Erneut wird eine US-Stadt mit Rassenkrawallen konfrontiert: Nur Stunden nach der Beerdigung des Schwarzen Freddie Gray erschüttern Plünderungen und Brände die Metropole. Aktivisten und Bürgerrechtler sind entsetzt.
Die Bilder sind einem inzwischen leider allzu vertraut: Geplünderte Läden, brennende Autos, Steine fliegen, Polizisten rücken auf, in voller Kampfmontur. Die Stadtverwaltung verhängt eine Ausgangssperre, der Gouverneur ruft den Notstand aus und mobilisiert die Nationalgarde.
Diesmal trifft es Baltimore, die "Charm City", ausgerechnet. Als sich die Nacht über die 622.000-Einwohner-Metropole im US-Bundesstaat Maryland legt, verfliegt jede Hoffnung, dass ein Zeichen des Friedens gesetzt werden könnte: mehr als zwei Dutzend Festnahmen, 15 Cops verletzt, zahllose Geschäfte zerstört, ausgeraubt, angezündet.
Doch das sollte erst der Anfang sein. Nach Einbruch der Dunkelheit gehen immer mehr Gebäude in Flammen auf, darunter ein großes, noch im Bau befindliches Altersheim. Die Feuerwehr ruft selbst nach Verstärkung.
Der Frust einer Generation
Es war ein trauriges Déjà-vu: Wieder erschüttern Krawalle eine US-Stadt. Wieder explodiert ein lange schwelender Konflikt zwischen schwarzen Bürgern und der Polizei nach einem sinnlosen Todesfall. Wieder überschattet gewaltsame Randale die friedlichen Proteste. Wieder entlädt sich der Frust einer Generation in der Zerstörung der eigenen Gemeinschaft.
Wenige Stunden zuvor haben sie Freddie Gray zu Grabe getragen, einen 25-jährigen Schwarzen, der starb, nachdem ihm im Polizeigewahrsam Genick und Rückgrat gebrochen waren. In der enormen New Shiloh Baptist Church, unweit der Straßenecke, an der Grays verhängnisvolle Konfrontation mit den Cops begonnen hatte, gaben ihm nun mehr als 2000 Gäste das letzte Geleit - darunter Bürgerrechtler wie Jesse Jackson Jr., Kongressabgeordnete und Vertreter des Weißen Hauses.
Gray lag aufgebahrt in einem offenen, weißen Sarg, ein Kissen trug die Aufschrift: "Peace y'all." Reverend Jamal Harrison Bryant, ein als Stimme der Vernunft stadtbekannter Priester, hielt die Trauerrede. Es war zugleich eine Trauerrede auf das schwarze - das arme - Amerika.
Junge Männer wie Freddie Gray, sagte Bryant, verbrächten ihr Leben ausweglos "in einer Kiste eingesperrt". Die Kiste der amerikanischen Rassen- und Klassengesellschaft: keine Bildung, keine Jobs, keine Chancen. Doch die Medien, rief er, handelten lieber mit Klischees, statt die komplexen Hintergründe zu ergründen: "Es ist einfach für die Nachrichten, junge Leute zu filmen, die randalieren und plündern. Es ist einfach, das zu zeigen, aber ihr erklärt nie, warum das so ist."
Ganze Viertel im Griff der Gangs
Es sollten prophetische Worte sein. Am Abend steht Bryant auf der Straße, entsetzt und empört: "Ausgerechnet heute", keucht er in die Mikrofone der Medien, die er vorher noch gemaßregelt hat. "Dass wir von der Beerdigung in das hier kommen, ist absolut unentschuldbar."
Dabei haben sich die Unruhen angekündigt. Schon vormittags erhält die Polizei nach eigenen Angaben "glaubhafte Drohungen", wonach sich "Mitglieder verschiedener Gangs" - darunter die Bloods und die Crips - gemeinsam verschworen haben, "Polizeibeamte umzulegen".
Trotzdem bleiben die Cops in Mondawmin - dem traditionell schwarzen Viertel Baltimores, in dem Gray damals verhaftet und nun beerdigt wurde - Zeugen zufolge zunächst betont zurückhaltend. Ungestört beginnen die meist jugendlichen Randalierer ihr Verwüstungswerk.
Sie werfen mit Flaschen und Steinen. Sie demolieren Autos, plündern, zerstören und stecken Geschäfte an, ziehen zu einer Shoppingmall, dann Richtung Downtown. Ein Baseballspiel der Baltimore Orioles gegen die Chicago White Sox wird vorsichtshalber abgesagt. Die University of Maryland macht ihren Campus in der Innenstadt dicht.
Im Video: Amateurfilmer dokumentieren Gewalt in Baltimore
"Zu viele Menschen haben Generationen damit verbracht, diese Stadt aufzubauen, nur dass sie nun von Gangstern zerstört wird", klagt die schwarze Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake schockiert, als sie abends vor der Presse eine Ausgangssperre verkündet. Später zieht sie in Begleitung von Gouverneur Larry Hogan durch die brennende Nacht: "Dies ist ein sehr dunkler Tag in der Geschichte unserer Stadt."
Dabei ist dessen Saat offensichtlich - das wahre Problem, aus dem die Gewalt auf beiden Seiten erwächst, nicht erst seit Grays Tod. Seit jeher leidet Baltimore an hoher Kriminalität, landet regelmäßig auf der Liste der gefährlichsten US-Großstädte. Ganze Viertel sind im Griff der Gangs. Nicht umsonst spielte die Krimiserie "The Wire" in Baltimore.
Immerhin: Wenigstens bringt diesmal keiner die Randalierer mit den rund 100.000 Demonstranten in Zusammenhang, die am Wochenende gegen Polizeigewalt protestiert hatten. Bei jenem Marsch gab es nur kleine Handgemenge. Die US-Medienelite ignorierte das sowieso - sie zog es vor, stundenlang vom White House Correspondents Dinner zu berichten, der Selbstbeweihräucherungsgala der Haupstadt-Journaille.
Erst jetzt, da Rauch aufsteigt über Baltimore, schaut die Nation hin.
Es gibt keine Rassen!