Im folgenden Text befassen wir uns mit einer Kritik von An unsere Freunde vom Unsichtbaren Komitee. Wir möchten den Leser warnen, dass diese Kritik nicht vollständig sein wird, denn der Text würde eine noch ausführlichere Entschlüsselung verdienen als jene, welche wir hier auf einigen Seiten unternehmen; wir beschränken uns also darauf, einige grundlegende Postulate zu untersuchen, von welchen uns scheint, dass sie seinen theoretischen Kern strukturieren. An unsere Freunde stellt ein gutes Beispiel der Art und Weise dar, wie eine konservative Konzeptbastelei als revolutionär verkleidet sein kann und es ist umso schwieriger, eine Kritik davon zu erstellen, als dass das Werk auf den ersten Blick dicht, oder gar überladen ist. Nach einer aufmerksamen Lektüre bemerkt man jedoch, dass sich sein Herzstück auf einige schwache Vorschläge beschränkt, welche im Brei, in welchem sie schwimmen, leicht übersehen werden können.
Der Westen
Der Westen ist die Obsession des Unsichtbaren Komitees: Er verkörpert in seinen Augen alle Schrecken der Zivilisation. Er ist somit gleichzeitig Synonym für Kapitalismus, Imperialismus, Kolonialismus, Zerstörung der Natur, Wille zur Herrschaft über andere usw. Doch der Gebrauch dieses Konzepts scheint uns verdächtig, denn dieser starre Gegensatz zwischen dem Westen und dem Rest stellt nur den imperialistischen oder konservativen Standpunkt auf den Kopf, welcher aus diesem Westen etwas Absolutes macht. Alles in allem ist das Unsichtbare Komitee ein im Handstand gehender Spengler (oder Alain de Benoist, wenn man möchte). Die tatsächlich westliche, de facto unwiderlegbare Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise verwandelt sich in eine metaphysische Schuld. Umgekehrt wird alles Nicht-Westliche ontologisch aufgewertet. Die westliche Zivilisation ist das absolute Böse, doch man fragt sich, was es mit den 20000 Jahren Klassengesellschaft und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf sich hat: Ist der Westen von einem anderen Planeten gekommen? Das Komitee, welches die „Genealogien“ des Linksnietzscheanismus gewiss ganz toll findet, sollte das eigentlich wissen:
„Der Begriff des Westens [l’occident] selbst, als Gegensatz zum Orient, wurde erschaffen, um diesen Bruch [zwischen der römischen Kirche des Westens und des Orients, AdA] innerhalb der gleichen Zivilisation und der gleichen Religion zu bezeichnen.“ [1]
Doch nachdem der Westen – vom historisch kolonialistischen Frankreich bis zum von England völlig kolonialisierten Irland – und der Nicht-Westen als zwei Essenzen gesetzt sind, was lehrt uns das Komitee bezüglich ersterem?
Produktion und Zirkulation
Was die Analyse der Funktionsweise des Kapitals betrifft, stellt folgende Ungeheuerlichkeit die grundlegende These dar:
„Der Wertschöpfungsprozess einer Ware […] fällt mit dem Prozess der Zirkulation zusammen, der wiederum mit dem Prozess der Produktion zusammenfällt, der in Echtzeit im Übrigen den Schlussfluktuationen des Marktes entspricht [AdÜ: es müsste heissen: von den Schlussfluktuationen des Marktes abhängt].“ [2]
Seien wir brutal: Diese Textstelle hat überhaupt keinen Sinn. Erstens ist es das Kapital oder der Wert, welches oder welcher sich verwertet: Die Ware macht selbst nichts, sie ist ein Träger, ein notwendiges Moment im Kreislauf, durch welchen das Kapital sich verwerten kann; aber wenn die Ware als solche auf dem Markt erscheint, ist der Mehrwert bereits produziert worden, er muss nur noch durch den Verkauf verwirklicht werden. Zweitens ist das Zusammenfallen von Produktions- und Zirkulationsprozess eine logische Unmöglichkeit: Die Zirkulationssphäre fügt dem schon produzierten Wert keinen neuen Wert hinzu; zudem ist sie zeitlich und räumlich stets von der Produktionssphäre getrennt, ausser man nimmt – durch wer weiss welche Allgegenwart – an, dass der gleiche Arbeiter gleichzeitig Arbeiter bei Goodyear und Kassierer bei Franprix sein kann. Die Gleichsetzung von Produktion und Zirkulation ist immer gleichbedeutend mit der Verwechslung von produktiver mit unproduktiver Arbeit, von Arbeit, welche gegen Kapital, und Arbeit, welche gegen Einkommen getauscht wird, und somit bleibt man ein Gefangener des Fetischs der Distribution, welcher die Besonderheit der Mehrwert produzierenden Arbeit in der Totalität der Lohneinkommen auflöst. Was allerdings noch wesentlicher ist für die Entschlüsselung des Texts, welcher uns beschäftigt, ist die Tatsache, dass man ausgehend von den Distributionsverhältnissen, d.h. von der Gleichsetzung von produktiver und unproduktiver Arbeit, alles kritisieren kann: die Ware, das Geld, die Ungleichheiten, sogar den Staat – alles, ausser das Kapital, denn nur die produktive Arbeit bringt es hervor. Es geht nicht darum, die produktive Arbeit als irgendeine mythische Figur zu essentialisieren, umso mehr, weil der Mehrwert nicht (wie es die Anti-Marxisten annehmen) auf die Industrie im strikten Sinne beschränkt ist; der produktive oder unproduktive Charakter der Arbeit wird auf der Ebene des gesellschaftlichen und kombinierten Arbeiters festgelegt und Marx betont das übrigens wiederholt im Kapital, wie auch in den Grundrisse und in den Theorien über den Mehrwert. Es ist jedoch wichtig, diesbezüglich klare Gedanken zu haben, um das Strukturierende vom Strukturierten zu unterscheiden, ohne jedoch das Strukturierte auf eine wirklichkeitslose Begleiterscheinung zu reduzieren (das ist ein grundlegender Punkt).
Das Mindeste, was man von den „gekommenen Aufständen“ sagen kann, ist, dass sie das geheime Labor der Produktion mit der Inschrift No admittance except on business kaum (auf jeden Fall nicht genügend) berührt haben. Das Unsichtbare Komitee glaubt, diese Schwierigkeit, diese Grenze auf rein intellektuelle Art und Weise umschiffen zu können, indem es zu verstehen gibt, dass die Mehrwertproduktion viel diffuser sei als in der Vergangenheit. Das ist allerdings schlicht und einfach falsch oder es war immer so. Wie hätte Marx folgende Zeilen schreiben können, wenn dem nicht so wäre?
„Z.B. Milton, who did the paradise lost, war ein unproduktiver Arbeiter. Der Schriftsteller dagegen, der Fabrikarbeit für seinen Buchhändler liefert, ist ein produktiver Arbeiter. Milton produzierte das Paradise lost, wie ein Seidenwurm Seide produziert, als Betätigung seiner Natur. Er verkaufte später das Produkt für 5 l. und wurde insofern Warenhändler. Aber der Leipziger Literaturproletarier, der auf Kommando seines Buchhandlers Bücher, z. B. Kompendien über Politische Oekonomie produziert, ist annähernd ein produktiver Arbeiter, soweit seine Produktion unter das Kapital subsumiert ist und nur zu dessen Verwertung stattfindet. […] Ein Schulmeister, der andre unterrichtet, ist kein produktiver Arbeiter. Aber ein Schulmeister, der als Lohnarbeiter in einem Institut mit andern engagiert ist, um durch seine Arbeit das Geld des Entrepreneurs der knowledge mongering institution zu verwerten, ist ein produktiver Arbeiter.“ [3]
Die Mehrwertproduktion war jedoch nie diffus und so stark in der Gesellschaft zerstreut, dass sie mit der Zirkulationssphäre zusammenfiel, und wird es auch nie sein. Natürlich muss der hervorgebrachte Mehrwert durch den Verkauf auf dem Markt verwirklicht werden und in diesem Sinn ist der Zirkulationsprozess wesentlich für die Reproduktion des Kapitals; doch er repräsentiert nur Entwertungszeit für den schon hervorgebrachten Wert. Die vom Komitee gepriesene Parole „Blockieren wir alles!“ entspricht der Idee, dass es möglich wäre, an jedem Punkt der Oberfläche der Gesellschaft die Mehrwertproduktion zu unterbrechen. Als Beispiel zur Legitimation dieser Idee wird die französische Bewegung gegen die Rentenreform 2010 erwähnt, besonders ihr Verhältnis mit dem Sektor der Raffinerien. Es wird uns gesagt, dass diese von irgendjemandem blockiert worden sein konnten, was der absoluten Verblendung und Mystifikation gleichkommt: Die Streiks wurden nicht von „irgendjemandem“ ausgelöst, die Blockaden ausserhalb der Industrieanlagen waren und blieben eine äussere Unterstützung derselben und die Grenze zwischen „Drinnen“ und „Draussen“ verschwand zu keinem Zeitpunkt. Das zeigt uns schlicht und einfach, dass die Bewegung die Trennungen und separaten Identitäten nicht zum Platzen bringen konnte. Doch diese Erzählung voller Übertreibungen und die Bezugnahme auf gewisse besondere Sektoren, welche durch eine alles andere als unerklärbare, sehr bedeutende organische Zusammensetzung des Kapitals charakterisiert sind, dienen dem Komitee dazu, sich als Propheten der Blockade hervorzutun, sowie dazu, seinen Beitrag zum postmodernen Konsens über das Verschwinden der Arbeiterklasse zu leisten – welcher, man weiss es, jenes Terrain ist, wo alle sich versöhnen, auch das Unsichtbare Komitee mit Toni Negri und den commoners.
Totalität
Was den strikt philosophischen Standpunkt betrifft, gibt sich das Unsichtbare Komitee als foucaldianisch, wünschend und fluxistisch und damit – selbstverständlich – anti-marxistisch, anti-dialektisch und anti-hegelianisch; doch so leicht kommt man Hegel nicht davon. Was das Unsichtbare Komitee „die Epoche“ nennt (d.h. die gegenwärtige Periode), ist nichts anderes als die Hegelsche konkrete Totalität: Nicht hierarchisiert, ohne Zentrum drückt sie in jedem ihrer Teile das gleiche einfache Prinzip aus (jeder ihrer Teile ist pars totalis); ihr einfaches Prinzip ist eine Art Weltgeist ohne jegliche weltliche Inkarnation (im Gegensatz zu Hegel mit seinen „kosmisch-historischen“ Individuen: Alexander der Grosse, Julius Cäsar usw.), welcher sie gänzlich durchdringt, ein bisschen wie die Politik bei den Griechen oder die Religion im Mittelalter. Das Mittelalter konnte jedoch genauso wenig vom Katholizismus leben wie Athen oder Rom von der Politik: Die wirtschaftlichen Verhältnisse damals erklären hingegen, „warum dort die Politik, hier der Katholizismus die Hauptrolle spielte“ [4].
Das Unsichtbare Komitee hingegen bekräftigt stets die Zentralität der Ethik und ihrer Wahrheiten: Die Ethik (ohne Witz) sei eben genau der Faktor, welcher den Aufstieg des Islamismus in der arabischen Welt, die politische Kapitalisierung des Frühlings durch denselben, sowie die Verbrechen von Daech erklären könne. Trotz diesem „Fasching der fetischisierten Innerlichkeit“ (Lukács) vergisst unser Komitee nicht, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren und sich ein bisschen materialistischer zu geben, wenn es darum geht, seine geniale Strategie, welche es für andere kommende „Aufstände“ vorschlägt, genauer zu beschreiben.
Strategie
Solange das „Gespenst des Mangels“ in den „Volkserhebungen“ (S. 92) umgeht, wird der Staat immer fähig sein, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. Was tun also? Für das Komitee liegt die Antwort nicht im gesellschaftlichen Bereich, sondern sie ist technisch, oder gar technokratisch; sie liegt nicht in einem Bruch, in einer (Selbst-)Aufhebung, durch welche die Putzfrau genau wie der Müllarbeiter alles selbst in die Hand nehmen können, was heute „von oben“ kontrolliert wird, sondern im Bündnis mit den Luxusangestellten, welche schon die richtigen Kompetenzen haben:
„Wir müssen in allen Sektoren, in allen Gegenden, die wir bewohnen, auf diejenigen zugehen, die über strategisches technisches Wissen verfügen. […] Dieser Prozess der Wissensakkumulation, der Herstellung von Komplizenschaft in allen Bereichen ist Bedingung für ein ernsthaftes, massenweises Wiederaufkommen der revolutionären Frage.“ (S. 92)
Was hier hinweggefegt wird, ist schlicht und einfach der Zwang, welcher auf die radikale Trennung zwischen Subsistenz- und Produktionsmitteln zurückgeht – in einem Wort: das Proletariat. Vor noch fünfzig Jahren ging es – für die linken Intellektuellen – darum, sich in der Arbeiterklasse zu etablieren. Heutzutage bezieht sich die Mittelklasse nur noch auf sich selbst, sie wiegt sich in Selbstgenügsamkeit: Der in Humanwissenschaften Diplomierte trifft sich mit dem Ingenieur. Das erlaubt es dem Komitee, komplett auf eine ernsthafte und detaillierte Studie der in den Ausschreitungen und Erhebungen (heben wir uns das Wort „Aufstand“ für andere Gelegenheiten auf) aktiven gesellschaftlichen Segmente sowie der ihnen unterliegenden sozio-ökonomischen Dynamiken zu verzichten, obwohl es konstant davon spricht; das Komitee weiss nichts davon und will es auch nicht wissen, was zu seinem Vorteil ist, denn die Niederlagen der Bewegungen können viel häufiger mit der (häufig marginalen) Stellung oder (häufig schwachen) Praxis der Arbeiter in ihnen erklärt werden als mit der Abwesenheit von geschickten Kadern, welche das Komitee verführen möchte. Es ist wahr, dass es sich im Ausdruck seiner Verachtung für die „Kleinbourgeoisie“ und ihre „historische Unschlüssigkeit“ nicht zurückhält (S. 215). Aber von wem spricht man genau? Von den Kleinbauern? Den Notaren? Wird der Ausgang der kommunistischen Revolution von der politischen Orientierung der Apotheker abhängen? „Kleinbourgeoisie“ ist allenfalls gleichbedeutend mit „kleinem Kapital“, vielleicht sogar sehr kleinem, mit dem Besitz also von Produktionsmitteln (oder der Miete von Geschäftsräumen) – egal wie lächerlich sie sind, sei es, um nur ein oder zwei Leute anzustellen und/oder sich selbst auszubeuten. Dass eine moderne, entlöhnte, spezifisch kapitalistische Mittelklasse existieren kann, das wurde von Marx vor 150 Jahren, von Pannekoek vor 100 Jahren, von Bordiga vor 50 Jahren bekräftigt, doch es scheint für unser ach so kommunistisches Komitee keine Rolle zu spielen.
Das bevorzugte Unterfangen des Unsichtbaren Komitees ist übrigens die Kritik der Frage selbst, was eine alte Tradition der kommunistischen Theorie ist: „Nicht nur in ihren Antworten, schon in den Fragen selbst lag eine Mystifikation.“ [5] Doch die Spezialität des Unsichtbaren Komitees ist es, diese Methode auf absolut alles anzuwenden, schlicht und einfach, um zu verhindern, dass Fragen gestellt werden. Wie könnte in der Zentralität der Mehrwertproduktion irgendeine Frage liegen, wenn jegliche Grenze zwischen Wertproduktion und -zirkulation – so sagt es uns das Komitee – aufgelöst ist? Wie könnte man es wagen, über die Möglichkeit eines grösseren militärischen Konflikts zwischen imperialistischen Mächten (die wahre Lösung der Krise vom Standpunkt des Kapitals aus) in der Zukunft nachzudenken, wenn jegliche Grenze zwischen Krieg und Frieden – so sagt es uns das Komitee – mittlerweile überholt ist? Und so geht es fleissig weiter, jegliche Polarität wird verwischt – Zentrum und Peripherie, politische Macht und materielle „Infrastrukturen“, Mittelschichten und Proletariat –, um endlich verkünden zu können: Es herrscht grosse Unordnung unter dem Himmel, die Lage ist ausgezeichnet! Zu dieser Unordnung kommt die Verwirrung des Komitees hinzu, welches innerhalb der Verwirrung („der Epoche“ wahrscheinlich) Ordnung schaffen wollte und nicht über die Bekräftigung der totalen Undeutlichkeit hinauskommt: panta rhei, alles fliesst im Fluss.
Einige Versprecher
Nach allem, was gesagt worden ist, seien wir in Bezug auf einen Punkt klar: An unsere Freunde enthält mehrere stichhaltige Textstellen: z.B. die Kritik des linken Humanismus (S. 31), der Ideologie der Demokratie/Versammlung (S. 54-57), des Pazifismus und der radikalen Haltung (S. 140-142). Doch diese kritischen Versatzstücke greifen nur Ideen an: Sie verbleiben die meiste Zeit in der Tonlage der erbaulichen und bequemen Demystifikation, welche schlichtweg das Wahre dem Falschen entgegensetzt – was absolut logisch ist, denn, wenn die Wirtschaft als Objektivität, die Produktionsverhältnisse, die ihren Agenten zugewiesenen Stellungen, die differenzierte Struktur der Produktionsweise usw. nicht (oder nicht mehr) existieren, dann können jegliche Sackgasse und jegliche Grenze nur rein subjektiv sein.
Zudem wäre die Kritik des radikalen Milieus auf den Seiten 140-143 sehr zutreffend, wenn sie auch nur mehr oder weniger auf selbstkritische Art und Weise formuliert wäre, sei es nur, weil alle erwähnten Punkte – gestikulierender Aktivismus, Leistungskult, identitäre Fixierung usw. – in der Vergangenheit von nah oder fern vom Unsichtbaren Komitee selbst gefördert und unterhalten worden sind, wir wissen jedoch, dass die Bescheidenheit nicht seine Haupteigenschaft ist.
Wie wir also gesehen haben, sind jene Textstellen, welche unser Interesse geweckt haben, unglücklicherweise in einem unbezwinglichen Geschwätz voller Vorschläge, Verkündigungen, Überlegungen, expliziten oder impliziten Anspielungen, Zitate usw. verscharrt – alle sind mehr oder weniger diskutabel und durch einen gefrässigen Hypereklektizismus miteinander verbunden, denn es ist unfähig sein Zentrum zu finden, genauso wenig wie das Zentrum der Welt, um dessen Kritik es sich bemüht. Das Unsichtbare Komitee springt mühelos vom „Revolutionär-Werden“ von Deleuze (S. 42) zum „Ekel“ von Sartre (S. 28), von „Die Hölle sind die anderen“, ebenfalls von Sartre (ebd.), zur „schöpferischen Zerstörung“ von Schumpeter (S. 21), von der „Krise der Präsenz“ von Ernesto de Martino (S. 28) zum „Heiligen Krieg“ von René Daumal (S. 134), ohne Michel Foucault, Marshall Sahlins, Gregory Bateson, Giorgio Cesarano, den anarchistischen Mystiker Gustav Landauer, sowie den guten alten Stalinisten Gramsci und Gott weiss wie viele andere zu vergessen, damit mehr oder weniger alle auf ihre Kosten kommen – unter der Bedingung, dass man nicht an der Oberfläche kratzt. Wir kamen gar in den Genuss der „Partei im grossen historischen Sinne“ aus dem Brief von Marx an Freiligrath, aber nur, damit man sich zwei Zeilen weiter unten über Marx und die „Marxisten“ (welche?) lustig machen kann. All das geschieht in einem kleinen Buch mit 200 Seiten im Format A5, welches formell gut geschrieben und in welchem die Beherrschung des energischen Stils à la Debord – selbstverständlich – einwandfrei ist. Unsere Autoren, das muss man zugeben, kennen das Dossier so gut, dass sie als Ghostwriter bei Herrn Agamben angestellt werden könnten. Doch Obacht, Computerprogramme können das auch schon – was viel aussagt über den Formalismus, welcher diese Art von Texten charakterisiert.
Anstelle einer Schlussfolgerung
Man nehme einen halbwegs talentierten Schriftsteller, bitte ihn, die Pose eines verfluchten Autors einzunehmen, und zwinge ihn, einen Vortrag über die jüngsten Trends in der Philosophie, der Anthropologie und der Soziologie zu halten, setze ihn danach zwei Tage vor einen Computer mit einer Pistole am Kopf und gebe ihm die Aufgabe, ein „gefährliches“ sozialkritisches Buch zu schreiben, welches jedoch in den schönen Quartieren von Paris verkauft werden kann: Was dabei herauskommt, ist An unsere Freunde. Einige werden es schätzen: Jedem sein Dope.
Doch für jene, welche auf der Suche nach einer Klarstellung über die gegenwärtige Periode oder einer Hochrechnung über den möglichen (nicht wirklich auf der Tagesordnung stehenden) revolutionären Ausgang sind, kann der Rat nur lauten: Schaut euch woanders um. Trotz der Mobilisierung eines wortreichen Werkzeuges mit radikalen Ansprüchen bleibt das Komitee nicht nur in einer vernebelten Sichtweise über das gefangen, was diese Welt antreibt, sondern – darüber hinaus – in einem Verständnis der Artikulation zwischen unmittelbaren Kämpfen und der Revolution, welches auf der Akkumulation von Bedingungen oder Erfahrungen basiert. Exit die klassischen und klassistischen Schemata des Proletariats, welches zur herrschenden Klasse wird, die Akkumulation von Macht und Erfahrungen, die revolutionäre (Selbst-)Pädagogik durch die Metabolisierung der „Lektionen der Vergangenheit“ usw., welche Teil des Horizonts der Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts waren, sie verwandeln sich – im Diskurs des Komitees – in eine Akkumulation von Wissen und Können. Das Problem dieser Schlussfolgerung ist u.a., dass sie im leeren Raum geschieht und von einem total selbstbezogenen Subjekt gezogen wird: Wir, die Revolutionäre. Während die interessantesten Verfechter der kommunistischen Theorie seit den 1970er Jahren versucht haben, sich definitiv von den von der 2. und 3. Internationalen geerbten evolutionistischen und gradualistischen Konzeptionen zu emanzipieren [6], sind diese – nun von ihren traditionellen Inkarnationen verwaisten – Konzeptionen in einer neuen, diffusen und v.a. aklassistischen Form zurückgekehrt: Alternativismus, Bürgerpraktiken, Globalisierungsgegnerschaft, décroissance, Negrismus, „Wertkritik“, Anti-Industrialismus... Die Unterschiede dieser Strömungen lassen sich nicht von der Hand weisen, die von ihnen geteilte familiäre Atmosphäre auch nicht – trotz manchmal heftiger Polemiken. Natürlich ist das Unsichtbare Komitee in der radikalen Linken dieses Nebels zu verorten, doch aus dem gleichen Grund kann es ihn nicht verlassen, zumindest nicht aus eigener Kraft. Davon ausgehend ist die Frage weniger, was das Unsichtbare Komitee mit der kommunistischen Revolution, sondern eher, was die kommunistische Revolution mit dem Unsichtbaren Komitee anstellen können wird. Nicht viel, so befürchten wir – doch wir wünschen ihm eine möglichst herzliche Behandlung.
An unsere Freunde und seine Autoren werden v.a. in Erinnerung bleiben als Zeichen, als Symptom der historischen Diskrepanz, mit welcher „unsere Zeit“ ringt, zwischen einem Proletariat einerseits, welches nicht mehr als Träger eines reformistischen oder revolutionären Projekts gegenüber dem Kapitalismus erscheint (doch welches sich, aus dem gleichen Grund, auf umso brutalere Art und Weise manifestiert, wenn es kämpft), und eben diesen reformistischen oder revolutionären Projekten, welche zwar vom Menschen, von der Multitude, vom Volk, vom Bürger, vom Individuum sprechen mögen, deren Ausgang jedoch vom Charakter der gegenwärtigen und zukünftigen Handlungen des Proletariats in der Krise des Kapitals abhängt.
Zu guter Letzt muss definiert werden, was der Grund für den zwar relativen, jedoch internationalen Erfolg der Bücher des Unsichtbaren Komitees ist; abgesehen von den „kulturellen Modeerscheinungen“ und der medialen Präsenz aufgrund der Tarnac-Affäre (ob gewisse Angeklagte von Tarnac für die Broschüre Der kommende Aufstand verantwortlich sind oder nicht, hat nicht die geringste Bedeutung), ist es tatsächlich unleugbar, dass die Konzeptionen des Komitees, genau wie sein Stil, ziemlich gut den Erlebnissen eines besonderen Typs des zeitgenössischen Aktivisten entsprechen, ein Aktivist, welcher sein Engagement als existentiell konzipiert, als Gegensatz zwischen dem Individuum und der Welt, jenseits von jeglicher spezifischer Bestimmung: Kapital und Lohnarbeit, die Klassen, Hochkonjunktur und Krise usw. Doch – man muss diesbezüglich klar sein – wenn man so etwas sagt, spricht man vom unausweichlichen Fortbestehen der Konterrevolution. Vergessen wir nicht, wie stark sogar die am besten „ausgerüsteten“ und visionärsten Genossen (Programme communiste, Socialisme ou Barbarie, die Situationistische Internationale, Classe operaia) bis hinein in die 1950er und 1960er Jahre auf unterschiedliche Art und Weise Gefangene der Situation waren (die „russische Frage“ und die Glorreichen Dreissig, kurz zusammengefasst). Als eine neue Phase begann, sind sie zerfallen. Ein eventueller revolutionärer Aufschwung, welcher schmerzhaft auf sich warten lässt und welcher von keiner Gruppe, keinem Grüppchen, keiner Zeitschrift oder keiner anderen Struktur ausgelöst werden kann, wird zwangsläufig das theoretisch-ideologische Arsenal ins Jenseits befördern – und uns auch, zumindest als Kritiker der Konterrevolution innerhalb derselben. Eine Prise Realitätsprinzip (sogar im Freudschen Sinne des Wortes) zu diesem Thema ist immer heilsam. Wenn der Klassenwiderspruch gleichzeitig der Motor dessen ist, was ist, als auch Träger von etwas anderem als das, was ist (und von etwas anderem, als der körperlichen Erschöpfung seiner „Unterlagen“: der menschlichen Spezies und der Umwelt), dann ist der einzige Vorteil, welchen wir im Verhältnis zu anderen haben, dass wir wissen, was uns zum Sprechen bringt, die Quelle, wo die Gegensätze entstehen, immer im Auge behalten und die möglichen Punkte des Bruches erkennen.
„Das jetzige Geschlecht gleicht den Juden, die Moses durch die Wüste führt. Es hat nicht nur eine neue Welt zu erobern, es muß untergehen, um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind.“ [7]
R.F., September 2015
Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net.
[1] Georges Corm, Histoire du Moyen-Orient. De l’Antiquité à nos jours, La Découverte, 2007.
[2] Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde, Nautilus, 2015, S. 88.
[3] Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Archiv sozialistischer Literatur 17, Neue Kritik, Frankfurt a.M. 1968, S. 70.
[4] Karl Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 96.
[5] Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 19.
[6] Zu diesem Punkt sollte man den Text „La révolution sera communiste ou ne sera pas“ von 1975 in der Anthologie Rupture dans la théorie de la révolution. Textes 1965-1975, Senonevero, 2003 lesen.
[7] Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich; im Jahr 1852, es hat – falls das gesagt werden muss – nichts mit Auschwitz zu tun [AdA].
ähhhh versteh ich nich, was?
Bin zu doof.
schwierig, aber verstehbar
wenn man zu verstehen versucht. Hut ab vor solcher Analyse !
Mich hat der Beitrag auch fast erschlagen. Aber nicht in seiner "Schwierigkeit", eher in der Präzision. Hätte von Marx selbst stammen können.
Eine ernst gemeinte Frage
"Doch für jene, welche auf der Suche nach einer Klarstellung über die gegenwärtige Periode oder einer Hochrechnung über den möglichen (nicht wirklich auf der Tagesordnung stehenden) revolutionären Ausgang sind, kann der Rat nur lauten: Schaut euch woanders um."
Wo genau, sollen wir uns umsehen? Und gemeint ist hier eben nicht ein weiterer Verweis auf die Das-Kapital-Lektüre, also ein Stoß in Richtung des marxistischen Gewässers, das für den unerfahrenen Schwimmer oft genauso abschreckend wirkt, wie es tief ist (weil es tief ist). Gemeint ist eine gesellschaftliche Bestandsaufnahme, eine Kritik und ein Leitfaden; verständlich, zeitgemäß und direkt wie das "Der kommende Aufstand" und eben "An unsere Freunde", nur eben präziser und was Marx angeht 'linientreuer', was der obige Kommentar ja als Manko des Kommitees suggeriert.
Gibt es da ein Buch, welches mir empfohlen werden könnte? Ich wäre über Vorschläge dankbar.
Jein
Ein Buch, welches die ganze Welt schlüssig erklärt, gibt es wohl nicht (ausser eben vielleicht Das Kapital). Auf der Homepage Kommunisierung.net hat es aber viele spannende Texte über diverse Themen, viele davon sind auch bei Bahoe Books in Buchform erschienen. Das neue Buch von Gilles Dauvé From Crisis to Communisation hat womöglich auch den Anspruch, eine Bestandesaufnahme der Gegenwart zu sein, ich habe es jedoch selbst noch nicht gelesen. Ansonsten sind im deutschsprachigen Raum auch in den Zeitschriften Wildcat und Kosmoprolet immer wieder interessante Analysen zu lesen.