühregen gegen diese fiesen Attacken und willkürlich Fallen den Demonstrant_innen die Augen aus. Wer zusammenhänge konstruiert ist Verschwörungstheoretiker_in.
In diesem politischen Klima, irgendwo zwischen Schreibtisch und Barrikade und mit ordentlich Spätzle & Gewalt ist die GEGEN_KULTUR geboren. Die eigentlich so beschauliche Hauptstadt ist damit um ein Anti_Kunst und Gegenkultur Projekt reicher geworden.
GEGEN_KULTUR?
Oder
Was hat Sarrazin mit unserem Namen zu tun?
“[…] die Fähigkeit zu denken und die Fähigkeit, das Bedürfnis, sich zu empören. Diese beiden Fähigkeiten und ihr fortschreitendes Zusammenwirken im Lauf der Geschichte bilden den bewegenden Faktor, die verneinende Kraft in der positiven Entwicklung der menschlichen Animalität und schaffen folglich alles, was das Menschliche in den Menschen ausmacht.“ (Michael Bakunin)
"Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles." (Theodor W. Adorno)
Was uns antreibt
Was soll das eigentlich heißen, GEGEN_KULTUR? Eine erste Annäherung an den Titel unserer Zeitschrift finden wir in unserer Attitüde. Bakunin sah in der Kraft der Empörung das eigentlich Menschliche. Ohne so weit gehen zu wollen; sich aufzulehnen gegen Bestehendes ist der Schlüssel um etwas Mögliches sehen zu können und nicht nur im betrachtenden Denken zu verharren. So lag ein Name mit Empörung Nahe, ein Anti_Name, ein GEGEN. Ein Name der nicht nur unserer Empörung Ausdruck verleiht, sondern auch andere Empört. Warum sollte mensch gegen Kultur sein? Dafür müssen wir ein Frage stellen: Was ist Kultur?
Kultur ist der Ausdruck einer Gemeinschaft
Die anthropologische Idee der Kultur ist auch mit „Habitus“ zu übersetzen. Jene Eigenart von Menschen, sich durch bestimmte Symbole, eine Art zu Reden, sich zu kleiden, zu wirtschaften oder Musik zu spielen als eine Gemeinschaft zu sehen. Einer anderen Kulturdefinition begegnen wir in dem Vorwurf dass etwas Kulturlos sei. Damit sind die philosophischen und künstlerischen Höchstleistungen einer Gemeinschaft gemeint, vielleicht besser bezeichnet durch einen Zusatz. Dort geht es um Hochkultur.
Zum Unfug einer -westlichen- Kultur
Viel wird auch mit einem unsauberen Begriff der Kultur an Manipulation betrieben. Konservative und Rechte wie Huntington und Sarrazin sprechen vom Kampf der Kulturen, von einer angeblich westlichen Kultur die sich durch Offenheit, Vielfalt und Bewegung kennzeichnet und einer islamischen, die geschlossen, einheitlich und statisch sei.
Dabei wird eine -westliche- Kultur herbei phantasiert, die nur deshalb so offen und vielfältig erscheint, weil sie sich aus griechischen, römischen, atheistischen, anarchistischen, kommunistischen und tausend anderen geographischen, religiösen und weltanschaulichen (Sub)Kulturen zusammensetzt. Es gibt eben keine westliche Kultur als Einheit. Die oft als einigende Komponente angeführte Demokratie ist weder dezidiert -westlich- noch im Westen unumstritten. Viele amerikanische Konservative betonen immer wieder das Amerika keine Demokratie sondern eine Republik sei. Und viele Linke wollen das Mehrheitsprinzip und die repräsentative Demokratie überwinden für mehr Partizipation und Emanzipation.
Viele -westliche- Teilkulturen sind für sich abgeschlossen (wie christliche Sekten innerhalb Deutschlands), Homogen (wie die Skinheads, die Mormonen) und statisch (wie die katholische Kirche). Würden die konservativen der -westlichen- eine östliche und nicht eine islamische Kultur entgegensetzten, würde sich dasselbe Bild bieten. China, Indien, der nahe Osten sind ein Flickenteppich aus tausenden von religiösen, musikalischen und weltanschaulichen Kulturen die sich teilweise bekämpfen, vermischen oder friedlich Koexistieren.
Erster Versuch: Gegen Kultur
Es geht also gar nicht um diese zwei Kulturen, welche sich angeblich bekämpfen. Es geht darum, ob wir diese Erfindung der -westlichen- Kultur gelten lassen und uns als Teil dieser ach so freiheitlichen und friedlichen -westlichen- Kultur sehen oder nicht. Menschen die glauben, dass Freiheit und Emanzipation tatsächlich Kulturwerte seien die nur im -Westen- zu finden sind, glauben schnell durch Nationen und Armeen diese Werte gegen den Islam oder sonstige (angeblich) einheitliche Blöcke verteidigen zu müssen. In diesem Sinne sind wir gegen die Kultur, gegen ein einheitliches Konstrukt das andere, wichtigere Grenzen außer Acht lässt.
Zweiter Versuch: Gegenkultur
Vermittelt die Idee des -Kampfes der Kulturen- ein Bild des permanenten Krieges, kann mensch nicht widersprechen. Aber die Grenzlinien verlaufen nicht zwischen Westen und Islam, sondern zwischen Oben und unten. Der ständige Kampf der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter, die strukturelle Gewalt der Supermärkte, welche uns die Produkte unserer Arbeit zeigen aber nur gegen Geld zugänglich machen, der Krieg der Polizeiknüppel gegen die gesellschaftliche Teilhabe und Befreiung des Menschen ist allgegenwärtig. Als Arbeiter_innen die gegen unsere Unterdrückung kämpfen schaffen wir selbst täglich eine neue Kultur, einen neuen Habitus. Allein durch diesen Kampf erzeugen wir eine Gegenkultur. Der Unterstrich in GEGEN_KULTUR lässt so auch diese Lesart offen, sieht mensch ihn als eine Verbindung. Wir sind nicht nur gegen die Kultur, sondern auch für eine Gegenkultur, eine Kultur von unten, mit einem freiheitlichen Habitus, und einer ganz anderen Art des Lebens.
Dritter Versuch: GEGEN_KULTUR
Der Unterstrich erfüllt noch eine andere Aufgabe. Benutzten wir ihn in unseren Artikel und Texten, Gedichten und Märchen auch als Gendergap, soll er vor allem eines Symbolisieren: Einen leeren Raum zwischen Student_innen und Arbeiter_innen, zwischen Mann und Frau. Einen Raum, den jede_r mit einem eigenen Geschlecht oder einem Nichtgeschlecht füllen kann. GEGEN_KULTUR will also nicht nur gegen einen bestimmten Kulturbegriff sein und von einer Gegenkultur berichten die von den Bergen Chiapas bis zu den Opelwerken in Bochum am entstehen ist. Wir wollen auch allen Platz lassen etwas dazwischen oder außerhalb davon zu finden.
GEGEN_KULTUR für Gegenkultur und gegen Kultur
So soll die GEGEN_KULTUR auch noch zu ganz anderem anregen. Denn Kultur ist noch viel mehr, als in diesem kleinen Artikel beschrieben. Kultur ist der Gegensatz von Natur in einem mechanischen, dualistischen Weltbild das von Konstruktionen und Widersprüchen lebt, die bei genauerer Betrachtung unhaltbar werden. In dieser und den nächsten Ausgaben wird sich Scarlatan mit diesem und anderen Dualismen einmal genauer auseinandersetzten.
GEGEN_KULTUR ist also mehr als nur Empörung über bestehende Verhältnisse. Es ist auch mehr als nur ein Informationsblatt über Gegenkultur. Es ist Ausdruck eines anderen Kulturverständnisses, das wir uns erarbeiten wollen. Immer in Bewegung, immer mit _ , mit Platz für neues und unerwartetes.
Wiederverteiler_innen gesucht!
Die GEGEN_KULTUR erscheint bisher unregelmäßig, und ist auf unserer Internetseite als .pdf zu beziehen. Freuen würden wir uns vor allem über Wiederverteiler_innen und Infoläden aus anderen Städten welche die GEGEN_KULTUR bei uns für Portokosten (und gerne eine kleine Spende) beziehen können. Das Abonnieren als Einzelperson ist natürlich auch möglich. Da die GEGEN_KULTUR ein Teil der gerade im Entstehen begriffenen Projektwerkstatt Stuttgart ist finanzieren wir durch eure Abos vor allem dieses Projekt.
Unseren Internetauftritt findet ihr unter www.gegen-kultur.de
Kontakt & eigene Texte bitte unter und an farben@gegen-kultur.de
Warum
wollt ihr eigentlich ein eigenes Haus mieten wenn in Stuttgart gerade das Lilo Herrmann als großes linkes Zentrum aufgemacht hat? Das verstehe ich nicht... Wäre cool wenn ihr das mal erklären könntet.
Kann es genug geben?
Die Projektwerkstatt hat eine gänzlich andere Ausrichtung wie das Lilo Herrmann.
Wir versuchen durch offene Strukturen, frei nutzbare Büros, einer Leihbücherei, einer Werkstatt und ähnlichem Menschen zur eigeninitiative Anzuregen. Das Lilo Herrmann kann und wird vor allem von festen Institutionen wie der Ver.di Jugend, "der Linken", (wahrscheinlich) bald der DKP, und anderen genutzt.
Wir versuchen auch durch unser Prinzip "jede_r zahlt soviel Miete wie er_sie kann" Aktivist_innen die Möglichkeit zu geben trotz wenig_keiner Lohnarbeit ein schönes Zuhause zugeben. Dafür wird es bei uns wenige bis keine Privaträume geben. Die Projektwerkstatt wird sich an dem Prinzip des funktionellen Wohnens orientieren.Das Lilo Herrmann muss sich, da sie sich über das Mietshäuser Syndikat finanzieren, einen Festbetrag von ihren Bewohnis verlangen.
Und zu alledem kommt dazu:
Kann es genug soziale, linke & libertäre Zentren in einer Stadt geben?
Sollten wir nicht jede sich uns bietende Gelegenheit nutzten verschiedene Organisationsmodelle in einer Stadt auszuprobieren?
li(e)bertäre Grüße
lila Fee