Was die Ossis lesen sollten: »Murmeln, Mumbeln, Flüstertüte – Lexikon der Bewegungssprache«
Von Anja Röhl
Die Bewegung soll ja alles sein, beispielsweise ein lesenswertes Buch: »Murmeln, Mumbeln, Flüstertüte – Lexikon der Bewegungssprache«, herausgegeben von Ines Wallrodt und Niels Seibert. Mich hat es dazu bewegt, es schnell durchzulesen.
Zuerst wollte ich nur kurz mal reinschauen: Aha, das Vorwort verspricht eine Entschlüsselung szenetypischer Begriffe aus »linken Zusammenhängen«. Ich las mich nicht nur fest, sondern begann es von vorn, Seite für Seite, wie ein richtiges Buch, zu lesen. Es hat mich amüsiert. Und schlauer bin ich auch dadurch geworden. Plötzlich war ich mitten drin in einem Geschichtsaufriss meiner politischen Herkunft, in den lockeren, undogmatischen Zusammenhängen, wie sie sich seit Rudi Dutschke und der Kommune I in Westberlin und in Westdeutschland ab Ende der 60er Jahre formiert hatten. Und dann auch in Brokdorf, Gorleben, Wackersdorf bei den Anti-AKW-Protesten, oder im Hüttendorf gegen die Startbahn 18 West oder bei den Antifas, bis zu den Demos gegen die Weltwirtschaftsgipfel. Stets ging und geht es um spontane, direkte und spektakuläre Aktionen nach großangelegten, um Basisdemokratie ringenden Theoriediskussionen, um Bürgerinitiativen, Ankettungsaktionen, Flashmobs.
In diesem Buch wird das ganze große Feld der außerparlamentarischen Bewegung seit 1965 abgesteckt, beschrieben, kontextualisiert und auf sehr witzige Art analysiert. Das ist alles sehr selbstironisch, erhellend, niemals denunzierend und aus einer klaren Sympathie heraus formuliert. Ines Wallrodt ist ND-Redakteurin und Niels Seibert Aktivist, er kommt aus autonomen Gruppen. Sie haben 20 Autoren versammelt, um die »Bewegungssprache« zu erklären – durchaus auf dialektisch-materialistische Art. Wenn es zum Beispiel heißt: »Nichts kann so nervenaufreibend sein wie eine stundenlange, jeden radikalen Reflex einschläfernde Latschdemo...«, wird dem gleich die »Nachttanzdemo« als flotte Alternative gegenübergestellt, die in den frühen nuller Jahren in Frankfurt am Main unter dem Motto »Deutschland den Schlaf rauben« organisiert wurde.
Und immerzu geht es um bewusstes Sprechen. Man erfährt, dass der Begriff »Volksküche« antiquiert sei, weil mit dem Wort »Volk« oft reaktionär hantiert wird. Es heißt nun nicht mehr »Vokü«, sondern »Küfa« (Küche für alle). Bei der Erklärung des Begriffs »radikal« wird sowohl Bezug genommen auf Karl Marx (radikal kommt von Wurzel, und die Wurzel für den Menschen ist der Mensch) als auch auf eine früher einmal in Westberlin berühmte und verbotene Zeitschrift gleichen Namens, deren Macher und Leser verfolgt wurden.
Dieses Lexikon sollte unbedingt von allen Ossis gelesen werden, die den Westen bis 1989 nur aus dem Fernsehen kannten und meinen, alles, was die »Westlinken« erreicht haben, sei Pillepalle, weil doch der Kapitalismus seit der Übernahme der DDR gesiegt habe. Das ist viel zu unbeweglich gedacht. In »Murmeln, Mumbeln, Flüstertüte« geht es um freie politische Aktionen, um den Kampf gegen die Ohnmacht. In diesem Buch schreiben übrigens Autorinnen und Autoren der Jahrgänge 1962 bis 1989.
Ines Wallrodt, Niels Seibert (Hg.): Murmeln, Mumbeln, Flüstertüte. Unrast, Münster 2016, 128 S., 9,80 Euro
Bewegungssprache: So redet das wirklich linke Deutschland
Begriffe wie Flüstertüte oder Hasskappe kennen alle. Denn wir leben ja, laut AfD, im "links-rot-grün versifften 68er-Deutschland". Aber was heißt hönkeln oder FLTI*? Fachleute klären uns jetzt auf.
Die Linke spricht auch nicht mehr, wie sie mal war. Der Ausdruck Dritte Welt beispielsweise ist längst tabu. Noch um 1980 gab es in fast jeder westdeutschen Stadt einen Dritte-Welt-Laden, in dem man Nicaragua-Kaffee kaufen und sich über die unfairen Handelspraktiken des Kapitalismus informieren konnte. Heute wird die Bezeichung abgelehnt als Ausdruck des Hochmuts jener Welt, die sich als die Erste empfindet. Und das nahezu gleichbedeutende Wort Trikont (ein Portmanteauwort für die drei Kontinente Afrika, Asien, Lateinamerika) existiert nur noch als Name einer auf Weltmusik spezialisierten Schallplattenfirma, die 1967 gegründet wurde.
Für Linke gehört Australien zum Globalen Norden
Statt von Dritter Welt und Trikont spricht man nun vom Globalen Süden, obwohl auch dieser Ausdruck nicht unproblematisch ist – Australien beispielsweise wird als Teil des kapitalistischen Westens eher dem Globalen Norden zugerechnet. Solche interessanten Details erfährt man aus dem "Lexikon der Bewegungssprache", das die "Neues Deutschland"-Redakteure Ines Wallrodt und Niels Seibert jetzt veröffentlicht haben.
Im besten Falle sind die darin versammelten Wortartikel von 20 Autoren kleine Begriffsgeschichten, die auch für Leser jenseits der linken Zusammenhänge (ein fast nur im Plural benutztes Wort, das Freundeskreis, Familie, WG, Kampfgefährten usw. bezeichnet) interessant sind. So erinnert der Verfasser des Eintrags zu Globaler Süden daran, dass der Theoretiker Frantz Fanon 1961 in seinem postkolonialen Klassiker "Die Verdammten dieser Erde" die Dritte Welt als das rote Utopia definierte, von dem aus tatsächlich mal die Weltrevolution ausgehen sollte. Den im Nachkriegskonsum erschlafften Arbeitern des Westens traute man es schon nicht mehr zu. Personifiziert wird diese Vision durch die beiden Müllmänner aus Nordafrika und dem Kongo, die in Jean-Luc Godards Film "Weekend" ein reiches weißes Paar für sich arbeiten lassen.
"Murmeln, mumbeln, Flüstertüte" ist der Titel des Buches, und allein diese drei Wörter spannen schon einen Bogen durch mehrere Jahrzehnte linker Geschichte in Deutschland. Flüstertüte als Synonym für ein Megafon gibt es schon seit den Sechzigerjahren, das Wort kennen also auch Leute, die damals beim Anblick von Rudi Dutschke dachten: "Jetzt schicken Sie schon die Kinder!" Die Murmelrunde dagegen ist Ausdruck jüngerer Kritik an zu Dutschkes Zeiten noch gängigen hierarchischen Kommunikationsformen, bei denen einer oben predigt und unten alle bloß anderen zuhören. Es handelt sich um eine kurze Kleingruppendiskussion, zu der während großer Versammlungen aufgerufen wird, damit wirklich alle die Chance bekommen, ihre Meinung zu äußern.
Hasskappe ist schon sprachliches Allgemeingut
Wenn ein solches Plenum oder eine Asamblea gar nicht mehr die physische Anwesenheit der Teilnehmer erfordert, sich gar Aktivisten aus mehreren Ländern oder Kontinenten austauschen wollen, dann wird gemumbelt. Das Wort ist eine Verb-Ableitung aus dem Namen der Sprachsoftware Mumble, die bei solchen Konferenzen zum Einsatz kommt und abhörsicherer als Handys ist.
Die ältesten Wörter im Lexikon erkennt man in der Regel daran, dass sie längst in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind – beispielsweise Hasskappe für die zur Vermummung entfremdete Motorradmaske, Gentrifizierung und Quotierung – oder nie allein von Linken benutzt worden wie eben Flüstertüte, Wanne (Mannschaftswagen der Polizei), filzen und Bulle.
Jüngere Ausdrücke haben, sofern sie sich nicht auf digitale Technik oder Internetphänomene wie den Flashmob beziehen, oft mit Politik zu tun, die den heteronormativen Herrschaftskonsens infrage stellen: Gender Gap, Queerfeminismus oder FLTI*. Letzteres Akronym wird erklärt: "Eine aktuelle Selbstbeschreibung der gegen Unterdrückung kämpfenden Geschlechter. Also Frauen. Und Frauen, die mit Frauen schlafen: Lesben. Und dann noch die Frauen, die keine Vagina habe – plus die Männer mit Vagina. Transgender eben. Und dann noch die, die sich zwischen den Geschlechtern verorten: Intersexuelle. Und die Sternchen* Das sind Proletarierinnen, Frauen diverser Hautfarben, Frauen mit Behinderung und alle weiteren denkbaren Geschlechteridentitäten." Also fast alles, was Facebook seit eineinhalb Jahren bei der Geschlechterauswahl zulässt.
Außer Cis-Männern: "Die sind quasi das Gegenteil von FLTI*." Gemeint ist jene Spezies, die außerhalb der Bewegung noch Heteromann genannt wird. "Zwischen FLTI* und Cis-Männern befindet sich der tiefe Graben gesellschaftlicher Ungleichheit."
Wie in jeder Fachsprache überschreitet auch im Jargon der "Bewegung" der Differenzierungsdrang gelegentlich die Grenze zur Selbstparodie. In den besseren Artikeln haben die Autoren wenigstens den Hauch einer Ahnung davon.
Das Böse sind Cis-Männer
Aus manchen anderen weht einen der Geist eines von keinerlei Zweifeln angekränkelten Dogmatismus mit einer so heftigen Windstärke entgegen, dass man sich plötzlich wieder erinnert: Alle Artikel stammen von "Neues Deutschland"-Mitarbeitern (zwischendurch vergisst man es manchmal). Dann ist der Sound weniger der eines Wörterbuchs als der eines Katechismus, der dem Gläubigen in unzähligen didaktischen Variationen einbläut, wo das Böse in seinen vielen Gestalten erscheint: in Form von Cis-Männern, Polizei, Eurozentrismus und natürlich der Springerpresse.
Dennoch steckt in dem Buch jenseits des semantischen Aspekts auch eine für Nichtbewegungsfromme interessante Geschichte der jüngeren Linken. Unter dem Stichwort Zürich 1980 wird an eine Geburtsstunde der Autonomen erinnert: die sogenannten Opernhauskrawalle, die ausbrachen, als die Stadt Zürich einerseits kein autonomes Jugendzentrum finanzieren wollte, andererseits Millionen für die Oper bewilligte. Gelöbnix erinnert an die Proteste gegen öffentliche Bundeswehrgelöbnisse in den Neunzigern, die Bundeskanzler Gerhard Schröder zu unpassenden Bemerkungen über nackte Demonstrantinnen inspirierten. Mit Seattle, Genua und Heiligendamm haben Orte, an denen große globalisierungs- und kapitalismuskritische Proteste stattfanden, eigene Stichwörter bekommen. Und geradezu wehmütig wird man als Leser beim Artikel Schnippellayout, der an die Flugis der Vor-Desktop-Zeit erinnert, bei denen meist als presserechtlich Verantwortliche Träger von Fantasienamen wie "Reni Tenz" angegeben wurden. In meiner Heimatstadt war es in Achtzigerjahren immer "August Merges", der Name eines kommunistischen Schneiders und Führers der Braunschweiger Revolution 1918.
Andere Passagen erzählen von der traurigen Enteignung der Linken: Den Slogan A.C.A.B (All Cops are Bastards) aus den punkigen Siebzigerjahren sieht man heute genauso oft bei Nazis, die sich ja bekanntlich auch Begriffe wie autonom oder alternativ sowie die ganze Hasskappenästhetik der Antifa angeeignet haben. Nicht zuletzt deshalb gibt es heute Postautonome. Lautis, die laut Wörterbuch sogenannten Lautsprecherwagen, sind möglicherweise wirklich "die Seele jeder Demonstration" – aber sie beseelen eben auch NPD-Aufmärsche.
Als Zivilpolizisten den Hönkel erfanden
Manchmal hat allerdings auch die Linke Begriffe der Polizei übernommen und ins Positive gewendet: So soll das Wort Hönkel als Bezeichnung für Plünderer, die nicht bis zur endgültigen revolutionären Umverteilung warten wollen und spontan "nach Ladenschluss einkaufen", zunächst von Zivilbeamten der Polizei beim Revolutionären 1. Mai in Kreuzberg verwendet worden sein. Daraus hat sich dann das Verb hönkeln entwickelt. "Hönkel mag es heute noch geben, nur der Begriff, der hat die Zeiten nicht überlebt", heißt es. Als Leser ist man aber dankbar zu erfahren, dass es ihn mal gegeben hat und was er einst bedeutete. Die Unterstützung marginalisierter Wörter ist ja ebenfalls ein kleines linkes Projekt.
Ines Wallrodt, Niels Seibert (Herausgeber): "Murmeln, mumbeln, Flüstertüte. Lexikon der Bewegungssprache", Unrast-Verlag, 128 Seiten, 9,80 Euro.