In den USA entsteht mit den Solidarity Networks ein spannender Versuch, die Erfahrungen aus Community Organizing, gewerkschaftlichem Organizing und Anarchosyndikalismus zusammenzuführen. Im deutschsprachigen Raum ist dieser Ansatz noch weitgehend unbekannt. Wir haben deshalb folgenden Überblicksartikel übersetzt, den Scott Nappalos im Dezember 2013 auf Recomposition – Notes for a new workerism veröffentlichte.
Das Auftauchen von Solidarischen Netzwerken (engl.: Solidarity Networks) hat nicht nur in den USA, sondern auch international zu Experimenten und Debatten geführt. Soweit wir wissen, ist ihre Entstehung auf das Seattle Solidarity Network zurückzuführen. Einfach gesagt ist ein Solidarisches Netzwerk eine Gruppierung, die direkte Aktionen durchführt, um Kämpfe von Einzelnen oder Gruppen, typischerweise Arbeiter_innen oder Mieter_innen, zu unterstützen. Im Unterschied zum traditionellen gewerkschaftlichen Organizing begann das Seattle Solidarity Network (kurz: Seasol) ein Milieu zu mobilisieren, das bereit war Probleme zu bearbeiten, die Menschen aus der Arbeiter_innenklasse haben, egal wo sie leben oder arbeiten. Das bedeutet auch zu kämpfen, wo es bereits eine Gewerkschaft gibt, wo jemand auf sich allein gestellt ist oder wo sich viele Mieter_innen und Beschäftigte engagieren. Eine ausführliche Beschäftigung mit diesen Erfahrungen wäre bestimmt umfangreich. Wir stellen hier einige der Hauptargumente aus den Diskussionen und Artikeln vor, die sich mit Solidarischen Netzwerken beschäftigt haben, um sie bekannt zu machen und aus ihnen zu lernen.
Dieser Ansatz hat viele Stärken, die etwas über Organisierung in der Gegenwart aussagen. Solidarische Netzwerke ermöglichen es Revolutionär_innen als kleine Gruppe zu beginnen, öffentliche Kämpfe zu führen und sich durch Konflikte zu vergrößern und zu entwickeln. Die meisten Soldarischen Netzwerke nehmen sich Problemen wie unausgezahlten Löhnen oder zurückgehaltenen Mietkautionen an, weil sie Menschen betreffen, die den Ort der Auseinandersetzung bereits verlassen haben. Dadurch werden negative Auswirkungen und Probleme verringert, die normalerweise bei der Organisierung im eigenen Haus (aus dem du rausgeschmissen werden kannst) oder bei der eigenen Arbeit (die du verlieren kannst) entstehen. So können Menschen, die normalerweise nicht in einer guten Lage sind, um sich zu organisieren, Kämpfe führen und aus ihnen lernen. Die Stadt ist der Aktionsbereich und die Gesamtheit des Lebens der Arbeiter_innenklasse ist das Ziel. In einer Zeit zunehmend unsicherer Erwerbstätigkeit, sinkender Lebensstandards und einer generellen Entfremdung und Entpolitisierung vieler Lohnabhängiger bieten Solidarische Netzwerke mögliche Ansatzpunkte, wie revolutionäre Politik geeignete Lösungen hervorbringen kann.
Diese Strömung entstand Ende der 2000er Jahre. Einige radikale Gewerkschafter_innen der IWW begannen mit Organisationsmodellen zu experimentieren, die sie aus Kämpfen in den USA und Kanada kannten, und daraus entwickelte sich Seasol. Der stärkste Aspekt dieses Experiments war die Fähigkeit, die Methoden der IWW und anderer auf eine veränderte taktische Orientierung anzuwenden. Gemäß ihrer Analyse nahmen sie den proletarischen Alltag ins Visier und bestimmten die kämpfenden Menschen als neue Protagonist_innen. Sie begannen damit, bewusst oder unbewusst, nachdem andere Experimente der IWW in Portland, Philadelphia, Chicago und der San Francisco Bay Area zur erfolgreichen Organisierung von schnellen, mobilen Aktionen durch Restaurant-, Baustellen-, Kurierdienst- und Einzelhandelsbeschäftigte geführt hatten. Seasols Arbeit unterschied sich zu der Zeit nicht besonders von der Arbeit anderer, ihr Plan und ihr Konzept jedoch sehr. Das führte vermutlich zu der Begeisterung und der rasanten Ausbreitung ihres Modells in den folgenden Jahren.
Durch Poster, Leitfäden und regelmäßige Veröffentlichungen über ihre Kämpfe wurden die Bedingungen, unter denen die kleinen, zersprengten, radikalen Gruppen arbeiteten, verbessert und der Zugang zu ihnen erleichtert. Ihre Publikationen sind oft ansprechend gestaltet und zeugen von der Bereitschaft, unterschiedliche Formate, wie z.B. kurze, innovative Videos, auszuprobieren. Solnets, wie die Solidarischen Netzwerke auch genannt werden, breiteten sich in den USA, Großbritannien, Kanada und Australien aus. Solnets sind für Revolutionär_innen eine adäquate Organisierungstaktik gegen die schärfsten Verfehlungen im Bereich Löhne und Wohnraum und sie zeigen, dass sie imstande sind, insbesondere vorenthaltene Löhne und Mietkautionen zu erstreiten. Tatsächlich wird in den Veröffentlichungen der Solnets das Erringen nachweisbarer Siege als zentraler Teil ihres Konzepts betont.
Die ersten Siege stärkten die Fähigkeiten und Kenntnisse der engagierten Radikalen in den Solidarischen Netzwerken, aber sie führten auch zu anspruchsvolleren Auseinandersetzungen und verlangsamten das Wachstum außerhalb von Seattle. Viele Solnets hatten Schwierigkeiten außerhalb von Seattle, wo auf eine starke Gewerkschaftslinke gezählt werden konnte. In Gegenden mit einer anderen politischen Landschaft konnten nicht so einfach Siege erzielt werden und teilweise war es eine Herausforderung, die Solidarischen Netzwerke am Leben zu halten. Seasol selbst sah sich dem Zorn der institutionellen Linken und Rechten ausgesetzt, als es sich mit stärkeren Gegner_innen anlegte, die von SEIU (nordamerikanische Dienstleistungsgewerkschaft, Anm. d. Ü.), Nichtregierungsorganisationen oder Lokalpolitiker_innen unterstützt wurden. Die Organizer von Seasol führten ihre zentralen Kämpfe trotz Verleumdungen in den Medien, Einschüchterungen und Gewalt zu Ende. Der Beginn der Wirtschaftskrise veränderte das politische Terrain und erwischte viele Solnets unvorbereitet.
Die Debatten um das Solnet-Modell haben sich in verschiedene Richtungen entwickelt, aber scheinen sich auf die Frage zu konzentrieren, wie aus der radikalen Politik der Solidarischen Netzwerke eine beständige Aktivität im Alltag der Arbeiter_innenklasse erwachsen kann. Die Grundidee wird in Seasols Leitfaden für den Aufbau eines Solidarischen Netzwerks dargelegt. Als er dieses Modell anwandte, bemerkte Ryan Spourgitis, ein Organizer aus Iowa City, das Spannungsverhältnis zwischen der Rolle als sozialer Dienstleister und der angestrebten Strategie der Organisierung. Ähnliche Fragen stellten Organizer von Unity & Struggle, die das Southwest Defense Network mitaufbauten. In beiden Szenarien unterschied sich das Umfeld stark von Seattle. Ebenso brachten die positiven wie negativen Herausforderungen durch Occupy und die Haltungen zur Krise die Schritt-für-Schritt-Taktik der frühen Solnets durcheinander. David, einer der zentralen Organizer von Seattle Solidarity, schlug während einer Präsentation im Januar 2013 vor, sich den zwei Herausforderungen, die die oben genannten Autor_innen beschrieben hatten, zu stellen. Erstens erkannte er, dass es schwierig ist, die kurzen, meist individuellen Kämpfe zu nutzen, um weitere Organizer zu gewinnen (statt bei der Unterstützung der Arbeiter_innen auf Aktivist_innen zu setzen). Es stellte sich als schwierig heraus, die Politik von Seasol den kämpfenden Menschen näherzubringen, obwohl das Seasol bewusst war und sie es zu ändern versuchten. Zweitens war Occupy eine Gegenthese zum geradlinigen Aufbau von Bewegungen und er hätte sich gewünscht, besser auf die Veränderungen reagieren zu können, und betonte deshalb den Bedarf für neue Experimente, um sich auf Kämpfe dynamischer einlassen zu können. Miami Autonomy & Solidarity hat die Gedanken eines Zuhörers hier veröffentlicht.
Die Kehrseite der Medaille war, dass die positiven Erfahrungen mit Solnets und ihre vermeintliche Überlegenheit gegenüber dem Rest der oftmals entfremdeten und stagnierenden Linken einige Mitglieder dazu verleitete, sie als Herausforderung für die Linke zu sehen. Walter Winslow schrieb einen langen Artikel über die Erfahrungen mit Seattle Solidarity, in dem er die Arbeiter_innenbewegung kritisierte und die IWW ablehnte. Er verortet Seasol in der anarchosyndikalistischen Tradition und führt Taktik und Konzept auf die Fähigkeit des Anarchosyndikalismus zurück, revolutionäre Aktionen an die sich ständig verändernden und sich verallgemeinernden Kämpfe und Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse anzupassen. So könne die Arbeiter_innenklasse gegen die Macht der herrschenden Klasse und ihre Gesellschaft im Ganzen in Stellung gebracht werden.
Diese Diskussionen und Erfahrungen werfen für alle, die sich in Arbeiter_innenvierteln und an Arbeitsplätzen organisieren, unabhängig von der eigenen Position eine Reihe wichtiger Fragen auf. Ein guter Teil des rasanten Erfolgs der Solnets beruht auf der Präsentation ihres Modells, das neu war und die Leute begeisterte. Obwohl das eigentlich eine Stärke ist, kann es zu enttäuschten Hoffnungen und dem Rückgang von Solnets beigetragen haben, die ohnehin schon mit einer ungünstigen politischen Landschaft zu kämpfen haben. Aufbauend auf einem Kern engagierter Organizer mit revolutionären Ideen und Überzeugungen – ein Kennzeichen anarchosyndikalistischer Praxis – zeigen Solnets, dass das Leben der Arbeiter_innenklasse wieder in das Zentrum der Politik gerückt werden muss. Die Rolle der Radikalen, ihre Beziehung zu denen, die sie organisieren, und welche Rolle Politik in dem Ganzen spielt, muss kontrovers diskutiert werden. Einerseits sind Solnets Netzwerke für Militante in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz, aber mit einer klaren Funktion und Organisation. Solche Ideen ähneln dem, was ich unbeholfen Zwischenebenen der Kämpfe genannt habe und entfernt auch anarchistischen und kommunistischen Projekten, in denen revolutionäre Arbeiter_innen in breiteren Zusammenschlüssen wie Versammlungen, Räten und Syndikaten zusammenarbeiten. Andererseits scheinen Solnets manchmal allgemeine Gremien ohne politischen Anspruch zu sein, ein Ansatz zur kämpferischen, sozialen Organisation, der von Anarchist_innen begründet wird, die dann aber das Politische meiden. Im Allgemeinen bewegen sie sich zwischen diesen Polen. Trotzdem haben sie Mühe Arbeiter_innen zu rekrutieren und zu radikalisieren, obwohl sie sich als Netzwerk nicht offen auf ihre revolutionäre Politik beziehen. Solche Spannungen treten nicht nur in Solnets auf, sondern gehören für alle, die Ähnliches versuchen, zu den verbreitetsten Problemen infolge fragmentierter Sozialräume, einer fehlenden sozialen Kraft, die in Kämpfe interveniert, und politischer Isolation. Heutzutage ist das nicht überraschend und spiegelt ähnliche Dynamiken anderer Gruppen wider, auch wenn diese andere Ausgangspunkte haben. Solche Debatten innerhalb der IWW haben einige von uns dazu gebracht, unsere Politik in das Zentrum der Organisierung zu stellen, statt sie als äußeren oder impliziten Aspekt der Organisierung zu begreifen. In den Veröffentlichungen betonen Autoren des Recomposition-Blogs wie Juan Conatz, Nate Hawthorne oder ich selbst das politische Wesen aller Kämpfe und dass sie explizite und konkrete Inhalte benötigen. In jüngerer Zeit hat die Wobblyism-Gruppe daran gearbeitet, eine Methode zu finden, und sich theoretisch mit ihrem Ansatz des langfristigen, revolutionären Organizing am Arbeitsplatz auseinandergesetzt.
Zu guter Letzt wuchsen Solnets, nachdem sie ihr gewohntes Terrain (z.B. bestimmte Firmen oder Wohnhäuser) verließen, aber dadurch gab es Schwierigkeiten, ihre Tätigkeiten aufrechtzuerhalten und Militante zu binden. Nach anfänglichen Erfolgen wurden Solnets, die versuchten sich weiter zu entwickeln, indem sie sich auf das langfristige Organizing und Kämpfen konzentrierten, vor die gleichen Schwierigkeiten gestellt.
Es gibt kaum Gründe anzunehmen, dass es anders sein sollte. Viele suchen organisatorische, theoretische oder taktische Lösungen für die grundlegenden Probleme, nämlich Inaktivität und Niederlagen der Klasse. Dieser Fehler ist in der Linken heutzutage verbreitet. In Wirklichkeit steckt hinter der Bereitschaft zu kämpfen und Macht neu aufzubauen mehr als nur unsere eigenen Aktionen. Ich möchte die Inkompetenz der Linken, die den Alltag der Arbeiter_innenklasse als wichtigstes Politikfeld aufgegeben hat, nicht entschuldigen. Aber wir sollten nicht in das andere Extrem verfallen und annehmen, dass unabhängig von den richtigen gesellschaftlichen Bedingungen eine technische Herangehensweise an das Organizing die realen Hindernisse für eine revolutionäre Bewegung überwinden kann. Ich glaube allerdings nicht, dass die Menschen in den Solidarischen Netzwerken diesen Fehler notwendigerweise begehen. Das ist etwas, das die IWW und Anarchosyndikalist_innen in der Geschichte, aber auch in den vergangenen 20 Jahren des Experimentierens in den USA und Kanada wiederholt lernen mussten. Wir haben in den langwierigen Organisierungsprozessen der IWW die transformative Kraft der Kämpfe, die aus Teilnehmer_innen Revolutionäre macht, ebenso gesehen wie die lähmende Wirkung, die die Gesellschaft in normalen Zeiten auf revolutionäre Initiative ausübt. Heute kann sich das zu unserem Vorteil verändern, weil Menschen beginnen sich zu wehren, ihre Ansichten ändern und sich für Alternativen öffnen. Trotzdem sollten wir unsere Hauptaufgabe nicht aus den Augen verlieren und nicht nur Kämpfe unterstützen, sondern in ihnen auch revolutionäre Politik zum Leben erwecken. Die Erfahrungen mit Solidarischen Netzwerken bieten dafür einen ebenso hervorragenden Ausgangspunkt wie für die stärkere Verankerung von revolutionärem Anarchismus in solchen Kämpfen.
Scott Nappalos – Übersetzung von Zweiter Mai
Danke
Vielen Dank für die Übersetzung dieses sehr interessanten Beitrags. Es wäre super wenn noch weitere Übersetzungen, der verlinkten Texte veröffentlicht würden. Als Ergänzung wäre besonders der genannte "Leitfaden für den Aufbau eines Solidarischen Netzwerks" interessant!