Vor jeder Wahl liegen uns Politiker*innen, Journalist*innen und Lehrer*innen in den Ohren; sie preisen die Vorzüge der Demokratie und versuchen, uns mit Wahl-O-Maten und anderem pädagogischen Schnickschnack zu überzeugen, doch unbedingt von unserem demokratischen Recht Gebrauch zu machen und zur Wahl zu gehen. Wenn wir sagen, dass uns das alles nicht interessiert, werden sie moralisch und behaupten, dass wir uns nicht beschweren dürften, wenn wir nicht mitmachten. Zuweilen werfen sie uns sogar vor, wir persönlich seien durch unsere Wahlenthaltung schuld am Aufstieg der AfD, am Klimawandel, am Mangel an Kitaplätzen und was es sonst so an Problemen der Gegenwart gibt.
Diese Werbemaßnahmen und Vorwürfe nützen freilich wenig. Wir sind beileibe nicht die einzigen, die dem Wahlspektakel wenig abgewinnen können. Große Teile der Bevölkerung sind zu der Überzeugung gelangt, dass es im Grunde egal ist, wen sie wählen, weil „die da oben ja ohnehin machen, was sie wollen.“ Auch diejenigen, die noch zur Wahl gehen, tun das in der Regel nicht aus Begeisterung für eine bestimmte Partei, sondern um „das größere Übel“ zu verhindern oder einfach, um überhaupt etwas getan zu haben. Bei Umfragen darüber, welchen Berufsgruppen die Menschen am meisten vertrauen, belegen Politiker*innen seit Jahren regelmäßig den letzten Platz. Politikwissenschaftler*innen warnen besorgt von einer „Legitimationskrise der Demokratie“.
Offenbar wird das Märchen von der „Volkssouveränität“, also der Selbstbestimmung, die dem Volk in der Demokratie zukommen soll, immer weniger geglaubt; zumindest ahnen viele, dass Demokratie keineswegs bedeutet, dass sie in ihrem persönlichen Alltag „souverän“ sind, sprich selbst bestimmen können, wie sie leben möchten. Politische Wahlen sind im Grunde nur eine von vielen Scheinalternativen, zwischen denen wir uns ständig entscheiden sollen: CDU oder SPD, Saturn oder Media Markt, O 2 oder Vodafone, ein Jura- oder ein Soziologiestudium – Wahlmöglichkeiten, wohin man sieht, aber nirgendwo Freiheit.
Aber warum ist das eigentlich so?
Inhalt
- Staat und Gewaltmonopol
Die Macht der Institutionen setzt unsere Ohnmacht voraus.
- Notwendigkeit des Staates
Der Staat hält nicht den „natürlichen Egoismus“ der Menschen im Zaum – er schützt das Privateigentum, das diesen Egoismus erst hervorbringt.
- Kapitalismus und Staat
Egal wer die Wahlen gewinnt, die Regierung steht immer im Dienste des Kapitals.
- „Kleineres Übel“ (I): Elend des Reformismus
Die Aufgabe linker Parteien ist es, von Zeit zu Zeit die brüchig gewordenen Illusionen ins parlamentarische System aufzufrischen.
- „Kleineres Übel“ (II): Elend des Antifaschismus mit dem Stimmzettel
Die faschistische Gefahr kann nicht durch die Verteidigung des demokratisch-kapitalistischen status quo gebannt werden, der diese Gefahr erst hervorbringt.
- Direkte Demokratie?
Das Problem an der Demokratie ist nicht nur, dass Entscheidungen an Vertreter*innen delegiert werden auch direktdemokratische Verfahren können Hindernisse für die Freiheit sein.
- Aber was wollt ihr dann?
Unser Ziel ist die klassen- und staatenlose Weltgesellschaft.
- Wie kann eine herrschaftsfreie Gesellschaft erreicht werden?
Die Verwirklichung unserer Ideen mag schwierig sein – noch viel unrealistischer ist es jedoch, zu glauben, die bestehende Ordnung könnte die Probleme der Gegenwart auf befriedigende Weise lösen.
anarchistische Gruppe Dortmund – http://agdo.blogsport.eu – agdo@riseup.net – im August 2017
Warum Brotkrumen verschmähen?
Vieles in der Broschüre ist richtig. Aber auch hier wird nicht erklärt, bzw. der zaghafte Versuch in Kapitel "Kleineres Übel (I)" ist alles andere als überzeugend, warum man eigentlich nicht wählen sollte. Das ist das Problem mit so ziemlich allen Aufrufen nicht an Wahlen teilzunehmen: Von der völlig richtigen Einschätzung dass Wahlen keine grundlegenden Veränderung bringen werden, dass man darin keine Illusionen haben sollte, dass Parlamente Herrschaftsinstrumente sind und auf man Selbstorganisation setzen muss wird der Fehlschluss gezogen dazu aufzurufen nicht wählen zu gehen. Dabei schließt es sich eben nicht aus auf Selbstorganisation zu setzen, die Wahlen zu kritisieren und dennoch die (natürlich sehr begrenzte) Möglichkeit wahrzunehmen auf die Zusammensetzung von Parlamenten einfluss zu nehmen ohne darin in Illusionen zu verfallen.
Mal zum zaghaften Erklärungsversuch aus der Broschüre:
Angefangen damit dass man sich nicht mit Brotkrumen zufrieden geben will: Und eben deshalb verlassen wir uns nicht auf Wahlen, stecken keine Kapazitäten in den Kampf um Parlamente, ja. Das bedeuted aber nicht dass man, um in der Methapher zu bleiben, auf dem Weg zur Bäckerei nicht die Brotkrumen aufsammeln sollte. Man kann eben auch ohne Illusionen und ohne das Aufgeben einer weitergehenden Perspektive wählen.
Zu den 3 aufgeführten Argumenten: Die sind ja alle nur eine Erklärung warum wir uns selbst nicht im Wahlkampf aufreiben, warum wir es ablehnen zu einer Wahl anzutreten, und dahingehend völlig richtig. Allerdings gehen die Argumente völlig daran vorbei wenn es um die Frage geht ob man alle paar Jahre mit einem Kreuzchen Einfluss auf die Parlamente nehmen sollte oder nicht, das sind 2 völlig andere paar Schuhe. Dementsprechend einfach ist es auch den 3 Argumenten zu begegnen:
1. Parteivertreter würden zur Komplizenschaft mit Staat und Kapital genötigt. Stimmt oft, aber eben nicht grundsätzlich. Allein in Deutschland z.B. wurde die KPD verboten weil sie eben nicht kooperierte und zur Gefahr für die Herrschenden wurde, wenn man mal über die nationalen Grenzen hinausschaut sieht man dass sowas auch heutzutage üblich ist. Warum dann überhaupt wählen? Weil man bei so einem Verbot die Grenzen der "Demokratie" viel besser deutlich machen kann als mit einer Nichtwahl. Und mal abgesehen davon: Die Parteivertreter werden zur Komplizenschaft genötigt völlig unabhängig davon ob wir sie wählen oder nicht.
2. Die Erfolgsaussichten seien "meist gering": Ich würd noch weitergehen, wenn es um grundlegende Änderungen geht gibts praktisch keine Erfolgsaussichten, das wäre illusionär. Aber erzähl mal nem Geflüchteten, dessen Status wesentlich von der Zusammensetzung des Parlamentes abhängt, die Erfolgsaussichten seien gering. Oder einer Hartz-Familie die sich am Monatsende überlegen muss wo sie noch günstiges Essen herbekommt. Oder BewohnerInnen von Ländern die von deutschen Rüstungsexporten und Auslandseinsätzen der Bundeswehr betroffen sind. Denen helfen schon vermeintlich kleine Änderungen enorm. Auch hier: Wählen und damit die Situation für viele zumindest etwas zu verbessern steht nicht im Widerspruch dazu für eine weitergehende Perspektive zu kämpfen.
3. Demokratische Illusionen würden wieder aufleben: Die Wahlen finden nunmal statt, ob mit oder ohne uns. Was für ein Unterschied machts da wenn wir auch unsere Stimme abgeben und auf die Parlamente einfluss nehmen, mal abgesehen vom stärken des eigenen revolutionären Egos, dass man sich sagen kann man wäre angeblich nicht Teil der gesamten Scheiße? Illusionen in die Demokratie sind eine Gefahr und diesen Illusionen entgegenzutreten ist wichtig, wenn man das aber auf ein simples "entweder wählen oder Revolution" herrunterbricht erweist man sich einen Bärendienst, diskreditiert man sich und die eigene Argumentation völlig ohne Not selbst und wird als realitätsferner Utopist abgeschrieben.
Brotkrumen nicht verschmähen, sie können Kraft geben für den Weg zur Bäckerei. Wenn nicht für dich dann für viele andere.