Nichts gehört, nichts gesehen oder doch schlicht gelogen?

Erstveröffentlicht: 
06.04.2017
Als Halit Yozgat vom NSU erschossen wurde, war Andreas Temme nicht weit entfernt. Ein Forscherteam aus London bezweifelt, dass der Ex-Verfassungsschützer nichts mitbekam.

 

Andreas Temme will keinen Schuss gehört, keine Leiche gesehen haben. Auch den Geruch des Schießpulvers will der ehemalige Mitarbeiter des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz nicht wahrgenommen haben, als Halit Yozgat vor elf Jahren, am 6. April 2006, in seinem Internetcafé in Kassel erschossen wurde. So hat es Temme als Zeuge im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München ausgesagt.

 

Sechsmal musste sich Temme dort befragen lassen. Jedes Mal präsentierte sich ein müder, zerknirschter Mann. Getrieben von den Verwicklungen, die sein Besuch in dem Café damals ausgelöst hat, aber behäbig in der Aussage. Mit Sätzen wie "Das müssen Sie mir mal erklären" oder "Ich habe da meine Schwierigkeiten" musste ein skeptischer Richter Manfred Götzl ihm die Details von damals entlocken.

 

Temme fuhr auf dem Heimweg von Kassel bei dem Internetcafé vorbei, um auf einer Kontaktseite mit Frauen zu chatten, während seine eigene schwanger daheim wartete. In der Nähe lag zudem eine Moschee, in der Gläubige verkehrten, die der Verfassungsschützer Temme als V-Männer führte. Zwei gute Gründe für ihn, seinen Besuch unter allen Umständen geheim zu halten.

 

Das aber wurde schwer, als kurz nach 17 Uhr den 21-jährigen Yozgat die tödlichen Schüsse trafen, abgegeben von den NSU-Mitgliedern Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Temme sagte später, er habe sich vom Computer abgemeldet und, als er Yozgat nicht hinter dem Empfangstresen sitzen sah, eine 50-Cent-Münze auf den Tisch gelegt. Dann sei er gegangen. War es Temmes erste Lüge, das blutende Opfer nicht auf dem Boden gesehen zu haben?

 

Und folgten noch viele weitere Lügen? Als Temme behauptete, die unübersehbaren Medienberichte in den folgenden Tagen nicht mit seinem Besuch in Verbindung gebracht zu haben? Dass er der Meinung war, schon einen Tag früher dort gewesen zu sein? Und: Dass er deutlich mehr über den Mord wusste, als er heute zugibt? 

 

Zweifel, aber keine Beweise


Diese Meinung äußerten zwei Nebenklageanwälte der Familie Yozgat bereits 2015 im Gespräch mit der ZEIT. Sie seien sicher, dass Temme vor Gericht gelogen hat. Auch die Ermittler hatten ihre Zweifel, konnten Temme aber nicht das Gegenteil beweisen.

 

Die Münchner Richter, aller anfänglichen Zweifel zum Trotz, kamen später zu einem ganz anderen Ergebnis. Seine Ausführungen seien "plausibel, glaubhaft und nachvollziehbar", ließ der Vorsitzende Richter Manfred Götzl im Juli vergangenen Jahres in einer Stellungnahme wissen. Während die Schüsse fielen, habe sich Temme im hinteren Teil des Internetcafés aufgehalten, es sei durchaus möglich, dass er von dem Mord tatsächlich nichts mitbekam und Yozgat beim Verlassen des Raums übersah.

 

Tatsächlich? Seinen Angaben über das, was er im Internetcafé mitbekommen haben will, ist jetzt ein englisches Forscherteam nachgegangen. Die Gruppe Forensic Architecture von der Londoner Goldsmith University hat den Mord nachgestellt. Das Team um den Architekten Eyal Weizman besteht aus Wissenschaftlern, Filmemachern, Designern und Anwälten. Hauptauftraggeber sind die Vereinten Nationen, Menschenrechtsorganisationen oder internationale Strafverfolgungsbehörden. Die Gruppe untersucht Verbrechen in syrischen Kriegsgebieten oder Drohnenangriffe im Irak. Für den NSU-Mord wurde das Team von der Initiative 6. April sowie dem Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen beauftragt. 

 

Temme muss die Leiche gesehen haben


Das Forscherteam stützte sich bei seiner Arbeit auf öffentlich zugängliche Dokumente. Im Fall des Kasseler Mords etwa auf Temmes Zeugenaussage im NSU-Prozess sowie ein Video, in dem Temme vor Ort für die Polizei nachstellte, wie er sich am Nachmittag des 6. April durch das Internetcafé bewegt haben will. Das Video soll zeigen, wie er den Mann hinter der Kasse suchte, aber nicht fand.

 

Weiter werteten die Forscher Polizeiakten, Berichte, Zeugenaussagen, Fotos vom Tatort und die Login-Daten von Temmes Computer aus. Das Team befragte auch selbst Zeugen und nahm Vermessungen vor Ort vor. Anhand des Materials baute das Team im März in Berlin ein detailgetreues Modell des Internetcafés nach und spielte diverse Szenarien durch, um den Nachmittag möglichst genau nachzuzeichnen.

 

Die Spezialisten konzentrierten sich bei ihrer Arbeit auf folgende Fragen: Konnte Temme die Leiche hinter dem Empfangstresen sehen, als er dort eine 50-Cent-Münze hinterlegte? Ist es möglich, dass Temme im hinteren Teil des Internetcafés keinen Schuss gehört hat? Weiter sind sich die Forscher sicher, dass der Schuss einer Waffe – im Fall der NSU-Morde eine Česká 83 – in geschlossenen Räumen einen scharfen Schießpulvergeruch hinterlässt. Kann es also möglich sein, dass Temme auch diesen nicht wahrnahm? Zumal er gegenüber der Polizei aussagte, er kenne sich mit Waffen aus und könne den Geruch verbrannten Schießpulvers erkennen.

 

Ihre vorläufigen Ergebnisse präsentierten die Forscher am Nachmittag auf einer Pressekonferenz in Kassel. Sie kamen zu dem Schluss, dass Temme den am Boden liegenden Yozgat gesehen haben muss: Anhand des Videos simulierte eine Testperson, ausgestattet mit einer Go-Pro-Kamera, Temmes Bewegungen – insbesondere des Kopfes. Im Anschluss errechneten die Wissenschaftler mit einer Bewegungssoftware seinen jeweiligen Blickwinkel. Die Ergebnisse zeigen, dass Temme Yozgat in dem Moment gesehen haben muss, als er die Münze auf den Empfangstresen legte.

 

Die Auswertung der olfaktorischen Experimente steht derzeit noch aus, die akustischen indes belasten Temme ebenfalls schwer. Bei dem Modellversuch in Berlin spielten die Forscher die Schüsse einer Česká 83 vom Band ab. Die mit einem Schalldämpfer verwendete Waffe hatte das Team zuvor unter Aufsicht von Ballistikexperten in den USA abgefeuert. In dem nachgebauten Internetcafé war der Schuss der Waffe mit mindestens 83 und maximal 86 Dezibel im hinteren Teil des Raumes deutlich zu hören. Zum Vergleich: Ein vorbeifahrender Güterzug in 15 Metern Entfernung sei nach Angaben der Forscher genauso laut. 

 

War Temme überhaupt noch da?


Das Forscherteam weiß, dass es mit seinen Experimenten viele Fragen nicht beantworten kann. Ein Manko bleibt, dass die Fachleute sich bei der Simulation auf die Nachstellung mit der Polizei beziehen, ihre Ergebnisse also nicht zwangsläufig für den Tattag gelten müssen. Vor allem bleibt eine andere Frage weiter offen: Ist es möglich, dass Temme das Café verließ, bevor die NSU-Mörder kamen? Das Zeitfenster für dieses Szenario ist denkbar knapp: Temme loggte sich um 17.01.40 Uhr an seinem Computer aus, ging zum Tresen und hinterlegte das Geld. Yozgats Vater fand seinen Sohn nach Angaben der Ermittler kurz nach 17 Uhr.

 

Es könnte ein äußerst kleines Zeitfenster geblieben sein, in dem Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt von Temme unbemerkt in das Café kommen und Yozgat töten konnten. Die Ermittler hielten das für möglich: Sie hatten errechnet, dass Temme nach dem Ausloggen von seinem Computer bis zum Einsteigen in sein Auto etwa eine Minute gebraucht haben muss. Bliebe die Frage, wo sich Halit Yozgat zu diesem Zeitpunkt aufhielt.

 

Der Fall des ehemaligen Verfassungsschützers bleibt umstritten, die Ergebnisse des Forschungsteams sollen bei der Wahrheitsfindung aber schon in Kürze ihren Beitrag leisten: Geplant ist, dass Gutachter Eyal Weizman am 10. Mai auf Ladung der Nebenklageanwälte im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München aussagen wird. Dann bekommt seine Untersuchung nicht nur eine politische, sondern auch eine juristische Bedeutung.

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