Frankreich erlebt gerade den Beginn einer sozialen Massenbewegung. Diese hat das Potential eine soziale Alternative jenseits von Rechtsruck, Autoritarismus, Rassismus und kapitalistischer Ausbeutung darzustellen. Der Fortgang ist noch ungewiss. Aber diese Bewegung geht uns etwas an. Ihre Protagonist*innen sind Betroffene wie wir, von Repression, Ausbeutung, Rassismus, staatlicher Kontrolle etc. Sie sind nur ein paar Stunden entfernt. Und sie kämpfen. Den vorläufigen Höhepunkt wird der 31. März darstellen. Dies soll ein kurzer, skizzenhafter Aufruf zu einer kritisch-solidarischen Auseinandersetzung sein. Und zur Bereitschaft den Funken aufzugreifen.
Gegen ein neues Arbeitsgesetz
Auslöser war der Entwurf zu einem neuen Arbeitsgesetz, das die Ausbeutungsmaschine in Frankreich massiv zuspitzen soll. Die Reaktion ist die erste linke Massenmobilisierung seit 2006. Und sie ist die erste Bewegung unter einer „linken“, „sozialistischen“ Regierung, die Richtung Generalstreik zielt. Wie die SPD unter Schröder in Deutschland, versucht nun die Partie Socialiste (PS) eine zunehmende Neoliberalisierung zu verankern. Vorgeblich geht es der Regierung um das Sinken von Arbeitslosigkeit. Die existenzielle Abhängigkeit von Lohnarbeit soll im sich verschärfenden Widerspruch von Kapital und Arbeit und der globalen Konkurrenz um Ausbeutungsplätze damit im Sinne der Arbeitgeber*innen fortgeschrieben werden.
Ausweitung der Kämpfe
Von Beginn an werden die Mobilisierungen von einer Dynamik geprägt, die die thematische Eingrenzung auf das Arbeitsgesetz verlassen will. Es gibt starke Tendenzen, die Kritik am Arbeitsgesetz in Richtung eines allgemeinen Antikapitalismus und Antiautoritarismus zu radikalisieren. So fließen nicht nur Mobilisierungen gegen den Ausnahmezustand in die Bewegung ein, sondern auch die antirassistischen Kämpfe von Sans-Papiers und ihren Supporter*innen. Diesen Tendenzen stehen der Korporatismus der größten Gewerkschaft, der CGT, und die teilweise politische Unerfahrenheit vieler beteiligter Jugendlicher gegenüber. Aber die antagonistischen Positionen, Forderungen und Praxen sind bereits jetzt ein wichtiges Element der Bewegung.
Bewegungspraxis
Seit Anfang März, erster Mobi-Tag war der 9.3., entsteht dadurch in Frankreich eine Bewegung, die das Potential hat eine soziale Alternative zu den kapitalistischen Angriffen auf die Lebensbedingungen, den hegemonialen Reflexen rassistischer Abschottung und dem zunehmenden staatlichen Autoritarismus zu geben. Zentrale Daten sind die Donnerstage, an denen landesweit Demonstrationen stattfinden. Am 9. März gingen über 100.000 Leute auf die Straßen, an den Folgedonnerstagen sank die Zahl, da die großen Gewerkschaften ihre Mobilisierung erst am 31. fortsetzen. In der Zwischenzeit wurde die Bewegung vor allem durch selbstorganisierte Schüler*innen, Studis und diversen Polit-Szenen weitergetragen. Diese Bewegung drückt sich in Form zahlreicher Besetzungen (Schulen, Unis, Gewerkschaftsgebäude) und Blockaden (Autobahnen, Bahnhöfe) aus, sie bringt massenhaft wilde Demos auf die Straße und wird verstärkt von direkten Aktionen und entschlossener Selbstverteidigung gegen Bullen und die Gewerkschaft CGT, die gegenüber sozialen Bewegungen gerne polizeiliche Funktionen übernimmt. Sie organisiert sich in fast täglichen Vollversammlungen, in denen versucht wird sich über soziale Abgrenzungen (Schülis, Studis, Arbeiter*innen …) hinweg gemeinsam zu koordinieren. Sie ist räumlich nicht beschränkt, sie findet in Paris statt, aber nicht nur dort. Die letzte Bewegung 2006 endete in dem Erfolg, das geplante Gesetz zur Prekarisierung Erstangestellter (CPE) verhindert zu haben. Die Regierung gab damals schlicht bekannt, dass sie dem Protestdruck nachgibt. Die Nahperspektive dieser Bewegung ist also die vollständige Verhinderung des Arbetisgesetzes (El-Khomri-Gesetz, benannt nach der zuständigen Ministerin). Die Folgeschritte nach dem 31. März sind klar, die Mobilisierungen werden nicht nachlassen. Sie werden von der Repression und der kollaboratistischen CGT limitiert oder sie werden sich derart ausweiten, dass die Regierung darauf reagieren muss. Wie es dann weiter geht, ist natürlich offen. Die nächsten Donnerstage werden bereits angedacht.
Anknüpfungspunkte
Dass ein Arbeitsgesetz als Reaktion rebellierende Schüler*innen hervor ruft, die Barrikaden bauen und Polizeikommissariate angreifen, wirkt hierzulande erstmal bizarr. In Frankreich selbst steht diese aktive solidarische Praxis mit anderen Kämpfenden und die Antizipation der eigenen Betroffenheit in einer Tradition linker, sozialer Bewegungen, die es in Deutschland so nicht gibt. Zunächst ist zu konstatieren, dass eine internationale bzw. transnationale Bewegungspraxis, die Deutschland mit den südeuropäischen Ländern verknüpft, abgesehen von einzelnen Events nicht existiert. Ein gemeinsames Bewusstsein ist ebenso wenig vorhanden wie eine gemeinsame Koordinierung. M31, N14 oder Blockupy haben daran nur wenig geändert. Die theoretischen Begründungen dieser Aktionstage wären allerdings auch hier in Erinnerung zu rufen. Es gilt die politische Vorstellung einer linken sozialen Bewegung auch angesichts von rechten Regierungen und rassistischem Volksmob lebendig zu halten.
Konkrete Infos findet ihr u.a. unter:
https://linksunten.indymedia.org/user/3092/blog (hier auch mit Videos, Bilder und Textquellen)
und auf französisch über die autonomen Infoseiten der jeweiligen Städte, z.B.
paris-luttes.info (Paris)
mars-infos.org (Marseille)
iaata.info (Toulouse)
grenoble.indymedia.org (Grenoble)
...
Vor dem 31.03.
Ja, morgen dürfte ein entscheidender Tag in Frankreich werden....Gelingt es der Bewegung sich auszuweiten? Für über 200 Städte sind Demos und Kundgebungen geplant, dass bedeutet auf jeden Fall schon einmal eine Zunahme. An den besetzten Unis sind die Versammlungen heute sehr gut besucht, anderseits sind bisher keine neue Besetzungen hinzugekommen. In Paris bleiben morgen zwanzig Oberschulen auf Anordnung der Direktoren geschlossen, darunter natürliche einige, die von sich haben reden machen während der vergangenen Aktionstage.
Die geplanten "Nuits Rouge", also die Inbesitznahme von öffentlichen Plätzen am Abend, um die Aktionen über den 31. März hinaus auszuweiten, sind mittlerweile für die grösseren Städte fix. Streiks wird es auf jeden Fall im Eisenbahnfernverkehr, bei den Pariser Verkehrsbetrieben sowie im Flugverkehr geben, hier wird teilweise das Kabinenpersonal streiken, teilweise wird es an den Flughäfen zu Arbeitniederlegungen kommen.
Hollande ist derzeit angeschlagen, die geplante Verfassungsänderung, mit der Franzosen mit einer doppelten Staatsbürgerschaft die französische hätte aberkennt werden sollen, soweit sie in "terroristische Aktivitäten" verstrickt gewesen wären, ist gescheitern, weil sich die beiden Parlamentskammern nicht auf einen (vorgeschriebenen) gemeinsamen Entwurf einigten konnten. Damit ist auch (vorerst) der Plan gescheitert, den Ausnahmezustand in die Verfassung einzuschreiben. Es bleibt also dabei, dass dieser aufgrund eines Gesetzes, dass während der Unruhen in Algerien Mitte der 50iger beschlossen wurde, verhängt wird.
danke
super text, von vorn bis hinten und querdurch.
hoffentlich ist das morgen nicht der letzte tag, und hoffentlich nehmen sich einige lokale genoss*n in den nächsten wochen die "anknüpfungspunkte" zu herzen, die ihr aufführt.
"diese Bewegung geht uns etwas an"!!
der einsatz der schüler* ist ermutigend. auf den vielen videos sieht man ja, wie sie sich organisieren und wut zeigen. hier noch ein beispiel für einen schönen flyer der gymnasiast*n:
https://mars-infos.org/home/chroot_ml/ml-marseille/ml-marseille/public_h...
alors, luttons!
2010
Die letzte Massenbewegung in Frankreich war 2010 gegen die Rentenreform unter Sarkozy. Damals ging Frankreich fast der Sprit aus, da die Raffinerien bestreikt und blockiert wurden, bevor der Weiterbetrieb durch Polizeigewalt durchgesetzt wurde.