Gewalt oder eine gewaltig aufgebauschte Statistik?

Erstveröffentlicht: 
29.06.2010

Gewalt oder eine gewaltig aufgebauschte Statistik?


Extremismus. Was steckt hinter der Behauptung vom starken Anstieg der linksextremen Gewalt? Von Heinz Siebold

Ein Sprengkörper gegen Polizisten in Berlin, Eierwürfe auf Kundgebungsredner in Stuttgart - Gewalt im Umfeld von Demonstrationen sind wieder zum Thema geworden. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) rechnete bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2009 einen Anstieg linksextremer Gewalt vor. Das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz hatte von einem Anstieg der linksextremen Straftaten von 294 auf 687 gesprochen.

Die Zahlen stammen aus der polizeilichen Kriminalstatistik. „Die ist mit Vorsicht zu genießen", warnt der Landtagsabgeordnete Stefan Braun (SPD), „denn sie ist eine reine Anzeigenstatistik." Das Zahlenwerk registriert lediglich die formell erfassten Anzeigen der Polizei. Ob eine Verurteilung herauskommt oder ob das Verfahren eingestellt wird, bleibt unklar. Auch über die Gewichtung der Straftaten sagt die Statistik wenig. Das sei „problematisch", findet die Grünen-Abgeordnete Edith Sitzmann. Sie will deshalb vom Landesinnenminister wissen, auf welcher Zahlengrundlage er zu seiner Einschätzung komme.

Eines der vom Innenminister genannten Ereignisse, bei dem die Polizei am Ende eine hohe Zahl von Straftaten für die Kriminalstatistik erhob, war eine Demonstration am 14. November 2009 in Freiburg. Eine fast 750 Mann starke Polizeimacht kesselte rund 700 meist junge Teilnehmer einer nicht angemeldeten Demonstration in der Innenstadt ein. Aufgerufen zu der antifaschistischen Aktion hatten linksautonome Personen. Sie hatten, ihren Angaben zur Folge aus Sorge vor rechtsextremen Film- und Fototrupps, angekündigt, sich zu vermummen. Nach dem Versammlungsgesetz ist das verboten.

Deshalb ließ die Polizei unter Führung ihres Freiburger Präsidenten Heiner Amann den Demonstrationszug, zu dem sich auch grüne Stadträte gesellt hatten, nicht von der Stelle rücken und verlangte von rund 50 der Demonstranten, sie sollten Masken, Schals und Pullover vom Gesicht entfernen. Darüber entwickelte sich eine Eskalation. Am Ende der Rangeleien nahm die Polizei nahezu alle noch ausharrenden Demonstranten kurzfristig fest. Mobile Reviere standen vorsorglich bereit. Von 381 Teilnehmern seien die Personalien aufgenommen und 250 Platzverweise ausgesprochen, gegen 128 Personen sei ein Strafverfahren eingeleitet worden. Die Freiburger Autonomen Antifaschisten wollen dagegen in Erfahrung gebracht haben, dass fast 400 Straftaten angezeigt wurden. Die Polizeidirektion Freiburg wollte gestern zu den Zahlen nicht Stellung nehmen.

Hat der Landesinnenminister seine knapp 400 neuen linksextremen Straftaten praktisch aus einem einzigen scharfen Polizeieinsatz aus Freiburg geliefert bekommen? Und was heißt schon Straftat? Die Staatsanwaltschaft Freiburg teilt auf Anfrage mit, sie habe 250 Strafverfahren im Zusammenhang mit dem 14. November 2009 auf den Tisch bekommen. Zwei Drittel davon wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz, ein Drittel wegen Widerstandes gegen Vollzugsbeamte und Landfriedensbruches. Die Hälfte der Verfahren sei mittlerweile abgearbeitet, sagte Oberstaatsanwalt Wolfgang Maier der StZ. Von dieser Hälfte seien drei Viertel der Anzeigen, rund 90 Fälle, bereits eingestellt, in 20 Fällen wurden Strafbefehle verhängt.

Die Polizei hatte nicht nur vermummte Demonstranten angezeigt, sondern auch ähnlich gekleidete Personen. Nach Paragraf drei des Versammlungsgesetzes ist es verboten, „öffentlich oder in einer Versammlung Uniformen, Uniformteile oder gleichartige Kleidungsstücke als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Gesinnung zu tragen". Die Tatsache, dass linke Autonome uniform mit schwarzen Hosen und schwarzen Sweatshirts unterschiedlicher Labels auftreten, ist jedoch keine Uniformierung im Sinne des Gesetzes. Auch ein Schal vor der Nase bei kaltem Novemberwetter ist noch keine strafwürdige Vermummung. Alle Verfahren wegen des Tragens einer „Uniform" und die meisten wegen Vermummung wurden eingestellt.

Wurde also am 14. November lediglich ein Popanz geschaffen? „Die Polizei war von Anfang an auf Konfrontation aus", hatte die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Freiburger Gemeinderat, Maria Viethen, danach erklärt. Ihr Fraktionskollege Gerhard Frey hält die Polizeiaktion auch im Nachhinein für unverhältnismäßig. Sollte jetzt noch hinzukommen, dass mit den laut den Grünen recht harmlosen Straftaten politisch einseitig argumentiert hantiert werde, könne das nicht hingenommen werden. „Das wäre kein reales Bild der Lage hier vor Ort", betont Frey.
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