Alle haben ständig Angst. Angst vor Terrorismus. Angst vor Migrant_innen. Angst vor Epidemien. Aber eben auch: Angst, nicht mehr mithalten zu können im Hamsterrad. Angst vorm Jobverlust. Angst vorm Versagen. Diese Ängste sind das öffentliche Geheimnis unserer Gesellschaft, so das "Institute for Precarious Consciousness" in diesem erstmals vollständig auf Deutsch vorliegenden Text. Dass die Angst strukturelle Ursachen hat, muss ausgesprochen werden, damit wir Gegenstrategien entwickeln können. Ihr Vorschlag: Mit der Analyse unserer alltäglichen Erfahrungen beginnen, denn nur so werden wir herausfinden, wie wir den Kapitalismus gemeinsam überwinden können.
1: Jede Phase des Kapitalismus verfügt über ihren eigenen, vorherrschenden, reaktiven Affekt 1
Jede Phase des Kapitalismus verfügt über einen bestimmten Affekt, der ihn zusammenhält. Das ist keine statische Situation. Die Vorherrschaft eines bestimmten Affekts2 ist nur so lange aufrechtzuerhalten, bis Strategien des Widerstands formuliert worden sind, die den Affekt und/oder seine gesellschaftlichen Ursachen zerstören können. Daher gerät der Kapitalismus ständig in Krisen und reorganisiert sich um neue vorherrschende Affekte.3
Alle diese Affekte zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein öffentliches Geheimnis sind, etwas, was alle wissen, aber über das niemand redet und das niemand zugibt. Solange der vorherrschende Affekt ein öffentliches Geheimnis ist, bleibt er wirksam und Widerstandsstrategien können nicht entstehen.
Öffentliche Geheimnisse sind typischerweise personalisiert. Das Problem ist nur auf der individuellen, psychologischen Ebene zu beobachten; die sozialen Bedingungen, die das Problem hervorbringen, bleiben verborgen. Jede Phase macht die Opfer verantwortlich für das Leid, welches ihnen das System zufügt. Und ein fundamentaler Teil der Funktionslogik des Systems wird als zufällig und begrenzt dargestellt.
In der Moderne (bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs) war das Elend der vorherrschende Affekt. Dass der Kapitalismus zu allgemeinem Wohlstand führt, war die herrschende Erzählung des 19. Jahrhunderts. Das öffentliche Geheimnis, das mit dieser Erzählung korrespondierte, war das Elend der Arbeiter_innenklasse. Das Öffentlichmachen dieses Elends war die Tat von Revolutionär_innen. Die erste Welle moderner sozialer Bewegungen im 19. Jahrhundert war eine Maschine zur Bekämpfung des Elends. Mit Taktiken wie Streiks, Lohnkämpfen, politischer Organisation, gegenseitiger Hilfe, Kooperativen und Streikkassen wurde die Macht des Elends durch die Sicherstellung einer sozialen Mindestsicherung effektiv überwunden. Einige dieser Strategien wirken immer noch bei der Bekämpfung des Elends.
Als Elend nicht mehr als Kontrollstrategie funktioniert hat, wechselte der Kapitalismus zur Langeweile. Mitte des 20. Jahrhunderts besagte die vorherrschende gesellschaftliche Erzählung, dass der Lebensstandard, welcher den Zugang zu Konsum, Gesundheitsversorgung und Bildung erleichterte, anstieg. In den reichen Ländern waren alle glücklich, und die armen Länder waren auf dem Weg zu wirtschaftlicher Entwicklung. Das öffentliche Geheimnis war, dass sich alle langweilten. Das war ein Effekt des fordistischen Systems, welches bis in die 1980er Jahre vorherrschend war; das System basierte auf lebenslanger Vollzeitbeschäftigung, den Garantien des Sozialstaats, Massenkonsum, Massenkultur, und der Einbindung der Arbeiter_innenbewegung, die einst aufgebaut worden war, um das Elend zu bekämpfen. Arbeitsplatzsicherheit und soziale Absicherung reduzierten Angst und Elend, aber die Jobs waren langweilig und bestanden aus einfachen, repetitiven Aufgaben. Der Kapitalismus in der Mitte des letzten Jahrhunderts bot alles Überlebensnotwendige, aber er eröffnete keine Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung; das System basierte auf der Zwangsernährung seiner saturierten Bevölkerung.
Selbstverständlich hatten nicht alle Arbeiter_innen im Fordismus feste oder sichere Jobs, aber dies war das zentrale Modell, um das herum das System arrangiert war. In dieser Phase gab es drei Deals, der sogenannte B-Arbeiter_innen-Deal — Langeweile für Sicherheit — steht exemplarisch für das Zusammentreffen von Fordismus und Langeweile. Der B-Arbeiter_innen-Deal ist größtenteils beseitigt worden, weshalb heute eine große Lücke zwischen den A- und C-Arbeiter_innen (die Insider der Konsumgesellschaft sowie die autonomen und unsicheren Außenseiter_innen) klafft.
2: Der aktuelle Widerstand entstand in den 1960er Jahren als Reaktion auf den vorherrschenden Affekt der Langeweile
Wenn jede Phase des herrschenden Systems über einen vorherrschenden Affekt verfügt, dann benötigt jede Phase des Widerstands Strategien, um diesen Affekt zu besiegen oder aufzulösen. Wenn die erste Welle sozialer Bewegungen eine Maschine zur Bekämpfung des Elends war, dann war die zweite Welle (der 1960er und 1970er Jahre oder, weitergefasst, der 1960er – 90er ) eine Maschine zur Bekämpfung der Langeweile. Unsere eigenen Bewegungen entstanden während dieser Welle, die weiterhin einen Großteil unserer Theorien und Praktiken beeinflusst.
Die meisten Taktiken unserer Zeit waren und sind Fluchtwege aus dem Kreislauf von Arbeit, Konsum und Tod. Die Situationist_innen waren Wegbereiter_innen einer ganzen Serie von Taktiken gegen die Langeweile. Sie verkündeten: „Wir wollen keine Welt, in der die Garantie, nicht zu verhungern, mit der Gefahr erkauft wird, vor Langeweile zu sterben.“ Die Autonomia bekämpfte die Langeweile durch die Verweigerung der Arbeit, sowohl in der Arbeit (durch Sabotage und Bummelstreiks) als auch gegen sie (durch Faulenzen und Aussteigen). Diese Protestformen waren Teil eines weitverbreiteten gegenkulturellen Exodus aus den herrschenden Formen langweiliger Arbeit und langweiliger sozialer Rollen.
In der feministischen Bewegung der 1960er entstand die Theorie von der systembedingten „Malaise der Hausfrau“. Später kamen, auch durch Texte und Aktionen (von „Der Mythos vom vaginalen Orgasmus“ bis zu den öffentlichen Treffen der Redstockings zu Abtreibungen), weitere Ursachen für Unzufriedenheit ans Tageslicht. Ähnliche Tendenzen lassen sich beim Theater der Unterdrückten, der kritischen Pädagogik, den Hauptformen der direkten Aktion (karnevalesk, militant und pazifistisch) und noch in den Bewegungen der 1990er, wie z. B. der Free-Party-Bewegung, Reclaim the Streets, der Do-it-yourself-Kultur und der Hacker-Kultur, beobachten.
Die Neuorientierung vom Elend zur Langeweile war für das Entstehen einer neuen Welle der Revolte entscheidend. Wir befinden uns am Ende dieser Welle. Ebenso wie die Taktiken der ersten Welle nach wie vor gegen das Elend wirken, wirken die Taktiken der zweiten Welle immer noch gegen die Langeweile. Schwierigerweise sind wir seltener mit der Langeweile als Hauptgegner konfrontiert. Deshalb steckt militanter Widerstand zurzeit in einer Sackgasse fest.
3: Der Kapitalismus hat den Kampf gegen Langeweile weitgehend absorbiert
Im Kampf gegen die Langeweile erobertes Terrain musste teilweise wieder aufgegeben werden. Der Kapitalismus folgte dem Exodus an Orte jenseits der Arbeit und schuf so die gesellschaftliche Fabrik, ein Feld, auf dem die ganze Gesellschaft wie ein Arbeitsplatz organisiert ist. Die Prekarität wird genutzt, um Menschen auf dem vergrößerten Feld der Arbeit, das jetzt die ganze gesellschaftliche Fabrik beinhaltet, wieder zur Arbeit zu zwingen.
Hierfür lassen sich zahlreiche Fälle anführen. Firmen haben das Modell flacher Hierarchien übernommen und regen ihre Angestellten nicht nur an, ihre Arbeit selbst zu verwalten, sondern gleich ihre Seele zu investieren. Die Konsumgesellschaft hält eine größere Bandbreite an Nischenprodukten und Angeboten zur ständigen Zerstreuung bereit, welche nicht mehr so stark wie zuvor durch den Massengeschmack bestimmt sind. Neue Produkte, wie Videospiele und Social Media, basieren auf mehr aktiver, individueller Mitwirkung und führen zugleich zu sozialem Rückzug. Erfahrungen in der Arbeit unterscheiden sich sowohl durch Mikro-Lohnanpassungen und Leistungsmanagement als auch durch die Verbreitung von Gelegenheitsjobs und quasi-selbstständigen Arbeitsbedingungen an den Rändern des Kapitalismus immer stärker voneinander. Der Kapitalismus hat das Wachstum obsessiv gepflegter, medialer Zweitidentitäten – das Selbst, wie es sich durch soziale Medien, sichtbaren Konsum und lebenslanges Lernen darstellt – begünstigt. Viele Formen des Widerstands der vorherigen Phase wurden neutralisiert oder als handzahme Version wiederbelebt, nachdem das Original unschädlich gemacht worden war: zum Beispiel ersetzen die kommerzielle Disco und das Musikfestival den illegalen Rave.
4: Angst ist der vorherrschende, reaktive Affekt im Kapitalismus der Gegenwart
Das öffentliche Geheimnis ist, dass heute alle Angst haben. Angst hat sich von zuvor eingegrenzten Bereichen (wie der Sexualität) auf das Ganze des sozialen Feldes ausgedehnt. Angst drückt allen Formen von Intensität, Selbstdarstellung, emotionaler Verbindung, Dringlichkeit und Vergnügen ihren Stempel auf. Angst ist der Dreh- und Angelpunkt der Unterordnung geworden.
Die facettenreiche Omnipräsenz des Überwachungsnetzes spielt eine große Rolle in der gesellschaftlichen Festigung der Angst. Der Geheimdienst, Überwachungskameras, die beständige Evaluation der Arbeitsleistung, das Jobcenter, das Privilegiensystem im Gefängnis, die regelmäßige Überprüfung und Bewertung der jüngsten Schulkinder. Aber dieses sichtbare Netz ist nur die äußere Schale.
Wir müssen darüber nachdenken, wie die neoliberale Vorstellung von Erfolg dazu führt, dass der Großteil der Bevölkerung die Überwachungsmechanismen, die sich in die Subjektivitäten und Lebensgeschichten einschreiben, verinnerlicht. Wir müssen darüber nachdenken, wie die wissentliche und vordergründig freiwillige Selbstexponierung durch Social Media, sichtbaren Konsum und Positionierung auf dem Meinungsfeld auch eine Performance unter dem immerwährenden Blick eines virtuellen anderen ist. Wir müssen darüber nachdenken, wie dieser Blick verändert, wie wir uns finden, messen und kennen, als Darsteller_innen einer niemals endenden Aufführung. Im Gegenzug beeinflusst unser Erfolg in dieser Aufführung alles, von der Möglichkeit, menschliche Wärme zu spüren, bis zur Finanzierung unseres Lebensunterhaltes durch Einkommen oder durch Kredite. Das Feld der medialen Überwachung breitet sich bis in die letzten Nischen aus, während öffentlicher Raum bürokratisiert und privatisiert wird. Immer mehr menschliche Aktivitäten werden kriminalisiert, weil sie Risikofaktoren, Sicherheitsgefährdungen, Belästigungen, Einschränkungen der Lebensqualität oder antisoziales Verhalten darstellen.
In diesem zunehmend Sicherheitsaspekten unterworfenen und einsehbaren Feld wird von uns verlangt zu kommunizieren. Das Unkommunizierbare wird ausgeschlossen. Weil alle ersetzbar sind, kann das System jede Person jederzeit abkoppeln. In einer Situation, in der Alternativen im Vorhinein ausgeschlossen sind, hat die gewaltsame Abkopplung die Desozialisation4 zur Folge, was zu einer absurden Nichtwahl zwischen desozialer Inklusion und desozialer Exklusion führt. Diese Drohung manifestiert sich im Kleinen in den heutigen Disziplinartechniken – von der Time-out-Technik und Internetsperren bis Kündigungen und Sanktionen beim Amt – und kulminiert in der drakonischen Isolationshaft, wie es sie in Gefängnissen gibt. Solche Regime sind der Nullpunkt der Kontrolle durch Angst: In einer Umgebung ständiger Gefahr werden alle Koordinaten der Zusammengehörigkeit ausgelöscht, um den Zusammenbruch der Persönlichkeit hervorzurufen.
Der gegenwärtig vorherrschende Affekt der Angst ist auch als Prekarität bekannt. Prekarität ist eine Art der Unsicherheit, die es erlaubt, Menschen als austauschbar zu behandeln, um Kontrolle auszuüben. Prekarität unterscheidet sich vom Elend insofern, als die Lebensnotwendigkeiten nicht schlicht abwesend sind. Sie sind vorhanden, allerdings ist der Zugang zu ihnen an Bedingungen geknüpft.
Prekarität führt zu verallgemeinerter Hoffnungslosigkeit; einer konstanten, körperlichen Angespanntheit ohne Erholung. Eine wachsende Zahl junger Menschen lebt noch zu Hause. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung – über 10 % in Großbritannien – nimmt Antidepressiva. Die Geburtenrate sinkt, da viele Menschen, unter dem Eindruck der Unsicherheit, der Familiengründung abgeneigt sind. In Japan verlassen Millionen junger Menschen – die Hikikomori – niemals ihre Wohnungen, während sich wortwörtlich zu Tode zu arbeiten die Ausmaße einer Epidemie angenommen hat. Umfragen zeigen, dass die Hälfte der britischen Bevölkerung Einkommensunsicherheit erlebt. Wirtschaftliche Aspekte des Systems beinhalten schlanke Produktion, Finanzialisierung und daraus resultierend Schuldsklaverei, rasante Kommunikation und Kapitalabwanderung und die Globalisierung der Produktion. Es wird immer üblicher, dass sich alle gegenseitig an ihren Arbeitsplätzen beobachten, denken wir etwa an Call Center. Dort wird versucht die erforderliche „Serviceorientierung“ aufrechtzuerhalten sowie die ständigen Tests und Überprüfungen der quantitativen Zielvorgaben (Zahl der Anrufe) zu überstehen. Zudem wird den meisten Arbeiter_innen ein fester Job verweigert (sie müssen sechs Monate arbeiten, um einen Job zu bekommen, anstatt ausgebildet zu werden). Image Management führt dazu, dass die Kluft zwischen den offiziellen Regularien und dem, was wirklich passiert, größer als je zuvor ist. Und das Klima nach Nine-Eleven leitet diese weitverbreitete Angst in die globale Politik.
5: Angst ist ein öffentliches Geheimnis
Übermäßige Angst und Stress sind ein öffentliches Geheimnis. Wenn überhaupt darüber gesprochen wird, werden sie als individuelle, psychologische Probleme verstanden, für die oft gestörte Denkmuster oder mangelnde Anpassung verantwortlich gemacht werden.
Die herrschende gesellschaftliche Erzählung suggeriert sogar, dass wir mehr Stress brauchen, um abgesichert (durch Securitization5) und konkurrenzfähig (durch Leistungsmanagement) zu bleiben. Jede moralische Panik, jedes Durchgreifen der Regierung oder jede neue repressive Gesetzeswelle erzeugt mehr, aus der allgemeinen Überregulierung entstehende, Angst und Stress. Reale menschliche Unsicherheit wird für die wachsende Securitization genutzt. Dies ist ein Teufelskreis, weil Securitization die Zustände (Ersetzbarkeit, Überwachung, intensive Regulierung) verschlimmert, die die ursprüngliche Angst auslösen. Die Sicherheit des Heimatlandes wird faktisch als Substitut für die Sicherheit des Selbst benutzt. Auch dafür gibt es Vorbilder: Die nationale Begeisterung wurde als Kompensation für das Elend genutzt und der globale Krieg, um die von der Langeweile erzeugte Frustration zu kanalisieren.
Angst wird auch nach unten kanalisiert. Der Verlust der Kontrolle über das eigene Leben führt zum zwanghaften Bemühen, durch Mikromanagement Kontrolle über irgendetwas oder irgendwen wiederzuerlangen. Erziehungstechniken werden zum Beispiel als Mittel beworben, die Angst der Eltern zu verringern, weil sie klare Handlungsanweisungen bieten, die die Eltern befolgen können. Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene befeuern latente Ängste, die aus der Prekarität entstehen, obsessive Projekte sozialer Regulation und sozialer Kontrolle. Diese latente Angst wird zunehmend auf Minderheiten projiziert.
Angst wird auf unterschiedliche Arten personalisiert: vom Diskurs der Neuen Rechten, der die Armen für ihre Armut verantwortlich macht bis zu modernen Therapien, die Angst als neurologisches Ungleichgewicht oder dysfunktionale Denkweise behandeln. Hundert Varianten des Managementdiskurses – Zeitmanagement, Wutmanagement, Erziehungsmanagement, Selbstvermarktung – bieten ängstlichen Subjekten die Illusion von Kontrolle im Austausch für immer mehr Konformität mit dem kapitalistischen Modell von Subjektivität. Und viele weitere Diskurse über Sündenböcke und Kriminalisierung behandeln Prekarität als eine Frage von abweichendem Verhalten, Verantwortungslosigkeit oder pathologischer Selbstausgrenzung. Viele dieser Diskurse bemühen sich, den Überbau des Fordismus (Nationalismus, soziale Integration) ohne seine Basis (eine Nationalwirtschaft, Sozialstaat, Arbeit für alle) aufrechtzuerhalten. Der Glaube an die individuelle Verantwortlichkeit, der Schutzlosigkeit und Austauschbarkeit verstärkt, ist für diesen Backlash charakteristisch. Darüber hinaus gibt es noch das Geschäft mit dem Selbstwertgefühl, die Welle der Medienberichte, in denen den Menschen erzählt wird, wie sie durch positives Denken erfolgreich werden können, als wären die Quellen von Angst und Frustration bloße Illusion. Das weist auf die Tendenz hin, sowohl die Probleme, die mit der Arbeit im Zusammenhang stehen, als auch jene, die die Psychologie betreffen, zu privatisieren.
Wir haben oben argumentiert, dass Menschen sozial isoliert sein müssen, damit das öffentliche Geheimnis wirksam bleibt. Das ist in der gegenwärtigen Situation der Fall, in der authentische Kommunikation immer seltener wird. Kommunikation durchdringt mehr Bereiche als je zuvor, aber es wird zunehmend über Kanäle kommuniziert, die das System verwaltet. Daher werden Menschen auf vielfältige Weise von tatsächlicher Kommunikation abgehalten, obwohl das System verlangt, dass alle vernetzt und kommunikationsbereit sind. Menschen passen sich der Forderung zu kommunizieren eher an, als dass sie ihre wahren Gedanken ausdrücken und unterwerfen sich in verwalteten Räumen einer Selbstzensur. Ebenso lindert affektive Arbeit nicht die Angst; das Leiden der Arbeiter_innen wird verschlimmert und als Konsument_innen werden sie lediglich abgelenkt (Untersuchungen haben ergeben, dass es zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen führt, wenn Arbeiter_innen Zufriedenheit vortäuschen müssen).
Das Ausmaß der Kommunikation ist irrelevant. Die Neuzusammensetzung – Neuverbindung – der befreienden sozialen Kräfte kann nicht von statten gehen, bis es Kanäle gibt, auf denen das öffentliche Geheimnis mitgeteilt werden kann. So gesehen sind Menschen heutzutage im Grunde so allein wie nie zuvor. Für die meisten Menschen ist es schwierig, die Realität ihrer Erlebnisse und ihrer Gefühle anzuerkennen. Alles muss quantifiziert oder vermittelt werden (quasi medial übertragen) oder – was uns betrifft – bereits als politisch anerkannt werden, um als echt zu gelten. Das öffentliche Geheimnis erfüllt diese Kriterien nicht und bleibt daher unsichtbar.
6: Die gängigen Taktiken und Theorien wirken nicht. Wir brauchen neue Taktiken und Theorien, um die Angst zu bekämpfen.
Wenn Mobilisierungen und tatsächlicher sozialer Wandel beginnen, fühlen sich Menschen ermächtigt. Sie haben die Möglichkeit sich frei auszudrücken, sie erleben eine gewisse Authentizität und dass Repression und Entfremdung zurückgedrängt werden. Das kann Depression und psychologische Probleme wirksam bekämpfen; sozusagen ein Hochgefühl. Das ist es, was politischer Aktivität Kraft gibt.
Solche Erfahrungen sind in den letzten Jahren viel seltener geworden.
Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf zwei verwandte Entwicklungen: Prävention und Bestrafung durch Verfahren. Präventive Taktiken stoppen Proteste bevor sie beginnen oder bevor sie etwas erreichen können. Kessel, Massengewahrsam, Personenkontrollen und Durchsuchungen, Abriegelung von Straßenzügen, Hausdurchsuchungen und Polizeigewahrsamnahmen sind Beispiele solcher Taktiken. Bestrafung durch Verfahren findet statt, wenn Menschen durch Verfahren, die für andere Zwecke entwickelt wurden, Angst, Schmerz oder Verletzlichkeit ausgesetzt werden. Dazu gehört, Menschen vor ihrer Anklage oder ihrem Gerichtsverfahren strenge, ihren Alltag störende Kautionsauflagen zu erteilen, der Gebrauch von Flugverbots- und Ausreiseverbotslisten, um bekannte Dissident_innen zu schikanieren, das Durchführen brutaler Hausdurchsuchungen im Morgengrauen, das unnötige Veröffentlichen von Porträtfotos in der Presse, Gewahrsamnahmen auf Verdacht (manchmal gleichzeitig zur Erfüllung von Quoten), das Anwenden von Schmerzgriffen oder die Bekanntmachung unter der Hand, dass jemand überwacht wird. Hat sich die Furcht vor staatlichen Eingriffen erst einmal verbreitet, wird sie verstärkt durch ein Netz sichtbarer Überwachung, das sich über den kompletten öffentlichen Raum erstreckt und als strategisch angeordneter Auslöser von Trauma und Angst fungiert.
Es gibt viele Horrorgeschichten über die Auswirkungen solcher Taktiken, die als Fallbeispiele dienen können: Menschen, die jahrelang auf ihre Gerichtsverhandlung warten mussten und nach ihrem Freispruch ein nervliches Wrack waren, die nach Monaten ohne Kontakt zu Freund_innen und Familie Selbstmord begingen oder nach Misshandlungen Angst haben, vor die Tür zu gehen. Die Auswirkungen sind genauso real, als würde der Staat Menschen töten oder verschwinden lassen, aber sie werden größtenteils unsichtbar gemacht. Zudem sind viele Radikale prekär beschäftigt oder auf das strafende Regime des Sozialstaats angewiesen. Wir versagen dabei, der verallgemeinerten Produktion der Angst zu entkommen.
Wenn die erste Welle eine Maschine zur Bekämpfung des Elends und die zweite eine Maschine zur Bekämpfung der Langeweile bereitstellte, dann brauchen wir heute eine Maschine zur Bekämpfung der Angst, die wir aber noch nicht haben. Wenn wir den Standpunkt der Angst beibehalten, haben wir noch nicht „die Umkehrung der Perspektive“, wie die Situationist_innen es nannten, vollzogen, die die Wünsche statt der Macht zum Ausgangspunkt macht. Die heutigen Formen des Widerstands sind größtenteils im Kampf gegen die Langeweile entstanden und funktionieren nicht mehr, weil Angst Langeweile ersetzt hat.
Der derzeitige Widerstand bekämpft die Angst nicht und kann es auch gar nicht. Er begibt sich häufig absichtlich in Situationen starker Angst. Insurrektionalist_innen6 überwinden die Angst, indem sie negative Affekte in Wut verwandeln und die Wut als motivierenden Affekt zum Angriff nutzen. In vielerlei Hinsicht entsteht so eine Alternative zur Angst. Allerdings ist es für Menschen schwer, aus Angst Wut zu entwickeln und häufiger geschieht durch Traumata das Gegenteil. Uns ist eine gewisse Tendenz bei Insurrektionalist_innen aufgefallen, die psychologischen Hürden nicht ernst zu nehmen, die Menschen von militanten Aktionen abhalten. Sie neigen dazu „Mach's doch einfach!“ zu antworten. Aber Angst ist eine reale, materielle Kraft und kein Hirngespinst. Selbstverständlich haben die Ursachen oft mit Hirngespinsten zu tun, aber aus dem Griff dieser Hirngespinste kann sich nur höchst selten durch bewusstes Zurückweisen gelöst werden. Eine ganze Reihe psychologischer Blockaden liegt der scheinbaren Macht der Hirngespinste zugrunde, die letztendlich Folgen des reaktiven Affekts sind. „Mach's doch einfach!“ zu sagen, ist wie zu einem Menschen mit gebrochenem Bein „Lauf doch einfach!“ zu sagen.
Die Situation fühlt sich hoffnungslos und unausweichlich an, aber das ist sie nicht. Sie fühlt sich wegen der Folgen der Prekarität so an: andauernder, starker Stress, die Reduzierung der Zeit auf eine ewige Gegenwart, die Verletzlichkeit jedes vereinzelten (oder systemisch, medial vermittelten) Individuums, die Überlegenheit des Systems in allen Sphären des sozialen Raums. Strukturell ist das System verletzbar. Die Abhängigkeit von der Angst ist eine verzweifelte Maßnahme in Ermangelung stärkerer Formen der Konformität. Der Versuch des Systems am Leben zu bleiben, indem es Menschen das Gefühl gibt machtlos zu sein, erzeugt unerwartete Risse und den Ausbruch von Aufständen. Wie schaffen wir es jetzt, uns nicht mehr ohnmächtig zu fühlen?
7: Wir brauchen eine neue Art prekaritätsorientierter Bewusstseinsbildung
Um der Angst etwas entgegensetzen zu können, müssen wir noch mal ganz von vorne anfangen. Wir müssen unseren Fundus an Wissen und Theorien von Grund auf erneuern. Zu diesem Zweck müssen wir massenhaft Diskussionen führen, die die Schnittpunkte darstellen zwischen den Erfahrungen mit der gegenwärtigen Situation und Theorien ihrer Transformation. Wir müssen diesen Prozess mit allen ausgeschlossenen und unterdrückten Schichten der Bevölkerung beginnen. Aber es gibt keinen Grund, warum wir nicht mit uns selbst beginnen sollten.
Um die Möglichkeit für solche Praxen zu ermitteln, hat das „Institute“ Nachforschungen zu ähnlichen Versuchen angestellt. Aus einer Untersuchung der Schilderungen feministischer Bewusstseinsbildung in den 1960er und 1970er Jahren haben wir die folgenden zentralen Merkmale zusammengefasst:
Schaffung einer neuen, auf Erfahrungen bezogenen Theorie
Wir müssen uns wieder mit unseren Erfahrungen beschäftigen, statt mit den Theorien vergangener Phasen. Die Idee ist, dass die Wahrnehmung unserer eigenen Situationen veranschaulicht werden muss, da sie durch herrschende Vorannahmen blockiert oder eingeengt wird. Der Fokus sollte auf den Erfahrungen liegen, die mit dem öffentlichen Geheimnis in Beziehung stehen. Solche Erfahrungen müssen erzählt und gesammelt werden – zuerst in Gruppen und dann öffentlich.
Anerkennung der Realität und der systemischen Natur unserer Erfahrungen
Die Überprüfung der Realität unserer Erfahrungen ist hiervon ein wichtiger Teil. Wir müssen uns vergewissern, dass unser Schmerz tatsächlich Schmerz ist, dass das, was wir sehen und fühlen real ist und dass unsere Probleme nicht nur persönliche sind. Manchmal bedeutet das, Erfahrungen zu durchleben, die wir nicht berücksichtigt oder unterdrückt hatten. Manchmal bedeutet das, die Personalisierung der Probleme anzugehen.
Transformation der Gefühle
Menschen werden von unnennbaren Gefühlen und davon, dass sie sich allgemein Scheiße fühlen, gelähmt. Diese Gefühle müssen in ein Empfinden von Ungerechtigkeit verwandelt werden, in eine Wut, die weniger verbittert und dafür fokussierter ist, in Selbstentfaltung und in die Reaktivierung von Widerstand.
Die Stimme erheben
Die Kultur des Schweigens, die das öffentliche Geheimnis umgibt, muss beendet werden. Existierende Vorannahmen müssen in Frage gestellt und der Bulle im Kopf muss rausgeschmissen werden. Durch das Erheben der Stimme legt die sprechende Person, und nicht mehr das System, Zeugnis über Wahrheit und Wirklichkeit ab und trägt so zu einem Perspektivenwechsel bei – die Welt wird aus der eigenen Perspektive und eingedenk der eigenen Wünsche betrachtet, statt durch das System vermittelt. Die Verknüpfung unterschiedlicher Erlebnisse und Geschichten ist ein wichtiger Weg zur Wiedererlangung der Stimme. Der Prozess beinhaltet sowohl das Aussprechen als auch das Vermitteln.
Konstruktion eines Raums ohne Entfremdung
Soziale Separation wird durch die Existenz eines solchen Orts reduziert. Der Raum bietet kritische Distanz zum eigenen Leben und eine Art emotionales Sicherheitsnetz, um Transformationen zu erproben und Ängste abzubauen. Er sollte nicht einfach eine Selbsthilfemaßnahme sein, um existierende Aktivitäten aufrechterhalten zu können, sondern ein Ort zur Rekonstruktion einer radikalen Perspektive.
Analyse und Theorie struktureller Ursachen, die auf ähnlichen Erfahrungen basieren
Es geht nicht darum, von Erlebnissen zu erzählen, sondern darum, sie durch Theoretisierung zu transformieren und zu restrukturieren. Teilnehmende verändern die herrschende Bedeutung ihrer Erfahrungen, indem sie sie unterschiedlichen Annahmen zuordnen. Dies geschieht häufig, wenn Muster in Erlebnissen entdeckt werden, die zu befreiender Theorie in Beziehung stehen und wenn persönliche Probleme sowie kleine Ungerechtigkeiten als Symptome weitverbreiteter, struktureller Probleme erkannt werden. Das führt zu einer neuen Perspektive, einem Vokabular von Motiven; einem anti-anti-politischen Horizont.
Das Ziel besteht darin, dass es Klick macht. Das ist der Moment, in dem das Verhältnis der strukturellen Ursachen der Probleme zu den eigenen Erfahrungen plötzlich Sinn ergibt. Dieses Klicken fokussiert und transformiert die Wut. Besseres Verstehen kann im Gegenzug psychologischen Druck abbauen und macht es leichter mit Wut, statt mit Depression oder Angst zu reagieren. Es kann sogar möglich sein, solche Gruppen als Form der Selbsthilfe zu bewerben und Menschen, die die anpassungsorientierten und Selbstwert steigernden Therapien ablehnen, zu ermutigen, sich ihnen anzuschließen.
Das Resultat wäre eine Bezugsgruppe, die eher auf Perspektive und Analyse, als auf Aktion ausgerichtet ist. Es muss allerdings weithin anerkannt sein, dass diese neue Wahrnehmung in irgendeine Form von Aktion mündet; sonst wäre das nur frustrierend und introspektiv.
Diese Strategie wird unserer Praxis auf unterschiedliche Weise helfen. Erstens können wir in diesen Gruppen potenzielle Kompliz_innen finden. Zweitens können sie Menschen auf zukünftige Momente der Revolte vorbereiten. Drittens haben sie das Potenzial, das gesamte Feld öffentlicher Meinung in einer Art und Weise zu verändern, dass Aktionen erleichtert werden. Sie könnten dafür sorgen, dass radikale und dissidente Konzepte geläufig werden, was sie den meisten Menschen heute nicht sind.
Angst wird verstärkt durch die Tatsache, dass niemals klar ist, was der Markt von uns will und dass die unspezifischen Forderungen, die unsere Konformität herbeiführen sollen, von uns nicht antizipiert werden können. Selbst die konformsten Menschen sind heutzutage ersetzbar, etwa wenn neue Managementtechnologien oder Produktionstechniken eingeführt werden. Eine der Funktionen der Kleingruppendiskussionen und der Bewusstseinsbildung ist es, eine Perspektive zu entdecken, von der aus die Situation interpretiert werden kann.
Ein Hauptproblem wird sein, unter dem Eindruck knapper Zeit und vielfältiger anderer Aufgaben, verbindlich und regelmäßig Zeit zu investieren. Der Prozess hat eine geringere Geschwindigkeit und eine stärkere menschliche Ebene als heutzutage kulturell akzeptiert ist. Allerdings kann die Tatsache auch attraktiv sein, dass Gruppen eine Atempause von alltäglichen Konflikten bieten und vielleicht wirkt ein ruhigerer Stil der Interaktion und des Zuhörens entlastend. Teilnehmende müssten wieder lernen mit ihrer eigenen Stimme zu sprechen (statt eine neoliberale Performance aufzuführen, die dem Drang banale Informationen zu teilen, entstammt), zuzuhören und zu analysieren.
Die Komplexität der Erfahrungen ist ein weiteres Problem. Persönliche Erfahrungen sind auf Grund der nuancierten Diskriminierungen, die in den semio-kapitalistischen7 Code eingebaut sind, ungemein ausdifferenziert. Deshalb ist der analytische Teil des Prozesses besonders wichtig. In erster Linie sollte der Prozess neue Vorschläge zu den Ursachen der Angst entwickeln. Diese Vorschläge können die Grundlage sein für neue Formen der Kämpfe, neue Taktiken und das Aufbäumen einer aktiven Kraft gegen die gegenwärtige Unterdrückung: eine Maschine zur Bekämpfung der Angst.
Institute for Precarious Consciousness
Übersetzung von Zweiter Mai
Dieser Text vom "Institute for Precarious Consciousness" erschien erstmals im April 2014 auf der Seite der britischen Gruppe Plan C. In der analyse & kritik vom August 2014 wurde bereits eine stark gekürzte Übersetzung von TOP B3rlin veröffentlicht.
Fußnoten:
1. Affekt wird definiert als Gefühls- und Gemütsbewegung von großer Brisanz, geringer Latenz und energisierender Dynamik (Motivation), einhergehend mit eingeengter Wahrnehmung (Aufmerksamkeitsverzerrungen und Tunnelblick), ggf. einer Überforderung der Willenskontrolle und starker Ausdruckskraft. Dazu kommt eine Beteiligung des motorischen und vegetativen Nervensystems sowie eine Beteiligung des Systems der sog. Botenstoffe und der Hormone. Vereinfacht gesagt handelt es sich um ein psychosomatisches Ereignis mit kommunikativen, motivationalen und kognitiven Folgen. Positiver Affekt geht bspw. mit verstärktem Lächeln, Annäherungsverhalten und heuristischer Informationsverarbeitung einher, negativer Affekt mit missbilligendem Gesichtsausdruck, Vermeidungsverhalten und systematischer Informationsverarbeitung. (Anm. d. Ü.)
2. Wir benutzen den Begriff „vorherrschender Affekt“ nicht, um zu sagen, dass das der einzig wirksame reaktive Affekt ist. Der neue vorherrschende Affekt kann zu anderen Affekten in einer dynamischen Beziehung stehen: eine Call-Center-Agentin ist gelangweilt und miserabel bezahlt, aber durch ihre Angst verharrt sie in dieser Situation und die Angst verhindert alte Strategien, wie gewerkschaftliche Organisierung, Sabotage und Aussteigen.
3. Unsere Diskussion ist nicht vollständig auf den Globalen Süden übertragbar. Im Süden finden wir die spezifische Situation vor, dass die dominierenden kapitalistischen Gesellschaftsformen mit früheren Phasen des Kapitalismus oder vorkapitalistischen Systemen koexistieren, statt sie komplett zu ersetzen. Kämpfe gegen Elend und Langeweile sind deswegen im Süden wirkungsvoller. Der Süden durchlebte mannigfaltige Erscheinungsweisen der Prekarität, die sich von früheren Zeiten unterschieden: die erzwungene Abkoppelung ganzer Weltregionen vom globalen Kapitalismus (besonders in Afrika) und das damit einhergehende, gewaltige Wachstum des informellen Sektors, welcher jetzt den formellen Sektor fast überall in den Schatten stellt. Der informelle Sektor bereitet autonomen Politiken fruchtbaren Boden, was sich an Beispielen wie El Alto (einer selbstorganisierten Stadt aus informellen Siedlungen, die für die sozialen Bewegungen in Bolivien von großer Bedeutung ist), dem Aufstand der Zapatistas (der zu autonomen, indigenen Gemeinschaften in Chiapas führte) und Abahlali baseMjondolo (einer autonomen Bewegung der Bewohner_innen informeller Siedlungen in Südafrika) zeigen lässt. Es könnte durchaus von kollektivierter Prekarität gesprochen werden, weil der Staat zum Beispiel die informellen Siedlungen abreißen lassen, die Straßenhändler_innen enteignen oder gegen gesetzwidrige Aktivitäten hart durchgreifen kann – und das auch regelmäßig tut. Bezeichnenderweise wurde der Aufstand in Sidi Bouzid durch die Selbstverbrennung eines Straßenhändlers ausgelöst, der staatlicher Enteignung ausgesetzt worden war. Der Aufstand weitete sich später zum Arabischen Frühling aus. Dieser Sektor wird gewöhnlich von hierarchisch organisierten Gangs oder Flügeln autoritärer Parteien (wie den Muslimbrüdern) kontrolliert.
4. Abbau oder Verlust sozialer Kontakte (Anm. d. Ü.)
5. Als Securitization wird in den Sozialwissenschaften ein Prozess bezeichnet, mit dem etwas im Rahmen eines sozialen Deutungsprozesses als sicherheitsrelevant gekennzeichnet – also „versicherheitlicht“ – wird. Insbesondere die Politik, aber auch andere diskursmächtige Akteure vollziehen den (Sprech-)Akt der Versicherheitlichung, indem sie etwas gegenüber einem Publikum als bedroht oder bedrohlich identifizieren und es so überhaupt erst sicherheitsrelevant machen.(Anm. d. Ü.)
6. Insurrektionalismus oder Aufständischer Anarchismus ist eine anarchistische Strömung, die den Gedanken der Rebellion in den Vordergrund stellt. (Anm. d. Ü.)
7. Im Semio-Kapitalismus, also Kapitalismus der Zeichen, nimmt die Produktion und der Tauschwert von abstrakten Zeichen die Rolle der Herrschaft in der gesamten Vermehrung des Kapitals ein und es werden vorwiegend immaterielle Güter (etwa Wissen) produziert. (Anm. d. Ü.)
Alles Gut aber ein Kleiner aber wichtiger Fehler
Ihr verwechselt Angst mit Furcht. Wenn ihr die beiden Begriffe austauscht passt es.
Zur Erklärung: Angst ist ein existenzialer Zustand, den die aller wenigsten Menschen überhaupt schon erlebt haben.
Furcht ist ein unbestimmtes Gefühl, was sich wie im Artikel auf alles mögliche beziehen kann. Das worüber ihr schreibt ist Furcht und keine Angst. Im deutschen werden die beiden Wörter oft gleichgesetzt, aber für tiefere Analysen, ist es wichtig die Unterscheidung beider zu kennen. Sonst lassen sich Phänomene nicht mehr trennen, die aber ganz unterschiedliche Bedeutungen, Muster und Ursachen haben.
Danke für deine Anmerkung
Wir haben uns an den Duden gehalten. Dort steht: "Angst, die: mit Beklemmung, Bedrückung, Erregung einhergehender Gefühlszustand [angesichts einer Gefahr]; undeutliches Gefühl des Bedrohtseins" und weiter "in der Fachsprache der Psychologie und Philosophie wird [öfter] zwischen »Angst« als unbegründet, nicht objektbezogen und »Furcht« als objektbezogen differenziert; in der Allgemeinsprache ist diese Differenzierung nicht üblich."
Deshalb fanden wir Furcht - oder gar Unsicherheit, wie es in der analyse & kritik hieß - nicht so passend.
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"Zudem sind viele Radikale prekär beschäftigt oder auf das strafende Regime des Sozialstaats angewiesen. Wir versagen dabei, der verallgemeinerten Produktion der Angst zu entkommen" (Punkt 6)
Ich würde sagen das die Repression nicht nur bei radikalen die Präker sind wirkt, sondern bei vielen anderen. Die Gründe dafür liegen eben in dem beschriebenen Produktionsprozess der Angst. Ich kenne einige die sich von Aktionen (und dabei ist sogar der harmlose Zivile Ungehorsam eingeschlossen) abalten lassen, aufgrund einer diffusen Repression. Im grunde ist die aber heutzutage lächerlich. Was die Zahlen an Festnahmen und Ingewahrsamnahmen angeht ist es heute echt entspannt. Zumal man zumindest als nicht poc davon ausgehen kann, nicht misshandelt zu werden. Auch linke gefangene oder tote gibt es kaum. In kaum einer Zeit war es so lasch wie heutzutage. Natürlich hängt das auch mit der eigenen Inaktivität "der Bewegung" im weitesten sinne zusammen. Dennoch finde ich es wichtig, "privatwirtschaftliche" Aspekte der Repression ins Auge zu fassen. Die allgemeine Verarmung und der Geldmangel, der existiert auch wenn noch o oft "nein" behauptet wird, macht schon "geringe" Geldstrafen zum Problem. Weitaus schwieriger ist die diffuse Angst irgendwelche Beruflichen/Ausbildungs/Schulischen Nachteile zu erhalten, weil man in irgendwelchen Datenbanken ankommt oder im Führungszeugniss. Wie sich eine Gefängnissstrafe und sei es nur 1-2 Jahre auf den späteren Weg auswirkt, kann ich mir gar nicht ausmalen. Leute die nicht zu einer all-out-attack bereit sind, mit all ihren Konsequenzen, bleiben politischen Aktionen oft fern. So verbleibt ein geschmälerter Rest, der zwar entschlossener ist, aber eben aufgrund der geringen Anzahl auch leichter reprimiert werden kann.
Die Präkarität in allen Lebensbereichen und die zerstörerische Armut in der man landen kann, ist meiner Meinung nach eine schlimmere Repressionsmaschiene als die Bullen und die Richter mit ihren lachhaften Strafen und pippifaxgefängnissen. Als Demos früher regelmäßig mit schweren Verletzungen oder gar schüssen (ganz früher) abliefen, sind trotzdem viele gekommen, weil hinter dieser Repression kein "informelles Lebenslänglich im Wirtschaftsleben" stand.
"Die nationale Begeisterung wurde als Kompensation für das Elend genutzt und der globale Krieg, um die von der Langeweile erzeugte Frustration zu kanalisieren." (Abschnitt 5)
Fragwürdig... wenn der Abschnitt der Langeweile bis in die 90er ging, dann müßte man ja annehmen das jetzt eine friedlichere Phase eingetreten ist oder zumindest von den 50ern bis 90ern tendenziell weniger Kriege geherrscht haben. Statistisch ist mir das nicht geläufig jetzt, allerdings ist das ohnehin relativ da die heutigen Kriege mit mehr zivilen Opfern allgemein und in Städten im besonderen stattfinden, sind sie viel präsenter, als die mehr oder weniger "klassischen Kriege" der "Langeweile Phase".
Nach diesen mehr oder weniger hilfreichen Ergänzungen und Anmerkungen großes Lob für den Text, bzw. auch für die Übersetzer_innen.
Angst und Kapital
Es gibt einen älteren sehr interessanten lesenswerten Text von Holger Heide der diese Thematik aufgreift: "Angst und Kaiptal - warum Widerstand im Postfordismus so schwierig ist" http://archiv.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/debatte/selbstorga_hh.pdf
In dem Text wird die Entwicklung der ArbeiterInnengesellschaft beschrieben und im zweiten Teil das was sich "kollektives Trauma" nennt. Und eine Ursache ist warum für die Menschen heute Widerstand so schwierig ist
Kleine Nachfrage
ich gehe ja mit, dass die Gefahr von Misshandlungen für poc allgemein größer ist, aber dass der Rest davon "ausgehen kann nicht misshandelt zu werden"? Da muss ich irgendwie häufiger bei den falschen Veranstaltungen sein.
Angst...
... es gibt ein wirklich unterhaltsames Werk der Kulturindustrie mit dem Namen "Angst" ,von Stefan Zweig.
Scheiben schneiden macht den Laib nicht größer.
merci!
Wahrscheinlich einer der anregendsten Texte welche in letzter Zeit publiziert wurde. Euch tausend Dank für die Übersetzung ins Deutsche!
Für Menschen mit englischen Sprachkentnissen hier zwei kleine Anmerkungen und Ergänzungen zum Text: crimethinc & workers' power