Die Seibert-Prütz/Schilwa-Schulze-Kontroverse über Klassenkampf und Diversity

Auseinandersetzung ("controversy")

Der Kontext der 2011er Debatte über Klassenkampf und Diversity - Vor ziemlich genau vier Jahren veröffentliche die damalige Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg ihr Na endlich!-Papier. Darin schlug sie Bildung einer „neuen antikapitalistischen Organisation“ vor. Daraus ist (bisher) nicht so wirklich etwas geworden:

Zwar beschloss 2013/14 die eine Hälfte des damaligen Diskussionsprozesses über die Schaffung einer „neuen antikapitalistischen Organisation“ (NaO-Prozess), nun tatsächlich eine NAO zu gründen. Aber dieses Projekte befindet sich – mittlerweile auch nach Ansicht der Beteiligten selbst – in einer schweren Krise.

 

Martin Suchanek von Gruppe Arbeitermacht (GAM) schrieb im vergangenen Sommer: „Die Krise des NaO-Prozesses ist offensichtlich. Wenn es auch sonst wenig Einigkeit geben mag – dass der Prozess schon länger in der Krise ist, darüber gibt es wohl wenig Dissens. Damit ist es mit der Einigkeit auch vorbei.“ (http://www.arbeitermacht.de/ni/ni201/nao.htm)

 

Die andere Fraktion in der NAO ist demgegenüber gerade von der GAM genervt: „Dies hat zu der ungünstigen Situation geführt, dass die Gruppe Arbeitermacht in Berlin schon allein durch ihren prozentualen Mitgliederanteil eine extrem dominante Kraft geworden ist, die auch das öffentliche Auftreten dominiert. Das konterkariert den NaO-Prozess als offenes strömungsübergreifendes Projekt mit einem Fokus auf Pluralität, Austausch und Aufeinanderzubewegen.“ (http://www.rsb4.de/content/view/5542/88/)

 

Gegenüber der Vorstellung von einem „revolutionären Programm“, dessen Inhalte in Form der programmatischen Texte der Liga für die IV. Internationale (zu der die GAM gehört) bereits vorliegen, als Kanon, der noch von allen anderen Linken eingesehen und den Massen mitgesungen werden müsse (*), fordert ein Genosse des Revolutionär-Sozialistischen Bundes (RSB): „Die Offenheit auch gegenüber Ideen, die wir aus unserer eigenen politischen Kultur nicht kennen, die ehrliche Bereitschaft, etwas Neues zu versuchen, die Bereitschaft, über alles zu reden und alles infrage zu stellen (außer über die Notwendigkeit der Abschaffung des Kapitalismus) müssen wir uns bewahren. (http://www.rsb4.de/content/view/5542/88/)

 

Auch Georg Heidel (ebenfalls RSB) schrieb: „Der RSB sprach sich immer – sowohl die Befürworter als auch die Skeptiker des NaO-Prozesses – für einen Bündnis-Charakter der NaO aus und nicht für die Gründung einer neuen Organisation jetzt. Dieser völlig überzogene Anspruch einer Organisationsgründung würgte fatalerweise den Prozess einer politischen Annäherung und eventuellen späteren Neuformierung ab.“

 

Trotz der Krise der NAO als organisatorisches Projekt wurden in den gut zwei Jahren, die der NAO-Gründung vorausgingen, für alle linke Strömungen wichtige Debatten geführt; es gab einen Versuch „politischen Annäherung“; tatsächlich die „Bereitschaft, etwas Neues zu versuchen“.

 

Diese Bereitschaft zeigte sich damals unter anderem in einer Diskussion über Diversity und Klassenkampf im leider nicht mehr existierenden Blog Lafontaines Linke zwischen Thomas Seibert (Interventionistische Linke), Micha Prütz / Micha Schilwa (Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg) und mir selbst.

 

Die Aktualität der damaligen Diskussion

 

Angesichts der interessanten und wichtigen Diskussion unter dem Artikel

 

Den Klassenbegriff diskutieren!

 

https://linksunten.indymedia.org/node/163936/

 

möchte ich die drei vorgenannten Texte aus Lafontaines Linke wieder zugänglich machen:

 

Thomas Seibert kritisierte damals an dem „Na endlich!“-Papier: „in verschämten, bisweilen peinlichen (antipatriarchal Gas geben’), mit Vorbehalten gemilderten, doch in der Sache entschiedenen Schleifen und Wendungen besteht das Papier auf der letztendlichen Unterstellung der Problematiken etwa des Geschlechts oder des Rassismus unter die Konfliktlagen in den ‚direkt mehrwertproduzierenden Sektoren’ und findet es deshalb auch witzig, der Vielfalt der Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen und damit der Kämpfe die der ‚Menschen mit Segelohren’ hinzuzufügen.

 

Darauf antworteten Prütz/Schilwa: „‚Vielfalts-Management’ – das taugt ganz gut auch zur Beschreibung des Postmodernismus und der Seibert’schen Aktivitäten. Da wird – von ‚Klasse’ bis ‚Geschlecht’ – ‚dekonstruiert’ was das Zeug hält und am Ende haben wir alle unterschiedliche ‚Identitäten’ statt unterschiedlicher Interessen, was für Freunde ‚linker Regierungsoptionen’ natürlich praktisch ist“.

 

Und ich selbst schrieb damals: „revolutionäre Politik läßt sich unter heutigen Bedingun­gen nur in doppelter Opposition gegen ‚traditionalistischen’ Klassenreduktionismus und ‚postmodernes’ diversity management wiedergewinnen. Und für eine Wiedergewinnung revolutionärer Politik ist auch nicht hilfreich, Identitäten und Interessen entgegenzuset­zen, wie es Prütz/Schilwa in schlichter Umdrehung bestimmter Varianten des Postmo­dernismus machen.“

 

(*) Vgl.: „Wir versuchen zu diesem Zweck, diese Formation für unser Programm zu gewinnen.“ (http://www.nao-prozess.de/blog/fishermens-friend-eine-antwort-auf-dgs-und-systemcrash/) und dazu die Antwort von systemcrash und mir: „Wir sind so ‚vermessen’, zu sagen: Keine der existierenden revolutionären Gruppen ist bereits die revolutionäre Organisation noch hat eine dieser Organisationen bereits das revolutionäre Programm. (Das Erreichen einer solchen Eindeutigkeit erscheint uns im übrigen überhaupt ziemlich fraglich zu sein.) Dem Mißerfolg der kleinen (subjektiv-)revolutionären Gruppen ist u.E. nicht allein durch eine breitere Formation als gemeinsames Rekrutierungs-Vorfeld abzuhelfen, sondern gerade Selbstverständnis und Programmatik der verschiedenen kleinen revolutionären Gruppen müssen auf den Prüfstand.“ (http://www.nao-prozess.de/blog/panta-rhei-alles-fliesst-ueber-flussfischerei/6/)

 

Die Vielheiten der Kämpfe

 

Zur Organisationsfrage, der Rolle von Parteien und dem Problem des „Bruchs“

 

von Thomas Seibert

 

Auch wenn ich immer mit Linkssozialist_innen kooperiert und deshalb den Beitritt der isl zur IL unterstützt habe, weiß ich doch, dass die Genoss_innen letztlich auf einen ganz anderen Organisierungsprozess aus sind. Linkssozialist_innen aller Couleur wollen „jenseits von Sozialdemokratie und Stalinismus“ eine „revolutionäre Massenorganisation“, deren Modell noch dann von der historischen Arbeiterpartei vorgegeben wird, wenn man aufgeklärter von einer „Bewegungspartei“ spricht. Weil der dann trotz allem wie eh und je zugedacht wird, den Prozess der Transformation von Gesellschaft zu „führen“, muss sie einerseits rrrichtig rrrevolutionär sein und andererseits zugleich aufs Bündnis mit der reformistischen Klassenmehrheit orientieren. Im Effekt sind linkssozialistische Eigengewächse oder die entsprechenden Flügel breiterer Linksparteien deshalb weder Fleisch noch Fisch: nie wirklich in der Lobby, nie wirklich auf der Straße – wenn’s ernst wird, wird abgebogen. Das „na endlich“-Papier arbeitet sich dazu an PRC, NPA und der LINKEN ab: auf so was in der Art, nur besser, soll’s ja rauslaufen.

 

Ich bin da gar nicht dagegen: Eine ordentliche Partei kann hilfreich sein, und eine schlechte Partei (zuletzt PRC, d’accord!) kann schlimme Folgen haben. Und doch ist meine Vorstellung revolutionärer Organisierung eine ganz andere, schon deshalb, weil eine solche auch und gerade neben einer „guten“ Partei ihren eigenen Platz behielte, da sie mit dieser Partei nicht nur nicht um die „führende Rolle“ konkurriert, sondern das Problem der Führung in ganz anderer Weise angeht. Auf den Punkt gebracht: Eine revolutionäre Organisierung zielt nicht auf Repräsentation, sondern schlägt in den Kämpfen praktisch wie theoretisch eine bestimmte Vorgehensweise vor und richtet sich dabei an die, die dieses besondere Vorgehen zu ihrer eigenen Sache machen wollen. Mit „event hopping“ hat das nur dann zu tun, wenn sich nicht deutlich genug mitteilt, dass es dabei um die Selbstermächtigung möglichst vieler in und durch die eigene Aktion geht – zugegeben ein Punkt, in dem die IL noch lernt.

 

Zur Differenz in der Organisierungsfrage gehört, dass das „na endlich“-Papier diese Frage einerseits zu Recht an die „Klassenorientierung“ bindet, dann aber zu Unrecht behauptet, dass die nur vorliegt, wenn am Schema von „Haupt-“ und „Nebenwiderspruch“ festgehalten wird. Um den faulen Zahn kreist die Zunge: in verschämten, bisweilen peinlichen („antipatriarchal Gas geben“), mit Vorbehalten gemilderten, doch in der Sache entschiedenen Schleifen und Wendungen besteht das Papier auf der letztendlichen Unterstellung der Problematiken etwa des Geschlechts oder des Rassismus unter die Konfliktlagen in den „direkt mehrwertproduzierenden Sektoren“ und findet es deshalb auch witzig, der Vielfalt der Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen und damit der Kämpfe die der „Menschen mit Segelohren“ hinzuzufügen. Erläutert wird das u.a. an der Hausarbeit, die in ihrer strategischen Bedeutung zwar anerkannt, doch nach wie vor im „privaten Rahmen“ verortet und deshalb von der (kursiv hervorgehoben!) „gesellschaftlichen Produktion“ getrennt wird – kein Formulierungsmissgriff, sondern ein Symptom: dumm gelaufen, nichts verstanden! Achtung: Es geht hier nicht um strittige Fragen der Sachanalyse, sondern um die analyseleitenden Kategorien des Papiers: die sind eben nicht neutral, sondern waren und bleiben patriarchal entstellt.

 

Weil das „na endlich“-Papier seinen vorgeblich ironisierten, tatsächlich aber ungebrochenen Traditionalismus in zum Teil richtigen Kritiken der „Neuen Sozialen Bewegungen“ plausibel machen will, sei an dieser Stelle noch mal auf den „Multituden“-Begriff verwiesen, der bekanntlich einer Selbstkritik dieser Bewegungen entspringt. Der Begriff soll den der Klasse so ersetzen, dass die in beiden Begriffen gemeinte Subjektivität repolitisiert wird. Deshalb geht’s dabei auch nicht um additive Koalitionen gegen „triple (oder mehr) oppression“, sondern um deren immer erst herzustellenden inneren Zusammenhang. Gelingen kann so verstandene „revolutionäre Einheit“ nur, wenn die Vielheiten der Erfahrungen und Subjektivitäten, also die Vielheiten der Kämpfe und ihre (bleibend!) unterschiedlichen Logiken so aufeinander bezogen werden, dass keiner der beteiligten Terme (Klasse, gender, race, aber auch Herrschaft, Ausbeutung und Subjektivierung, also Disziplin, Norm, Kontrolle, „Mehrheit“ und „Minderheit“, also Widerspruch der Klassen, Fluchten der „Minderheiten“, Ästhetiken der Existenz, Reform, Revolution, Reformation) die anderen auf Dauer dominiert: ein Vorhaben, dass ganz offenbar nur konfliktiv ausgetragen werden kann. Der Kapitalismus bildet dabei insoweit den Horizont, als dessen Dynamik eben nicht nur in der Subsumtion der Arbeit, sondern in der Subsumtion überhaupt des Lebens unter das Kapital ausgemacht wird.

 

Ich weiß, dass da vieles noch zu klären ist: Hier geht’s mir nur erst um den Aufweis, um was und wie zu streiten ist, soll (eine richtige Wendung des Papiers) das „Negationsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft“ neu bestimmt werden. Wer die Einigungs-, das heißt die Organisierungsfrage ernsthaft auf das strategische Problem von notwendig auch in sich konfliktiven Vielheiten von Kämpfen bezieht, wird dann auch nach dem Ereignis fragen müssen: das übrigens so wenig „postmodern“ ist, dass sich eine seiner prägnantesten Bestimmungen bei Hegel findet (*). Um auch hier ein Gespräch erst zu eröffnen: Es geht dabei – nur eben ganz anders – um die Frage des „Bruchs“, die im „na endlich“-Papier zu Recht zu den unumgänglichen Fragen zählt. Soweit fürs erste.

 

(*) „Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, dass unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern in immer fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht – ein qualitativer Sprung – und itzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner vorgehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes: 18f.)

 

Gespiegelt von der damaligen Dritt-Veröffentlichung des Textes bei:

http://www.trend.infopartisan.net/trd7811/t037811.html

 

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Diversity-Management statt Klassenkampf?

 

Eine Wortmeldung aus der Traditionalisten-Ecke / Von Michael Prütz und Michael Schilwa (Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg)

 

Wenn schon der (wahrlich vorsichtige und bescheidene) Versuch, eine Debatte über die Bündelung / (Selbst)organisierung der radikalen Linken in Deutschland anzustoßen und dabei ausgetretenen Pfade zu verlassen (z.B. einen ernsthaften Dialog zwischen „Post-Autonomie“ und „Offenem Marxismus“ wieder zu beleben) beim „Bewegungsphilosophen“ Thomas Seibert zu ganz und gar nicht „diskursiven“, sondern recht rustikalen Reaktionen führt („Da sitzen die, die immer da sitzen. Lasst sie sitzen.“), dann gibt das Anlass zu der Hoffnung, dass wir mit unsere Initiative doch irgendwas richtig gemacht haben.

 

„Diversity-Management statt Klassenkampf“ – so lautete der Junge Welt-Besprechungstitel über eine Veranstaltung mit Tove Soiland zur „Kritik dekonstruktivistischer Gender-Studys“. „Vielfalts-Management“ – das taugt ganz gut auch zur Beschreibung des Postmodernismus und der Seibert’schen Aktivitäten. Da wird – von „Klasse“ bis „Geschlecht“ – „dekonstruiert“ was das Zeug hält und am Ende haben wir alle unterschiedliche „Identitäten“ statt unterschiedlicher Interessen, was für Freunde „linker Regierungsoptionen“ natürlich praktisch ist, wäre so doch bewiesen, dass der altmodische Klassen- oder Geschlechterkampf ersetzt werden muss durch eine moderne und „abgeklärte“ linke Haltung, die „sich im Plural der Sprachspiele, Diskurse, Interpretationen und Lebensformen zurechtgefunden (hat)“ (Klaus Lederer). Wir halten es da lieber mit Ellen Meiksins Wood: Der Postmodernismus „entwaffnet und zersetzt den Widerstand gegen den Kapitalismus“.

 

Wir unterstellen Seibert keineswegs alles, was zum Postmodernismus so dazugehört (vom „Ende der großen Erzählungen“ über gegen-aufklärerischen Irrationalismus und den allgegenwärtigen „Differenz-Kult“ bis zu einem gespenstischen Neo-Nietzscheanismus), dafür haben wir viel zu wenig von ihm gelesen. Aber die zentrale Denkfigur im Gründungsaufruf für das von Seibert mit gegründete Institut Solidarische Moderne (ISM), nämlich die Versöhnung von „Industrie-Moderne“ und „Postmoderne“ zur „Solidarischen Moderne“ geht schon analytisch in die oben angesprochene und aus unserer Sicht falsche Richtung: Die alte „Industrie-Linke“ war zuständig für das Materielle (Erkämpfung „breiten Wohlstands“), die neue postmoderne Linke kümmert sich um das Immaterielle (Erkämpfung „individueller Entfaltungsfreiheit und Selbstbestimmung“). Wen das näher interessiert, den verweisen wir auf unser Papier “Crossover-Welle in Postmodernien – auch der Reformismus erfindet sich immer wieder neu”.

 

„Der dritte Schnitt unter die Oberfläche gilt deshalb dem >Jenseits von Reform und Revolution< selbst. Fasst man dieses in positiver Form, ist es als konfliktives Spiel unterschiedlicher Modi des Politischen zu formalisieren – und zu bejahen: als konfliktives Spiel der Spontaneität, des Kalküls und der Autonomie des Politischen.“ (Thomas Seibert, „Spontaneität, Kalkül und Autonomie. Strategie und Organisationsfragen der Mosaiklinken“) Das ist in seiner gewollten oder ungewollten Unverständlichkeit zunächst mal Herrschaftssprache, eben nicht Aufforderung zur „Selbstermächtigung“, sondern zum Diskurs von „Profi-Philosophen“. Derartigen Ergüssen das Label „Elfenbeinturm“ zu verpassen, wird der Sache aber nicht gerecht. Denn die politischen Ziele des ISM sind weitaus weniger nebulös als etwa Seiberts Versuche „die Krise zu denken“ oder „dem Ereignis aufzulauern“. Seibert ist erkennbar aus auf eine „mosaiklinke“ Arbeitsteilung: Radikale Kapitalismus-Kritik hat durchaus ihre Berechtigung (in der schwersten Legitimationskrise des Kapitalismus seit Jahrzehnten sowieso), ist aber eher was für’s Feuilleton oder die gefühlt 23. Marxismus/Sozialismus/Kommunismus-Konferenz. Richtige „Realpolitik“ machen wir lieber mit Andrea Ypsilanti, Katja Kipping und Sven Giegold. Seibert macht auch gar kein Geheimnis daraus, worum es dem ISM geht. Neben „Debatten“ und „Zivilgesellschaft“ (klar, gehört heute einfach dazu) um „die Herausbildung einer rot-rot-grünen Wahloption“, um „ein Mitte-Links-Regierungsprojekt“ (siehe ak 547). Was wir gar nicht kritisieren. Uns geht’s um das „Segeln unter falscher Flagge“, wir sind dagegen (links)bürgerliche Regierungen (scheinbar) „bewegungslinks“ zu flankieren. Es spricht doch nichts dagegen, alten (sozialdemokratischen) und neuen (postmodernen) Reformismus zu versöhnen, aber bitte ohne dem Projekt „ein radikales Mäntelchen“ (Florian Wilde in ak 548) umzuhängen. Zu unserer Initiative: Die Argumentationsweise mancher Debatten-Kontrahenten (wir gehen davon aus, dass auch Seibert dem Gebrauch dieses „Holzhammers“ nicht wird widerstehen können) erinnert uns an einen köstlichen Titanic-Titel: „Buddhismus bizarr – Kohl droht mit Wiedergeburt“. Also für alle noch mal ganz langsam und zum Mitschreiben: Die Wiedergeburt der K-Gruppen/Avantgarde-Gründerzeit steht nicht auf der Tagesordnung! Gegründet wird erstmal gar nichts, uns geht es darum, mit möglichst vielen anderen auszuloten, ob ein (natürlich schlussendlich auch organisatorisches) Angebot für „Kapitalismus-Abschaffer“ (Angebote für „Kapitalismus-Zähmer“ gibt es ja mehr als genug) heute notwendig, nützlich und möglich ist. Dabei sind wir gar nicht grundsätzlich gegen „Dekonstruktion“. Ein wirklich lohnendes Objekt diesbezüglicher Begierde wäre das deutsche radikal-linke Zirkelwesen, leider eines der widerstandsfähigsten in ganz Europa. Unser (gebetsmühlenartig wiederholtes) Credo für diesen gerade in Gang gekommenen Diskussionsprozess lautet: (ergebnis)offen und zielgerichtet. Bei Kontroversen mit Zeitgenossen wie Thomas Seibert muss die Betonung eindeutig auf „zielgerichtet“ liegen.

 

Gespiegelt von der damaligen Zweit-Veröffentlichung des Textes:

http://www.nao-prozess.de/blog/na-endlich-ein-streit/

 

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Noch mal: Diversity-Management statt Klassenkampf?

 

Kein Zweifel: „Diversity-Management statt Klassenkampf“ – das wäre kein Mottto, das Zustimmung verdienen würde. Doch trotzdem impliziert die von Prütz/Schilwa aus der jungen Welt übernommene Überschrift eine gewisse Schieflage: Sie scheint einen exklusiven Widerspruch zwischen „Diversity-Management“ einerseits und „Klassenkampf“ andererseits zu implizieren. Prütz/Schilwa sprechen dann zwar auch vom Geschlechterkampf, der durch die Rede über Identitäten „ersetzt“ werde. Schließlich zitieren sie aber doch wieder zustimmend Ellen Meiksins Wood mit den Worten: Der Postmodernismus entwaffne und zersetze „den Widerstand gegen den Kapitalismus“ (meine Hervorhebung), womit dann erneut der Klassenkampf bzw. Kapitalismus als Hauptgesichtspunkt behauptet ist.

 

Mal abgesehen von der Frage, ob das, was Prütz/Schilwa zurecht kritisieren, – ohne nähere Differenzierung – treffend als „Postmodernismus“ zu bezeichnen ist: Jene laxe Haltung, die sich m.E. in der Tat besser als diversity management bezeichnen läßt, steht nicht nur revolutionärer antikapitalistischer, sondern auch revolutionärer feministischer und antirassistischer Politik entgegen.

 

Auch, wenn es meine queeren GenossInnen genauso wenig hören wollen wie Prütz/Schilwa – revolutionäre Politik läßt sich unter heutigen Bedingungen nur in doppelter Opposition gegen ‚traditionalistischen’ Klassenreduktionismus und ‚postmodernes’ diversity management wiedergewinnen.


Und für eine Wiedergewinnung revolutionärer Politik ist auch nicht hilfreich, Identitäten und Interessen entgegenzusetzen, wie es Prütz/Schilwa in schlichter Umdrehung bestimmter Varianten des Postmodernismus machen. Weder sind Identitäten das Reich des Ideellen und Psychischen oder bloß Ausgedachten noch Interessen der Bereich des rein Materiellen und unmittelbar Realen. Wenn ‚postmodern’ heißt, ein quasi naturalistischen Verständnis von Interessen (‚Interessen als das unmittelbar und schlicht Gegebene’) abzulehnen, dann war Lenin der erste Postmoderne. Was Lenin in Was tun? zeigt, ist, daß Interessen nicht einfach gegeben sind, sondern erst im politischen Kampf herausgebildet werden. Und in diesem Sinne sind Interessen und Identitäten unmittelbar miteinander verknüpft. Interesse ist, etymologisch betrachtet, ein Dazwischensein (lat. inter = zwischen; esse = sein); ein Dabeisein. Damit geht es bei Interessen also immer schon um den subjektiven (individuellen und kollektiven) Bezug zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Und in diesem Sinne geht es bei Interessen immer auch um Identitäten.


Eine Identität als Teil der (Lohnabhängige und Bourgeoisie umfassenden) „arbeitenden Klassen“ im Gegensatz zum vermeintlich müßiggängerischen Adel impliziert auch andere Interessen als eine schlichte Lohnabhängigen-Idenität und diese wiederum andere als eine kommunistische Identität.

 

Für Lohnabhängige geht es nur darum „sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m.“ – „trade-unionistisches Bewußtsein“ nannte Lenin das. Nur-Gewerkschafter-tum.


Etwas qualitativ anderes ist die „Gegensätzlichkeit [d]er Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen System“. Erst eine kommunistische (damals von Lenin noch „sozialdemokratisch“ genannte) politische Identität bringt die Verschiebung vom Interesse an der Wahrung der eigenen Position im System zum Interesse am Umsturz des Systems. [1] Das letztgenannte Interesse ist nicht unmittelbar mit der Erfahrung der Ausbeutung in der Fabrik oder im Büro gegeben, sondern sie erfordert das Eingreifen der Theorie (der „Sprachspiele, Diskurse, Interpretationen“ [Lederer von Prütz/Schilwa kritisch zitiert]) und die politische Weitung des Horizonts über den „Bereich […] des ökonomischen Kampfes, […] der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern“ hinaus. [2] Mehr noch: Es erfordert die eigene Lohnabhängigen Rolle nicht hinzunehmen, sondern überwinden zu wollen.


Und in der Tat sind diese „Sprachspiele, Diskurse, Interpretationen“ plural, und das ist, solange es um linke revolutionäre Organisierung geht, auch kein Drama. Weder der Feminismus noch der Marxismus noch antirassistische Theoriebildung kann heute und auf sehbare Zeit eine umfassende Analyse und Erklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen als Ganzes liefern (und die Schlagwörter von Empire und em>Multitude können dies schon gar nicht). Die drei erstgenannten Theorien können nur dann produktiv zu einander in Beziehung gesetzt werden, wenn sie ihre jeweilige eigene Endlichkeit anerkennen; wenn sie anerkennen, daß ihr Gegenstand und Kampfgebiet nicht ‚alles’ ist, sondern, daß sie mit jeweils Spezifischem befaßt sind: den Geschlechterverhältnissen, den Klassenverhältnissen, den Rassenverhältnisse – und daß diese nicht nach einer einzigen Logik funktionieren.

 

Ein Pluralismus wird aber dann zum Problem, wenn es nicht mehr um das Innere revolutionärer Organisierung geht, sondern wir über das Verhältnis zum jeweiligen Feind reden. Ein „Pluralismus“ oder eine „Diversität“ von Kapital und Arbeit, ein „Pluralismus“ oder eine „Diversität“ von Männern und Frauen, ein „Pluralismus“ oder eine „Diversität“ von Weißen und Schwarzen – das ist nicht die revolutionäre Agenda; das ist aber auch nicht die politische Konsequenz des De-Konstruktivismus – das ist grüner Multikulturalismus!

 

Im 19. Jahrhundert begann Karl Marx die Arbeit der De-Konstruktion (oder, um hoffentlich meinen FreundInnen im traditionalistischen Lager verständlich zu bleiben: der De-Naturalisierung) im Bereich der Ökonomie: Er zeigt, daß Ware, Kapital, Wert usw. keine Sachen zum Anfassen, sondern gesellschaftliche Formen sind. Selbst Gold hat nur unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen „Wert“, ein Apfel ist nur unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse eine Ware und ein Computer nur unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen Kapital. Marx de-konstruierte das, was Mao als kapitalistische Metaphysik verspottete: „Die Metaphysiker glauben, daß die kapitalistische Ausbeutung, die kapitalistische Konkurrenz, die individualistische Ideologie der kapitalistischen Gesellschaft usw. – daß das alles auch in der antiken Sklavenhaltergesellschaft, ja sogar in der Urgesellschaft anzutreffen sei, daß es ewig und unverändert existieren werde.“ [3]

 

Ausbeutung und Klassen sind nicht natürlich, sondern gesellschaftlich hergestellt. Das ist diese de-konstuktivistische Einsicht des Marxismus. Und die revolutionäre politische Konsequenz des Marxismus daraus ist – der alte Engels brachte es so deutlich auf den Punkt: Es geht nicht um eine Gleichheit der Klassen, nicht um einen Pluralismus der Klassen, sondern um die Überwindung der Klassen. [4]

 

Und die entsprechende de-konstruktivistische Ent-Naturalisierungsarbeit leisteten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts feministische und anti-rassistische TheoretikerInnen: Auch Rassen und Geschlechter sind keine natürlichen Einheiten, sondern Produkte gesellschaftlicher Konstruktion. Und auch aus dieser de-konstruktivistischen Einsicht folgt eine revolutionäre politische Konsequenz: Auch im Bereich der Geschlechter und Rassen geht es nicht mehr um Gleichheit und Pluralismus, sondern um Überwindung dieser Formen des Funktionieren der gesellschaftlichen Verhältnisse.

 

Unterhalb dieser Einsichten wird die Wiedergewinnung einer revolutionären Perspektive im 21. Jahrhundert nicht möglich sein.

 

Und was das Thema „Organisierungsdebatte“ anbelangt: Einstweilen bin ich optimistischer, daß politische RevolutionärInnen ihre Aversion gegen den De-Konstruktivismus in der Philosophie abzulegen bereit sind, als daß Linke, die auf „eine rot-rot-grünen Wahloption“ und „ein Mitte-Links-Regierungsprojekt“ als ihr eigenes Projekt zielen, bereit sein werden, die revolutionären politischen Implikationen, die de-konstruktivistische Philosophie hat, zur Kenntnis zu nehmen – zumal ich starke Zweifel habe, daß es Thomas Seibert leicht fallen wird, Klaus Ernst, Gesine Lötzsch und Siegmar Gabriel den De-Konstruktivismus auch nur als Philosophie nahezubringen. Und ich fürchte, auch Renate Künast und selbst Katja Kipping werden, wenn Thomas Seibert „De-Konstruktion“ sagt, lieber diversity management verstehen.

 

Detlef Georgia Schulze

 

http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap2a.htm#parta.

 

[1] http://www.infopartisan.net/archive/maowerke/wi2.htm.

 

[2] „Um den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln, müssen die Sozialdemokraten in alle Klassen der Bevölkerung gehen, müssen sie die Abteilungen ihrer Armee in alle Richtungen aussenden.“ (http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap3e.htm).

 

[3] http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap2a.htm#parta.

 

[4] „Von dem Augenblick an, wo die bürgerliche Forderung der Abschaffung der Klassenvorrechte gestellt wird, tritt neben sie die proletarische Forderung der Abschaffung der Klassen selbst“ (http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_032.htm#Kap_X, S. 99).

 

Gespiegelt von der damaligen Zweitveröffentlichung des Textes:

http://www.nao-prozess.de/blog/noch-mal-diversity-management-statt-klassenkampf/

 

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Auf meinem Text antworte SIBS später mit einigen Passagen in ihrem Papier:

 

Von Quietscheenten, Liebesbeziehungen und “Fidelio” – zum Stand der ökumenischen Initiative aus dem Ratskeller Schöneberg

 

http://www.nao-prozess.de/blog/von-quietscheenten-liebesbeziehungen-und-fidelio-zum-stand-der-oekumenischen-initiative-aus-dem-ratskeller-schoeneberg/

 

worauf ich wiederum mit dem Text

 

Von der Philosophie zur Politik

 

http://www.nao-prozess.de/blog/von-der-philosophie-zur-politik/

 

antwortete.

 

Mir scheint angesichts der jetzigen

 

Notizen zum Plan A einer neuen Linken (nicht nur) in Deutschland

 

http://www.kommunisten.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6010:thomas-seibert-erste-notizen-zum-plan-a-einer-neuen-linken-nicht-nur-in-deutschland&catid=104:meinungen&Itemid=249

=

https://emanzipatorischelinke.wordpress.com/2015/12/13/erste-notizen-zum-plan-a-einer-neuen-linken-nicht-nur-in-deutschland/

 

von Thomas Seibert ist Zeit reif, auf die damalige Diskussion erneut zurückzukommen.

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Vor ziemlich genau vier Jahre

 

Tja, rechnen will gelernt sein: von 2011 bis 2016 sind ja schon fünf Jahre...

 

Und hier Artikel auch als .pdf-Datei:

 

http://TheoriealsPraxis.blogsport.de/images/2011_Klassenkampf_Diversity.pdf

Ich habe es heute anscheinend nicht mit den Zahlen: Die internationale Organisierung der GAM heißt auch nicht "Liga für die IV. Internationale", sondern "für die V. Internationale" (die IV. gibt es schon seit Jahrzehnten). Und in dem gleichen Satz fehlt auch noch ein "nur" vor dem "noch"; und ein paar andere Tippfehler habe ich inzwischen auch noch entdeckt. -

Die oben verlinkte .pdf-Datei ist inzwischen entsprechend korrigiert und aktualisiert.