G20-Einsatz: Schuss in der Schanze

Schuss in der Schanze
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Erstveröffentlicht: 
09.07.2017

Ein einziger Schuss fällt in Hamburg während des G20-Gipfels. Doch warum hat ein Zivilfahnder abgedrückt? Rekonstruktion eines Polizeieinsatzes.

 

Es ist ruhig im Hamburger Schanzenviertel, bisher ein lauer Freitagabend, noch ist das Chaos nicht über den Stadtteil hereingebrochen: Die Menschen flanieren, trinken und essen auf dem Bürgersteig. Um 19.51 Uhr schreckt ein Knall sie auf. Passanten rufen, ein Mann habe in die Luft geschossen und mit seiner Pistole herumgefuchtelt, um Umstehende abzuschrecken.

 

Die Polizei will eine Panik vermeiden und vermeldet keine Stunde später, ein Zivilfahnder habe "nach derzeitigem Erkenntnisstand" einen Warnschuss abgegeben. Der Beamte habe zwei Männer gesehen, die auf einen am Boden Liegenden eingetreten hätten. Er habe sich als Polizist zu erkennen gegeben und die Angreifer aufgefordert, von dem Mann abzulassen. Dann habe er in die Luft gefeuert - in Nothilfe. Doch die Darstellung ist womöglich nicht ganz richtig gewesen.

Ein Team von SPIEGEL und SPIEGEL TV hat die Umstände des Schusses noch in der Nacht zu Samstag zu rekonstruieren versucht. Videos, Augenzeugen, aber auch der Betroffene selbst erzählen eine etwas andere Geschichte, in der nicht vollständig klar erscheint, ob der Beamte wirklich zur Waffe greifen musste. Womöglich tat er es, weil er den Bedrängten für einen Kollegen hielt - fälschlicherweise.

"Er dachte, ich wäre auch ein verdeckter Ermittler."

Der von Autonomen bedrängte Stefan Heber (Name geändert) aber ist kein Polizist, er arbeitet nach eigenen Angaben in der IT-Branche, auch betreibt er ein Reiseblog, wohl als Hobby. Am Freitagabend sei er aus Neugier ins Schanzenviertel geradelt, er habe sich selbst ein Bild des Geschehens machen wollen, sagt er. In der Susannenstraße sieht der 40-Jährige, wie sich eine Gruppe Linksradikaler vermummt. Er habe sie dabei filmen wollen, so Heber. Und als sie ihn bemerken und zur Rede stellen, reagiert er trotzig: "Natürlich habe ich euch fotografiert." Im Nachhinein sei das "naiv und dumm" gewesen, gibt er zu.

Die Autonomen kreisen Heber ein und schubsen ihn, doch er kann sich befreien, läuft davon. Aus Häusern in der Nähe filmen Anwohner das weitere Geschehen, die Videos liegen dem SPIEGEL und SPIEGEL TV vor. "Die haben auf ihn geschlagen und auf das Fahrrad eingetreten", sagt ein Augenzeuge.

Einer der Filme zeigt, wie Heber - blaue Hose, schwarzes T-Shirt - rennt, geschubst wird, stürzt, aufsteht. Dann fällt der Schuss. Der Beamte - schwarzes Hemd, graue Hose, Rucksack, Mütze - zielt mit der Waffe auf die Personen, die Heber zuvor bedrängt haben. Der Polizist habe ihm gesagt, er solle mitkommen, berichtet Heber. Was er auch getan habe.

In einem zweiten Film ist zu erkennen, wie der Beamte und Heber vor einem Bekleidungsgeschäft stehen. Der Fahnder, die Waffe in der Rechten, schaut sich um, Heber stützt die Arme in die Hüfte. "Er hat mich gefragt, zu welcher Einheit ich gehöre", so Heber. "Er dachte, ich wäre auch ein verdeckter Ermittler." Daraufhin habe er, Heber, dem Beamten gesagt, dass er kein Polizist sei. Der wiederum habe nach Unterstützung gefunkt.

"Er hat sich nicht als Polizist zu erkennen gegeben"

Zwei, drei Minuten nach dem Schuss rast ein Streifenwagen in die schmale Susannenstraße. Er biegt zunächst in eine Seitenstraße ab, um kurze Zeit später wieder mit hoher Geschwindigkeit in die Susannenstraße zu fahren.

Der Wagen hält vor Hausnummer 10, vier bis fünf Polizisten in Kampfmontur steigen aus und laufen als Gruppe, sich gegenseitig nach allen Richtungen mit Pfefferspray schützend, an verschiedenen Geschäften vorbei. Sie schauen durch die Fenster und Türen hinein.

Sie suchen offenbar ihren Kollegen in Zivil, schließlich finden sie einen Kiosk, in den sich der Fahnder geflüchtet hat, gehen hinein und bringen ihn hinaus. Alle steigen ins Auto - und fahren wieder in hoher Geschwindigkeit davon. Anwohner berichten, dass der von den Polizisten abgeholte Mann maskiert gewesen sei. Die Szene habe an eine Festnahme erinnert, sagen sie.

Heber wiederum folgt einem Anwohner in einen Innenhof, zieht einen Pullover über und fährt später mit der Bahn nach Hause. Sein Fahrrad ist weg.

Augenzeugen zweifeln an der Darstellung der Polizei, der Zivilbeamte habe sich vor der Abgabe des Schusses identifiziert und gewarnt. "Das ging alles sehr schnell, er hat sich nicht als Polizist zu erkennen gegeben", sagt ein Beobachter. Eine Frau bestätigt die Aussage. Auch Heber sagt: "Ich habe keine Warnung gehört."

Die Hamburger Polizei wollte sich auf SPIEGEL-Anfrage nicht zu dem Geschehen äußern. Die Ermittlungen liefen noch, hieß es. Stefan Heber hat sich am Samstagnachmittag von der Kriminalpolizei vernehmen lassen.

Der Hobbyfotograf Heber ist dem Beamten dankbar, der ihn rettete: "Ich will mir nicht vorstellen, was mir passiert wäre, wenn er nicht da gewesen wäre."

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pressemeldung der bullen zu schusswaffengebrauch durch zivi in der nacht samstag auf sonntag:

Auch gegen Mitternacht beobachteten zivile Polizeibeamte, wie ein Mann unter der Sternenbrücke Unrat entzündete, sich danach entfernte und im weiteren Verlauf die Kleidung wechselte. Die Beamten wollten ihn anhalten und vorläufig festnehmen. Sie gaben sich als Polizeibeamte zu erkennen und forderten ihn zum Stehenbleiben auf, woraufhin der Mann allerdings die Flucht ergriff. Während seiner Flucht drehte er sich mehrfach zu den Polizeibeamten um, verlangsamte schließlich sein Tempo und griff in einen Beutel, offensichtlich um daraus einen Gegenstand zu entnehmen. Einer der verfolgenden Polizeibeamten gab daraufhin einen Warnschuss in die Luft ab. Der Mann setzte seine Flucht daraufhin fort und konnte in einer größeren Personengruppe unerkannt entkommen.

Geschichten mit happy-end...

Video zum Angriff auf den Fotografen und Warnschuss: https://www.youtube.com/watch?v=2zo6t3JZEEM
Danach: https://www.youtube.com/watch?v=c3T083wJqFE