Krise? Welche Krise?
Diesen Herbst will die Bundesregierung die Kosten für die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland in der Krise des Kapitalismus mit einem weiteren Kürzungspaket auf dem Rücken von Lohnabhängigen und Erwerbslosen abladen. Fast zeitgleich werden den Atomkonzernen Milliarden geschenkt. Soziale Bewegungen und GewerkschaftlerInnen machen dagegen bei zahlreichen Sozialprotesten und beim nächsten Castortransport mobil. Währenddessen findet in der Kurstadt Wiesbaden ein bemerkenswerter Event statt. Am Dienstag, den 26. Oktober, lädt der Verband hessischer Unternehmer (VhU) hier zu seinem jährlichen „Unternehmertag“.
Erwartet werden über 1200 UnternehmerInnen und PolitikerInnen, die unter dem Motto „Mit Energie in Deutschlands Zukunft“ nicht nur „Gute-Laune-Jazz“, sondern auch Reden verschiedener „wirtschaftlicher und politischer Experten“ hören wollen. Geboten werden wieder einmal Vorschläge wie Hartz IV und staatlicher Arbeitszwang „effektiver“ organisiert und die nationale Komplizenschaft mit dem „Exportweltmeister Deutschland“ in der Standortkonkurrenz gegen den Rest der Welt enger geschnürt werden kann. Doch damit nicht genug: Höhepunkt des Abends wird auch dieses Jahr die Krönung der „Hessenchampions“, d.h. der Firmen, die trotz oder gerade wegen der Wirtschaftskrise ihre Weltmarktanteile ausbauen konnten. Das nationale Kapital, sein Staat und dessen Fans haben also Grund zu feiern – da wollen wir nicht fehlen. Der Inszenierung einer happy Standortfamily, deren nationaler Zusammenhalt in Wahrheit nichts anderes als die konstante Verschlechterung der Lebensbedingungen im Innern und eine erbarmungslose Konkurrenz nach außen bedeutet, setzen wir eine klare Absage entgegen: Wir machen keinen Finger krumm „damit Deutschland gestärkt aus dieser Krise hervorgeht“ (Merkel). Denn der Skandal sind weder „Sozialschmarotzer“ noch „Pleitegriechen“, sondern vielmehr das kapitalistische System, in dem der technologischer Fortschritt nicht endlich zur Befreiung von Armut und Lohnarbeit, sondern stets zu neuen Angriffen auf Arme, Erwerbslose und Lohnabhängige führt – hier und erst recht anderswo.
Who is VhU?
Egal ob Studiengebühren und autoritäre Hochschulpolitik, Flughafenausbau und Atomenergie, Hartz IV und Leiharbeit, kapitalistische Stadtentwicklung und Gentrifizierung oder auch die rassistische Selektion in „nützliche und unnütze MigrantInnen“: Der Verband hessischer Unternehmer ist mit seiner Presse- und Öffentlichkeitsarbeit stets an vorderster Front, wenn es darum geht die Interessen des Wirtschaftsstandortes gegen die Bedürfnisse der meisten Menschen durchzusetzen. Und der VhU ist damit erfolgreich. Seine „Agenda 2025“ liest sich in großen Teilen wie eine Kopie des Regierungsprogramms der Landes- bzw. Bundesregierung. Legitimiert wird diese Politik immer mit der gleichen Leier: „Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es irgendwann allen gut“. Dumm nur, dass sich dieses Gerede aus der Zeit der angeblich „goldenen Jahre“ des Wohlfahrtsstaates der 1950er und 1960er inzwischen sogar im nationalen Rahmen und schon seit Jahren selbst als Lüge entlarvt. Gerade in der Krise hat sich gezeigt, dass der Vorteil des Standortes Deutschland und die Bedürfnisse der meisten Menschen nicht dasselbe sind. Viele Branchen – zumindest in der Exportwirtschaft – machen wieder riesen Profite, doch die soziale Krise geht jetzt erst richtig los. Denn der wesentliche „Standortvorteil“ dieser Unternehmen ist gerade, dass Deutschland inzwischen einen der größten Niedriglohnsektoren hat. Bei denen, die ohnehin fast nichts mehr haben wird also weiter gespart, während Atomwirtschaft und andere Konzerne noch mit Steuervergünstigung gestreichelt werden. Doch diese Situation bloß als ungerecht und undemokratisch zu skandalisieren greift zu kurz. Denn, dass der VhU eine kürzere Leitung in Staatskanzlei und Kanzleramt hat, als der Marburger Asta oder die Arbeitsloseninitiative Darmstadt hat wenig mit Korruption und viel mit den objektiven Zwängen des kapitalistischen Weltmarktes zu tun. Schließlich hängen der Staat und seine Handlungsfähigkeit selbst davon ab, dass die Wirtschaft brummt und Steuern abwirft. Und wo schon aufgrund der technischen Entwicklung immer weniger Arbeitskräfte für die Profitproduktion gebraucht werden, geraten die Lohnabhängigen eben zunehmenden unter Druck. Darin liegt auch der Grund dafür, dass jene OppositionspolitikerInnen, die sich gerade über die „Klientelpolitik“ der Regierung beschweren, nicht nur gerne selber Gast bei Unternehmertagen sind, sondern dass sich auch ihre Politik – wenn sie dann mal wieder an der Regierung sind – nicht wirklich von der aktuellen unterscheidet. Das ist die Realität der parlamentarischen Demokratie im globalen Kapitalismus.
Die Lohnarbeit hat die Krise verursacht
Bei genauerem Hinsehen werden alle Maßnahmen und Kürzungen zugunsten des Standortes in der Krise damit gerechtfertigt, dass sie ja – früher oder später – „Arbeit“ schaffen würden. Denn verantwortlich für die Krise waren nach Ansicht der Bundesregierung fehlende Regelungen auf den Finanzmärkten, weswegen nun auch die „Leistungsträger“ der „Realwirtschaft“, die großen und mittelständischen Unternehmen als „Rückgrat“ des Standortes Deutschland, entlastet werden sollen. Und selbst bei vielen linken GegnerInnen des aktuellen Sparpaketes genießt die Lohnarbeit immer noch einen erstaunlich guten Ruf. Doch die, auch von staatlicher Seite forcierte, populistische Fixierung auf die „Zockerei“ von Banken und Finanzbranche stellt das Problem auf den Kopf. Denn Profit entsteht im Kapitalismus bei der Produktion von Waren und der Ausbeutung von Arbeitskraft. Dabei geht es nicht um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern um Profitmaximierung: Relevant ist hier stets nur das Bedürfnis, das auch durch entsprechende finanzielle Mittel gedeckt wird und dementsprechend ist jede Produktion von Waren selbst Spekulation. So kommt es in der „Realwirtschaft“ immer wieder erst zur Überproduktion, dann zur Krise, letztlich zu Pleiten und dann geht der ganze Spaß von vorne los. Die Banken haben die Krise also nicht verursacht, sondern mit ihren Finanzprodukten vielmehr jahrelang hinausgeschoben. Dass das aber von DGB-Gewerkschaften über die Unternehmerverbände bis zur Politik keiner wissen will, hat einen einfachen Grund: Es würde deutlich machen, dass der Kapitalismus systematisch die gesellschaftlichen Grundlagen untergräbt. Denn die dank der Konkurrenz zwanghaft steigende Produktivität erhöht den Warenoutput, senkt dabei den Anteil „mehrwertschaffender“ menschlicher Arbeitskraft und steigert damit das Ausmaß der Krisen. Das Kapital findet in der Produktion – gerade aufgrund ihrer Produktivität – keine Anlagemöglichkeiten mehr und flüchtet in die Finanzwirtschaft. Hedgefonds und andere „Heuschrecken“ sind also nicht das Gegenteil der angeblich „guten Ausbeutung“ in der Produktion, sondern vielmehr deren Produkte. Dieser systemische Zusammenhang von Krise und Lohnarbeit lässt langfristig nur zwei Optionen offen: Entweder wird der Kapitalismus abgeschafft oder Löhne, Umweltstandards und Sozialleistungen werden immer weiter gekürzt und mit den verschiedensten Mechanismen der Kontrolle so abgesichert, dass sich die Ausbeutung von Lohnarbeit auch weiterhin „lohnt“. Im Exportweltmeisterland funktionierte das auch deswegen lange problemlos, weil die Krisenfolgen an die WeltmarktverliererInnen, wie z.B. Griechenland, ausgelagert wurden und Teile der DGB-Gewerkschaften, zusammen mit den Unternehmerverbänden und rassistischen Ideologen wie Thilo Sarrazin, ihr Klientel gegen die stets größer werdende Zahl der VerliererInnen auch hierzulande in Stellung gebracht haben. Aktuelles Beispiel dafür ist die von DGB und BdA organisierte Gesetzesinitiative zur ‚Wahrung der Tarifeinheit‘. Was auf den ersten Blick gut klingt, bedeutet vor allem eins: Der betriebliche Frieden soll gewahrt werden, in dem die Möglichkeit Beschäftigter, sich mit Streiks gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen zu wehren, langfristig eingeschränkt wird. Es ist genau dieses nationale Bündnis für Arbeit, welches sich auch beim Unternehmertag in Wiesbaden wieder präsentiert, dass die nächste Krise sicher und die Menschen weltweit zu KonkurrentInnen um ein immer kleiner werdendes Stück vom Kuchen macht.
An Alle: Kritik des Standorts!
Kein Zweifel: Die weitgehende Durchsetzung von Krisennationalismus, Leistungsterror und Standortpolitik in den letzten Jahren ist für uns frustrierend. Sie zeigt aber auch: Die verschiedenen Kämpfe gegen soziale und rassistische Ausgrenzung, autoritäre Bildungspolitik, Umweltzerstörung, Militarisierung und Entdemokratisierung haben einen gemeinsamen Gegner – das Kapital mit seinem nationalen Standort, seinen Handlangern in Politik, Gewerkschaften und ihren AnhängerInnen in der Gesellschaft. Dieser Kampf hat keine „realistische Perspektive“, er bietet keine Reformen an. Doch Veränderungen entstehen immer aus Handlungen Einzelner, die zur Bewegung werden . Dafür braucht es weder eine populistische Anbiederung an den Zwangszusammenhang aus Staat und Nation, Kapital und Lohnarbeit; noch den selbstzufriedenen Rückzug auf die Position der kritischen KritikerInnen. Nicht nur in Griechenland zeigt sich: Wenn sich der globalen Standortpolitik kollektive Verweigerung und gemeinsame Kämpfe für unseren unmittelbaren Interessen entgegenstellen, dann kann das die Krise als eine des Kapitalismus, und nicht – wie bisher – seines „unflexiblen Humankapitals“, überhaupt erst auf die Tagesordnung setzen. Wenn nicht hier, wo sonst soll sich eine Möglichkeit für die so offensichtlich notwendige, grundlegende Veränderung der Gesellschaft ergeben? Das Ziel einer sozialen Revolution für eine Gesellschaft, die auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ausgerichtet ist, mag heute unrealistisch scheinen. Gegenüber der im schlechtesten Sinne realistischen Perspektive des Standortes Deutschland, einem immer schnelleren „Rennen, Rackern und Rasen“ im Hamsterrad der kapitalistischen Konkurrenz für die Meisten und vergoldeter Scheiße für Wenige, erscheint sie jedoch eher als Spaziergang. Denn die kapitalistische Gesellschaft ist von Menschen gemacht, also kann sie auch von Menschen abgeschafft werden – soziale Revolution ist möglich.
Demo gegen den hessischen Unternehmertag 2010
Gegen Lohnarbeit, Leistungsterror und Standortkonkurrenz – Die Krise heißt Kapitalismus!
Dienstag, den 26. Oktober 2010
19 Uhr Hbf Wiesbaden
Es rufen auf:
ag5 Marburg * autonome antifa [f] * antifa [ko] * campusantifa * FAU-Gewerkschaft für alle Berufe Frankfurt/M * Jugendantifa Frankfurt * Krisengruppe Frankfurt/M * ÖkoLinX-Antirassistische Liste Frankfurt/M * Ökologische Linke Frankfurt/M