Der Weg der Befreiung aus den mentalen Fesseln des Systems

Dilsoz

Eine Erinnerung an Heval Dilsoz Bahar/Kevin Jochim: Der Weg der Befreiung aus den mentalen Fesseln des Systems

Ein Brief von Heval Cîhan 15. August 2015


Dilsoz ist gefallen.

 

Es fällt mir schwer, einen Anfang zu finden. Ich muss schreiben, aber die Worte und Gedanken fließen wie flüssiges Blei in meinem Hirn. Dilsoz Heval ist tot.
Keine Fragen, kein Zweifel. Ich horche in mich, aber da ist nichts außer einer Lücke, traurige Leere.

 

Wann, wo und wie ist irrelevant. Mein Freund Dilsoz hat sein Leben aus der Hand gegeben, wie er es immer angepackt hat, radikal, mutig und bis zum letzten Atemzug konsequent, das steht außer Frage.

 

Das letzte Mal sahen wir uns in Girê Spî (Til Abyad)1. Ich war mit meiner Gruppe Ausländer zu seinem Tabur [Bataillon] gestoßen, gemeinsam eroberten wir die zerstörte Brücke unterhalb des weißen Hügels, setzten als erste YPG-Einheit einen Fuß in die berüchtigte Da‘ish2-Hochburg. Heval Dilsoz hatte seit seiner Ankunft in Rojava einiges zu verdauen, hätte eine Pause verdient gehabt und gebrauchen können, aber sich in dieser Zeit von der Front zurückzuziehen erschien ihm wie Opportunismus, Verrat. Und so machte er weiter, überwand sich und alle Schwierigkeiten.

 

Einige Male schlug ich nach unserem Wiedersehen bei Freunden oben vor, ihn zu mir zu schicken, das letzte Mal vor nicht mal einer Woche. Da erfuhr ich auch, dass sein Tabur nach Heseke geschickt worden war.

 

Heval Dilsoz und ich lernten uns 2012 in Deutschland kennen, beim langen Marsch der kurdischen Jugend von Straßburg nach Mannheim. Über Indymedia hatte er den Marsch verfolgt, und als wir seine Heimatstadt Karlsruhe passierten, schloss er sich uns an. Ohne die PKK wirklich zu kennen, ließ er sich von seinem revolutionären Gefühl internationaler Solidarität leiten, und obwohl er sich damals als Marxist-Leninist verstand, zeigte er aufgeschlossenes Interesse am neuen Paradigma der kurdischen Freiheitsbewegung. Während ich keine zwei Wochen nach dem Marsch in die Berge ging, lernte Heval Dilsoz weiter die Bewegung in Deutschland kennen, beteiligte sich vor allem im Süden, aber auch im europäischen Ausland an Aktionen, zuletzt am großen Hungerstreik im Herbst 2012.

 

Der Duft der Revolution lag in der Luft, als Heval Dilsoz, damals unter dem Namen Kato, sein Versprechen gab3, und wenn ich mich nicht irre, kam er im November 2012 im Kandil4 an, zuerst im Camp der Ciwanên5. Es war Anfang Dezember, ich hatte gerade die Bildung bei den Şervanên Nû6 abgeschlossen und verblieb bei den Kommandanten, als Heval Dilsoz zur Grundausbildung kam. Eigentlich lernten wir uns erst da, im Winter 2012/2013 richtig kennen: zwei deutsche Arbeiterkinder im Herzen Kurdistans mit dem Ziel, Militante der PKK zu werden, noch ohne Sprachkenntnis oder viel Wissen über Land und Kultur, aber mit revolutionären Idealen und Entschlossenheit, allen auftauchenden Schwierigkeiten zu trotzen.

 

Die Zeit bei Şervanên Nû war für Heval Dilsoz eine große Herausforderung: In seiner Ausbildungseinheit waren vor allem junge Kurden aus dem Osten, die die Partei und ihr Leben, ihre Ideologie und Werte noch nicht kannten – der Austritt aus dem System und der Anschluss an eine kollektive und demokratische Bewegung, die die unterschiedlichsten Kulturen, Sprachen, Religionen und Klassen vereint, bereitete vielen Freunden am Anfang »Übergangsschwierigkeiten«. Dazu kamen Verständigungsprobleme, die Möglichkeit zur Übersetzung meistens Fehlanzeige. Dass sich einige der Auszubildenden als Provokateure und Agenten Irans erwiesen, die bewusst Chaos stifteten und versuchten, aus der Gesellschaft mitgebrachte Widersprüche zwischen den Freunden zu verschärfen, stellte alle Freunde auf die Probe. Heval Dilsoz nahm all diese Hürden und wurde zu einem Vorbild in Leben, Arbeit und Ausbildung. Am auffälligsten waren seine schnellen Fortschritte in der kurdischen Sprache, sowohl in Kurmancî als auch in Soranî. Erreichen konnte er dies durch Lerneifer und den Willen, alles zu verstehen und sich in allen Lebensbereichen zu beteiligen, nie blieb er passiv oder verhielt sich liberal. Falsche Annäherungen kritisierte er ohne Angst oder Hintergedanken, obwohl noch neu, versuchte er stets das von ihm Verstandene mit allen Freunden zu teilen, Arroganz oder auf andere herabsehen waren ihm fremd. Offen und mit großem Interesse begegnete er allen Menschen und sammelte so in kürzester Zeit viel Wissen über Land und Kultur – während einige Freunde im Kopf Grenzen »ihres« Landesteils nicht überwanden, war es Heval Dilsoz, der immer wieder die Einheit Kurdistans in Erinnerung rief und die durch feindliche Besatzung geschaffenen Spaltungen im kurdischen Volk anprangerte. Dass einige Freunde stur an ihrer vom Feind geschaffenen Persönlichkeit und deren egoistischen, feudalen Besonderheiten festhielten, machte ihn wütend – seine idealistische Sicht auf den Menschen und besonders die Menschen, die der Revolution beitreten wollten, ließ ihn manchmal ziemlich emotional reagieren, noch fehlte es ihm an Erfahrung und Geduld. In solchen Momenten der Enge redeten wir oft stundenlang miteinander draußen in der Winterkälte, rauchten päckchenweise Business Royal im überdachten Kellergang, um nicht ins Visier der ständig über uns kreisenden Predator-Drohne zu geraten. Oft waren es sehr ernste Gespräche über Revolution und Krieg, über unsere Rolle als internationalistischer Kader und unseren Beitritt, d. h. wie wir teilnehmen und was wir noch verbessern müssen. Wir analysierten, kritisierten und reflektierten unsere Geschichte und Persönlichkeit, versuchten gemeinsame Schritte auf dem Weg zu Militanten der PKK zu gehen. Anstatt den Schwerpunkt auf außen zu legen, wenn es z. B. um Probleme mit Freunden ging, versuchten wir die Basis von Problemen in uns selbst zu lösen. Genauso wie wir ernst diskutierten, verfielen wir manchmal auch einfach ins Labern, Anekdoten von früher Erzählen usw., Heval Dilsoz und ich kamen aus ähnlichen Verhältnissen und hatten lange Zeit im selben politischen Milieu mit demselben Lebensstil gelebt – oft ging es um die linke Szene in Deutschland, jugendliche Aktionen und Geschichten, die das Leben schreibt; wir haben sehr viel und sehr herzhaft miteinander gelacht.

 

Nach dem Newroz-Fest 2013 stand meine Versetzung zur Debatte, und auch die Grundausbildung von Heval Dilsoz näherte sich ihrem Ende. Er schwankte zwischen dem Wunsch, in Europa zu arbeiten, und dem militärischen Bereich, den Volksverteidigungskräften HPG. Trotz seiner wirklich schwierigen Grundausbildung entschied sich Heval Dilsoz für die HPG, wollte aber zuerst seine Sprachfähigkeiten verbessern. Die folgende Ausbildung am Sprachinstitut im Kandil erwies sich als goldrichtig – innerhalb von vier Monaten steigerte er sein Kurdisch-Level in erstaunlichem Maße. Lesen, Schreiben, Sprechen und Verstehen auf akademischem Niveau, Heval Dilsoz trieb mit seinem guten Kurdisch vielen Freunden die Schamesröte ins Gesicht und wurde damit zu Vorbild und Ansporn für alle, sich in ihre Muttersprache zu vertiefen. Mit seinem dunklen Teint und guten Kurdisch bemerkten manche gar nicht, dass er kein Kurde, sondern Deutscher mit afrikanisch-amerikanischen Wurzeln war, und das nach ungefähr einem Jahr in Kurdistan.

 

Nach der Sprachausbildung ging Heval Dilsoz auf Şehîd Munzur7 in die Praxis der HPG. Ein rundes Jahr arbeitete und kämpfte er im wohl schwierigsten Gebiet Kandils auf mehr als 3 500 m Höhe. Mit großer Opfer- und Verantwortungsbereitschaft widerstand er sowohl den Widrigkeiten der Natur als auch den Versuchen des iranischen Regimes, die strategischen Gipfel unter Kontrolle zu bringen. Heval Dilsoz überwand mit großer Willenskraft psychische und physische Grenzen, wurde mit seinen konsequenten moralischen Maßstäben und seiner organisatorischen Haltung zum Beispiel und spielte in der Ausbildung seiner Freunde sowohl bei ideologischen als auch militärischen Themen eine Vorreiterrolle.

 

Im Sommer 2014 sahen wir uns wieder. Ich hatte einiges im Kandil zu erledigen, und das gab uns die Zeit zu ausführlichen Gesprächen. Seit unserem Winter bei Şervanên Nû war mehr als ein Jahr vergangen, wir hatten beide viele Erfahrungen gemacht, an verschiedenen Orten praktische Arbeit geleistet und uns natürlich weiterentwickelt. Wir waren keine jungen deutschen Linken mehr, sondern waren zu Gerîlas geworden. Das spiegelt sich natürlich in Niveau, Art und Themen unserer Gespräche wider. Deutschland und das Leben im System waren weit weggerückt, wir mussten uns sogar immer wieder gegenseitig ermahnen, deutsch und nicht kurdisch zu reden. Unsere Diskussionen hatten die politischen Entwicklungen in Kurdistan und dem Mittleren Osten ... [eine Zeile ist unleserlich] ... diese Gespräche im Verlaufe des Abends philosophischen Charakter an: Freiheit, Liebe, Gerechtigkeit, Wahrheit, das richtige Leben, Religion und Gesellschaft; die ständige Bildung der PKK auf Grundlage des Denkens von Serokatî hatte uns zu einer neuen Sicht der Welt verholfen. Die PKK hatte uns den Weg der Befreiung aus den mentalen Fesseln des Systems gezeigt und uns das nötige Selbstvertrauen gegeben, diesen Weg zu beschreiten, aber gehen mussten wir ihn selbst. Was in dieser Bewegung wirklich zählt (und gleichzeitig Geheimnis ihres Erfolges ist), ist deine Praxis, d. h. dein alltägliches Leben und deine Arbeit: Wie sehr du die Werte der Revolution verinnerlicht hast und lebst, zeigt die Stufe deines ideologischen Verständnisses und ist die Basis des Erfolges in allen Arbeiten. Heval Dilsoz näherte sich in diesem Sinne immer selbstkritisch seiner eigenen Praxis an und betonte die Bedeutung des Aufbaus der militanten Persönlichkeit, die Überwindung von aus dem System mitgebrachten negativen Charaktereigenschaften und Einstellungen. Denn so sehr Deutschland auch aus unserem Bewusstsein rückte, waren wir doch in diesem Land aufgewachsen und sozialisiert worden, und das hatte maßgeblichen Einfluss auf unsere Persönlichkeit gehabt, im Guten wie im Schlechten. Zu dieser Zeit gab es auch Treffen mit anderen europäischen Internationalisten und breit geführte Diskussionen über deren Rolle in der kurdischen Revolution. Heval Dilsoz nahm in diesen Diskussionen immer eine offene und verständnisvolle Position ein – er fand politische, soziale und diplomatische Arbeit in Europa wichtig, war jedoch persönlich entschlossen, seinen Weg in der Gerîla, in militärischen Arbeiten fortzusetzen; seine Perspektive war der Gerîla-Kampf gegen das iranische Regime in Ostkurdistan.

 

Es muss Ende Herbst 2014 gewesen sein, als die Freunde Heval Dilsoz die Verantwortung für »Arteş« übergaben. »Arteş« war eine der koordinierten Funkstationen im Kandil, über die die Verbindung zwischen den verschiedenen Einheiten, Einrichtungen und Punkten hergestellt wurde, eine wichtige Arbeit, die sowohl sehr gute Sprachkenntnisse als auch Verbundenheit mit den Linien der Partei verlangte. Mit Zuverlässigkeit und Disziplin widmete sich Heval Dilsoz seinen Aufgaben und leistete eine gute Arbeit, und oft überraschte er die Freunde mit dem Gebrauch kurdischer anstatt jahrelang üblicher türkischer Begriffe. Gleichzeitig mit der Arbeit am Funkgerät übernahm Heval Dilsoz in diesem Winter das erste Mal die Verantwortung über eine Einheit als Kommandant, auch wenn er schon vorher praktisch immer eine Vorreiterrolle eingenommen hatte.

 

Es war eine große Freude für mich, als ich im neuen Jahr 2015, es muss im Februar oder März gewesen sein, hörte, dass Heval Dilsoz mit einem beweglichen Tabur Kandil in Richtung Rojava verlassen hatte. Seit unserem gemeinsamen Winter bei Şervanên Nû waren zwei Jahre vergangen, zwei Jahre, in denen wir an unterschiedlichen Orten zwar, aber immer mit mehr oder weniger Verbindung zueinander dafür gekämpft hatten, als internationalistische Freunde an militärischen Arbeiten in den Gebieten der Praxis, d. h. am Krieg aktiv teilzunehmen. Und es gab auch viele gute Gründe dafür, Heval Dilsoz nicht in den Krieg, sondern in andere Bereiche wie politische, diplomatische oder ideologische Arbeit zu schicken, allein sein außergewöhnliches Sprachtalent hätte dafür gesprochen. Doch Heval Dilsoz wollte nie akzeptieren, dass es wieder nur Menschen aus dem Mittleren Osten sein sollten, die ihr Leben im Kampf für die gesamte Menschheit riskierten. Mit seiner starken Freundschaft, seinem festen Willen und konsequent gelebten ethischen Maßstäben bewies er sich als ernsthafter Militanter und erwarb sich so das Vertrauen aller Freunde, dass er auch unter den schwierigsten Umständen seine Rolle als Revolutionär spielen würde.

 

Angekommen in Rojava beteiligte sich Heval Dilsoz u. a. als Kommandant einer Einheit freiwilliger Ausländer am Krieg gegen Da‘ish im Kanton Cizîrê. Er kämpfte von Til Hemis bis Til Abyad in allen großen Operationen seit Frühling 2013 mit großer Opferbereitschaft, Entschlossenheit und Zähigkeit stets in den vordersten Frontlinien gegen einen barbarischen und erbarmungslosen Feind.

 

Heval Dilsoz verlor zusammen mit fünf weiteren Freunden sein Leben am 6. Juli 2015 in einem Dorf 30 km südlich von Til Abyad bei einem frühmorgendlichen Überraschungsangriff des Feindes.

 

16. August 2015

Manche kurdischen Ausdrücke lassen sich zwar in die deutsche Sprache übersetzen, verlieren aber dabei an Farbe und Tiefe, oder rücken durch kulturelle und historische Unterschiede bedingt in einen anderen Bedeutungszusammenhang. Das Wort »Şehîd« ist ein solcher Ausdruck. »Märtyrer« ist die offizielle Übersetzung, die im Deutschen aber einen rein religiösen Hintergrund hat. Es ließe sich auch der Begriff »Gefallener« benutzen, doch dabei würden wir durch die Passivität des Ausdrucks dem eigentlichen Inhalt nicht gerecht. Die Şehîds der kurdischen Befreiungsbewegung sind nicht einfach im Kampf gefallen, sondern haben sich mit einem radikalen politischen Bewusstsein für den Erhalt der Menschlichkeit an sich geopfert.

 

Wasserwerk Al-Fatsch, 30 km südlich von Til Abyad an der Ostgrenze des Kantons Kobanê, 23. August 2015



 

Fußnoten:


1 Das durch die syrisch-türkische Staatsgrenze abgetrennte Pendant zu der auf türkischer Seite liegenden Grenzstadt Akçakale (kurd.: Kaniya Xezalan; früher zusammen als Tell Abyad eine einzige Stadt) wurde im Juni 2015 vom Bündnis Burkan al-Firat und den Frauen- und Volksverteidigungseinheiten YPJ/YPG vom IS befreit. Strategische Auswirkungen waren zum einen die direkte Verbindung der beiden zur Demokratischen Autonomie des syrisch-kurdischen Rojava gehörenden Kantone Kobanê und Cizîrê, zum anderen die Unterbrechung des bisherigen Nachschubweges des IS aus der Türkei in das syrische IS-Zentrum ar-Raqqa.

2 vom arabischen Namen abgeleitete Bezeichnung für den IS

3 sich verbindlich der Bewegung anschloss

4 Sitz des PKK-Hauptquartiers im nordirakischen Südkurdistan im Dreiländereck zwischen Irak/Iran/Türkei

5 Jugend

6 Neue KämpferInnen

7 Gebiete, Berge bekommen oft den Namen von Freundinnen oder Freunden, die dort gefallen sind.

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