Wir reisten spontan und ohne größere Vorbereitung Richtung Österreich und später Ungarn. Erst während der Fahrt wurde unser Ziel, der Grenzübergang Nickelsdorf-Hegyeshalom klar. Ausschlaggebend dafür waren Meldungen, über das Eintreffen größere Gruppen von Flüchtlingen und dass diese Unterstützung bei der Versorgung benötigten. Als Informationsquelle diente uns hauptsächlich Twitter (@soskonvoi und @refugeeconvoy). Wenn ihr selbst plant, Fluchthilfe zu organisieren, beachtet, dass die Wiener Gruppe SOSKonvoi euch nicht aktiv unterstützen wird. Ihr Schwerpunkt liegt im Aufbau von Notlagern in Grenznähe um eine Versorgung mit dem Nötigsten (Nahrung, Kleidung, Medizin) zu ermöglichen. Direkte Informationen über die Organisierung von Fluchtkonvois werden hier nicht geleistet. Allerdings verfügt die Gruppe über aktuelle Infos von den verschiedenen Grenzübergängen in Ungarn, Kroatien und Slowenien. Bevor ihr mit einem leeren Auto aufbrecht, könnt ihr euch bei ihnen per Telefon (siehe unten) informieren, was gerade dringend benötigt wird.
Nicht Katastrophe, sondern Ergebnis einer zynischen Politik – Hunger in Europa
Was uns in Hegyeshalom erwartete war für uns vorab nicht zu erahnen. Als wir eintrafen organisierten ca. 30 freiwillige Helfer_innen mit Unterstützung des Roten Kreuzes eine behelfmäßige Essensausgabe in den verwaisten Gebäuden der ungarischen Grenze. Im ca. 4 km entfernten Ortszentrum trafen zu dieser Zeit in regelmäßigen Abständen Züge aus Kroatien kommend ein. Die Flüchtlinge in den Zügen waren die Opfer einer immer undurchsichtiger werdenden europäischen Abschottung. Nachdem Ungarn seine Grenze für Flüchtlinge in Richtung Serbien schloss, versuchten Flüchtende über Kroatien auszuweichen. Kroatien wiederum beförderte eine große Anzahl dieser Flüchtenden zurück zur ungarischen Grenze, von wo aus sie in Zügen nach Hegyeshalom transportiert wurden. Während dieser Odysee bleibt die Versorgung der tausenden Menschen mitten in Europa auf der Strecke. Die menschenverachtende Politik eines Viktor Orbans bekommt so eine weitere Facette (ohne das es dieses Beweises bedurft hätte).
Die Bilder an der Essensausgabe sind im Nachhinein kaum zu beschreiben. 1800 Menschen drängten sich auf engstem Raum um von den 30 Helfer_innen Bananen, Zwieback, Fisch, Milch und Wasser zu erringen. Was ausgegeben werden kann, unterscheidet sich von Tag zu Tag, da die improvisierte Struktur vollständig von Spenden abhängt. Österreich und Ungarn zeigen im harmonischen Einklang ihr Desinteresse an der Versorgung der Flüchtlinge. Beeindruckt waren wir von Helfer_innen, die uns erzählten, seit einem Monat dort aktiv zu sein. Nachdem ein Großteil der Geflüchteten die Station in Richtung Österreich verlassen hatte, wurde mit einer entspannten Routine aufgeräumt und neu aufgebaut. Bereits 3 Stunden später wurde der nächste Zug mit weiteren 2000 Personen in dem Grenzort erwartet.
Obwohl alle aus Süden ankommenden Züge in dem Kaff Hegyeshalom stoppten, stellte der Grenzübertritt zu Fuß nach Nickelsdorf kein Problem dar. Dieses Vorgehen war für uns irritierend und unverständlich, da letztlich alle Flüchtlinge eh nach Österreich weiterreisen konnten. Die Züge in Hegyeshalom hätten ohne weiteres nach Wien weiterfahren können. Erst der Besuch in Nickelsdorf am nächsten Tag zeigte die Taktik der österreichischen Behörden.
Nickelsdorf - die Militarisierung der Flüchtlingspolitik
Uns drehte sich der Magen um, als wir den Lagerzaun Nickelsdorf erreichten. Alle Zufahrtsstraßen waren durch Polizei abgeriegelt, die Eingänge durch Militär gesichert. Selbst den freiwilligen Helfer_innen blieb das Lager verschlossen. So übergaben bspw. die Teilnehmer der „SOSKonvois“ ihre Hilfsgüter den rumlungernden Polizisten, die diese in das Lager weiterleiteten. Das Lager stellte sich als ein riesiger eingezäunter Parkplatz mit Dixiklos und vereinzelten Großzelten dar. Menschen schliefen im Freien, ungeschützt vor Regen und Sonne. Zum Zeitpunkt unseres Besuches hielten sich dort ca. 5000 Menschen auf. In den folgenden Tagen wurde immer wieder von stetig steigenden Zahlen berichtet. Es ist kaum vorzustellen, wie Menschen auf diesem trostlosen Parkplatz länger verweilen können. Überall auf dem Gelände waren uniformierte und teilweise bewaffnete Militärs mit zugehörigen Fahrzeugen.
Es erschien uns nun als üble Desinformation, dass den Flüchtlingen auf ungarischer Seite gesagt wurde, die Grenze sei offen und sie könnten nach Österreich gehen. Zwar gelangten die Flüchtlinge nach Österreich, wie ihr weiterer Weg verlaufen sollte, blieb im Unklaren. Österreich hält weiterhin an den widerlichen
DublinII Regeln fest. Im zeitgleich stattfindenden Wahlkampf überbieten sich Politiker in aller Öffentlichkeit mit Hassrhetorik. Nickelsdorf – militärisch abgeriegelt - als ein zentrales Lager für die Flüchtenden in Richtung Nordeuropa könnte schnell zu einer aufreibenden und langwierigen Station werden. Wir konnten beobachten, wie ein einzelner Bus Flüchtlinge abholte und wahrscheinlich nach Wien brachte. Gewiss nährte dies die Hoffnung aus dem Lager herauszukommen und führt zu einer stabilen Disziplinierung der Zurückgebliebenen.
Die Botschaft ist greifbar, nur wer sich ruhig verhält und wartet, bekommt die Chance auf eine zügige Weiterfahrt. Das außerhalb der Sichtweite des Lagers 10 leere Busse standen, ist daher nur schlüssig. Was in Europa derzeit passiert ist nicht eine Überforderung, sondern bewusstes Kalkül und Inszenierung der organisierten Hässlichkeit.
Einige Flüchtlinge scheinen über diese Sackgasse in Nickelsdorf informiert, was zu einem absurden Schauspiel vor den Toren des Flüchtlingslagers führte. Dutzende von Taxis sammelten sich auf der nahen Landstraße und warteten auf Flüchtlinge, die über Felder oder am Rand der Autobahn, das Lager umgehen konnten. Die Fahrt ins 50km entfernte Wien für 150€, erklärte uns ein Taxifahrer mit hämisch grinsendem Gesicht und um das schäbige Weltbild zu komplettieren, ergänzte er: Es können ja keine echten Flüchtlinge sein, die könnten sich solch eine Fahrt niemals leisten und Smartphones die größer seien als seins, erst recht nicht. Die Kontaktaufnahme in Nickelsdorf war durch die Abriegelung des Lagers und die Präsenz der unzähligen Taxifahrer (die ihren gewiss kärglichen Lohn, durch die Not der Flüchtlinge aufbessern wollten) kaum möglich. Anders dagegen in Ungarn, hier wurden die Flüchtlinge komplett sich selbst überlassen.
Grenzen überwinden – Mauern einreißen (nächstes Mal)
Mit dem Wissen über die Sackgasse Nickelsdorf beschlossen wir Menschen direkt in Hegyeshalom Fluchtunterstützung anzubieten und fuhren zurück über die Grenze nach Ungarn. Während des Aufräumens, nach Ankunft und Versorgung des letzten Trecks, sprachen wir eine Frau mit zwei Kindern an, die sich etwas abseits befand. Nachdem sie Deutschland als ihr Ziel nannte, entschieden wir, sie bei ihrer Flucht zu unterstützen. Nur eine Minute später saßen wir alle gemeinsam im Auto.
Ein Helfer wurde auf uns aufmerksam, sagte er wolle auch Menschen über die Grenze mitnehmen und ein kurzer Informationsaustausch folgte. Erfreut darüber, dass auch andere gleichgesinnte Hegyeshalom zum Startpunkt ihrer Fluchthilfe gewählt hatten und erstaunt über das sofortige Vertrauen unserer neuen Mitreisenden – allen Sprachbarrieren zum Trotz – starteten wir Richtung Kaltland. Obwohl wir eine Stunde vorher noch über die Autobahn von Österreich nach Ungarn ohne Polizeitkontrolle fahren konnten, entschieden wir uns für einen Umweg über ungarische Landstraßen zu einem kleinen Grenzübergang, den wir problemlos passieren konnten.
Als nützlich erwies sich dabei ein W-Lan Hotspot, den wir in unserem Auto mit Hilfe eines Smartphones aufbauten. Umso zynischer in diesem Licht die Aussage des Taxifahrers am Vormittag. Natürlich ist das Internet besonders in Zeiten sich ständig ändernder Regelungen für Menschen auf der Flucht ein extrem wichtiges Medium. Zu einer funktionierenden Versorgung gehört unserer Meinung demnach auch nicht nur Essen, Trinken und Hygiene sondern eben auch Zugang zu Informationen um Fallstricke wie Nickelsdorf zu umgehen. Letztlich war klar: Es geht nach Passau.Im Nachgang erfuhren wir, dass kurz nach unserer Abfahrt tatsächlich die Autobahn gesperrt wurde. Auf unserer recht zähen Fahrt durch Österreich versuchte unsere Mitfahrerin herauszufinden, wo sich ihre Bekannten und Freunde derzeit in Deutschland aufhielten. Nach langen Tagen konnten sie auch wieder Kontakt zu ihren Familienmitgliedern aufnehmen, die in Jordanien im Lager geblieben waren.
Auch zwischen Deutschland und Österreich finden derzeit massiv Grenzkontrollen statt. Der Zugverkehr wurde teilweise eingestellt und auf Straßen werden regelmäßig Kontrollstellen eingerichtet. Eine Folge davon ist, dass Flüchtende von Schleppern bereits auf der Autobahn ausgesetzt werden.
Wir entschlossen daher auf Umwegen über einen möglichst kleinen Grenzübergang Deutschland zu erreichen. Damit unser Fahrer den Grenzübergang nach Polizeikontrollen checken konnte, brauchten wir einen ruhigen, unauffälligen Ort zum Warten, was wohl in so ziemlich jedem Grenzdörfchen eine schiere Unmöglichkeit darstellt. Auffällig fühlt man sich in dieser Situation sowieso an jeder Ecke und die wenigen Minuten waren wohl für alle die längsten in diesem Abschnitt der Reise. Beim Warten wurde den Kindern erklärt, dass sie sich nun ruhig Verhalten müssten. Unglaublich dabei, wie „Polizei“ schon in so jungem Alter zu einem Signalwort geworden ist, bei dem man nur stumm der Mutter zunicken kann. Offensichtlich gab es keine Grenzkontrollen sondern lediglich einen Streifenwagen der umherpatrouillierte. Wir befanden die Situation für machbar und nahmen die letzte Etappe in Angriff.
In Passau angekommen stellten sich unsere Mitfahrer der Polizei, die mit Bussen und Wannen massiv am Bahnhof vertreten war. Zwar verursachte es uns ein schales Gefühl, trotzdem war klar, dass es für diejenigen, deren Wunsch es ist, ihre Familienmitglieder nachzuholen, die schnellste Möglichkeit darstellt, in das Behördenhamsterrad einzutreten. Jeder Tag, den sie illegal in Deutschland verbringen, ist in diesem Sinne verschenkte Zeit, sofern sie, wie in dieser konkreten Situation, eine Aussicht auf Asyl haben.
Was ist ist - Was nicht ist ist möglich
Wir sind in Gedanken bei dem heute startenden #OpenBordersCaravan und wünschen euch gutes Durchkommen und viel Kraft für die lange Fahrt. Schwierig für uns war, dass wir nur wenige Menschen mitnehmen konnten. Eine größer angelegte Aktion kann nicht nur mehr Menschen an ihr Ziel bringen, sondern auch aus der indivuduellen Unsichtbarkeit eine politische Symbolwirkung für freies Fluten entfalten. Lasst uns die Grenzen niederreißen ohne Aber und Pardon. Mit diesem Text wollen wir Menschen ermutigen im Kleinen wie im Großen Fluchthilfe zu leisten.
Zum Abschuss noch ein paar Basics, die uns wichtig erscheinen:
- Smartphone mit Internet-Prepaid Karte für Europa (inklusive Adapter für Zigarettenanzünder)
- Decken
- genügend Verpflegung für euch und eure Mitreisenden
- Kartenmaterial (analog und digital)
- Warnwesten (ermöglichen Zugang, wo sonst kein Zugang gewährt wird)
- Medi
- plant zu schlafen
- …
alles andere was uns weiterhalf und/oder jetzt wichtig ist:
- GoogleMap zur aktuellen Situation an der Grenze
- Twitter zum heute startenden #OpenBordersCaravan
- Twitter @RefugeeConvoy
- Infotelefon vom SOSkonvoi in Wien +43 676 6309486
- Facebookseite SOSKonvoi facebook.com/SOSkonvoi/timeline?ref=page_internal
wenn ihr Rückfragen habt, antworten wir eventuell auch:
freiesfluten@freenet.de
Offline-Navi fürs Smartphone
Tipp für Android-Smartphones: Die App Maps.me ist kostenlos und ermöglicht es, vorher (z.B. zuhause per WLAN) Karten aufs Handy zu laden.