Wo ist die Arbeiter*innen-Klasse heute? Ein Beitrag zur Suche

Arbeiterkampf Streik bei Ford 1973 Titel

Es fehlt im deutschsprachigen Diskurs sehr an aktuelleren Analysen der Klassenzusammensetzung. Überall wird nur Marx gelesen und dann vielerorts festgestellt, dass die Klassenzusammensetzung so nicht mehr stimmt und anstatt dass eine aktuellere Form bekannt wäre, wird entweder die ganze Klassenidee verworfen (Neue Marxlektüre, Antinationale, Antideutsche) oder sich die Klasse von 1919 zurückgewünscht (Traditionslinke und Leninist*innen). Es ist aber wichtig sowohl um die aktuelle Gesellschaft zu verstehen als auch um heute ein kämpferisches Bewusstsein zu entwickeln, ein wenig zu verstehen, wie die Klassen heute aussehen und warum! Was ist passiert, dass die Klasse heute anders ist als zu Marx‘ Zeiten? Etwas Aufschluss ergibt eine Überlegung von Karl Heinz Roth (KHR) von 1974, aus dem Buch „Es begann die Zeit der Autonomie“ von Frombeloff, wo eine derzeitige Klassenveränderung stattfindet, die bis heute prägend ist.

 

Beschrieben wird ein Angriff von Seite des Kapitals, welcher aber durch die heftigen, wilden und nahezu unbefriedbaren Streikbewegungen des Massenarbeiters (der unqualifizierte, oft migrantische Fleißbandarbeiter, der dem Facharbeiter des 19.Jahrhunderts folgt) in den Jahren 1973/74 in Autowerken der Industrienationen (zumindest Italien, Deutschland, Frankreich und USA) erzwang. Aus dem Buch „Es begann die Zeit der Autonomie“, Seite 57:

 

Der ‚technologische Angriff‘ als Reaktion auf den Kampfzyklus der Massenarbeiter

Wir wollen uns in erster Linie mit den Diskussionen der Autonomie-Redaktion auseinandersetzen. KHR hat die Notwendigkeit, einen veränderten Organisationsansatz zu entwickeln, sehr früh erkannt und eingefordert. 1974 stellt er auf einem ‚Krisenseminar‘ in München die Frage, ‚was der Inhalt des neuen, aktuellen Kampfzyklus sei?‘ Angelehnt an die Überlegung von Potere Operaio aus Italien hält er fest: „(…) das Kapital arbeite an einer Strategie der Requalifizierung der Arbeitskraft, d.h. an einer partiellen Zurücknahme der dequalifizierten Arbeitskraft, weil das Kapital in seinen Zentralen zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der dequalifizierte Massenarbeiter auf die bewusste Entfremdung vom Arbeitsprozess (…) durch den entwickelten Taylorismus mit iner sich (…) verschärfenden Arbeitsverweigerung geantwortet hat. Und dieses „Phänomen“ soll durch eine Requalifizierung beantwortet werden“. Propagandistisch verpackt werden diese technologischen Umwälzungen in der Diskussion um die ‚Humanisierung der Arbeit‘. Dieser Prozess ziele auf eine „Neuzusammensetzung der Arbeitskraft, der Zersplitterung der Arbeiterklasse und damit (auf die) Zerschlagung der neuen Kampfformen (der Massenarbeiter) auf der Ebene des unmittelbaren Produktionsprozesses“ ab. Die starre Struktur des Fließbandsystems sollte – zumindest partiell – aufgehoben werden. Dazu musste das bisher vorherrschende tayloristische Montageverfahren verändert werden. Es entstanden (neue) „Systeme homogener Gruppen“ von Einzelarbeitsplätzen und „loser Verkettung“, wobei das Fließband als ein System fest verketteter Arbeitsplätze, das den Arbeitstakt zwingend vorgibt, verschwindet. Neben den Veränderungen im unmittelbaren Arbeitsprozess erfolgte die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse in der BRD noch durch „die massive Strategie des Kapitalexports“ in Länder mit Arbeiterklassen, die bereit sind, den Taylorismus als Fortschritt hinzunehmen. Das zeigt auch die „Tatsache, dass in der BRD seit einigen Monaten keine ausländische Arbeitskräfte mehr importiert werden…“. 15 Jahre später differenziert KHR den damaligen ‚umfassenden Angriff‘ als einen, der aus 4 Elementen besteht: 1. den demographischen Angriff; 2. dem sozialpolitischen Angriff. 3. dem technologischen Angriff und schließlich 4. dem arbeitsmarktpoltischen Angriff.

 

Bei ‚homogenen Gruppen‘ wird das Montageverfahren entweder zergliedert oder in der Gesamtheit beibehalten. Den ‚homogenen Gruppen‘ kommt dabei die Aufgabe zu, die anfallende Arbeit selbst zu verteilen, zu organsisieren und zu kontrollieren. Die ‚Einzelarbeitsplätze‘ sind so eingerichtet, dass an ihnen ein komplettes Gerät oder eine komplette Baugruppe zusammengebaut wird. ‚Lose Verkettung‘ mein einen Versuch, die starre Ordnung des Fließbands zu überwinden. Dabei werden mehrere vereinzelte (lose) Handarbeitsplätze über ‚Pufferstationen‘ (Industrieroboter) verkettet, wodurch die Homogenität des Massenarbeiters zerstört wird.


Der Massenarbeiter war durch seine dröge Arbeit bei gleichzeitiger größe seiner Arbeitsgruppen, die alle etwa gleich (wenig) Qualifikation bedurften, sehr kampffähig, weil solidarisch und unzufrieden. Dieser Angriff, der als Reaktion des Kapitals auf die wilden (Gewerkschaftslosen) Streikts des ’73/’74er Kampfzyklusses gesehen werden kann, versucht also diese Kampfbereitschaft zu zerschlagen. Ein Element der Zerschlagung war wohl auch, dass die migrantischen Arbeiter (in der BRD aus Griechenland und Italien, in Italien aus dem ländlichen Süditalien usw.) entgegen dem Plan sie irgendwann zurückzuschicken erlaubt wurde, ihre Familien nachzuholen, da die Familie in der Nähe die Radikalität senkte. Der oben geschilderte Angriff sorgte an anderer Stelle für Zerschlagung der Kampfbereitschaft: Die angesprochene ‚Requalifizierung‘ bedeutet nichts anderes als dass das Wissen, das in Form von Technologie in den Maschinen eingelagert war, weshalb sie so einfach zu bedienen waren, wieder ein wenig aus den Maschinen herausgenommen wurde. Von den nun eher zerstreuten Arbeitsplätze, erforderten einige nun etwas mehr Wissen als andere, war also ein Grund die Arbeiterschaft zu hierarchisieren: Einzelnen wurde ein „Aufstieg“ erlaubt, die wurden dann für die „schwierigeren“ Maschinen angelernt oder brauchten gar eine Ausbildung dafür, um so legitim ein klein wenig mehr zu verdienen als die Anderen und so gezielt für die Entsolidarisierung der Arbeiter untereinander zu sorgen. Die Zerstreuung der Einzelarbeitsplätze und die Auflösung der Verkettung, die nun durch Industrieroboter abgepuffert werden sollte, sollte dafür sorgen, dass die Aktionen von einzelnen Arbeitern für die anderen nicht so ersichtlich wurden und so gemeinsame Streik und Sabotageakte der Arbeiter unwahrscheinlicher zu machen.
Diese Umstellung sorge wohl unter anderem dafür, dass wir heute so pazifizierte Industriearbeiterinnen und -arbeiter haben. Die Korrumption der großen Gewerkschaften, die zusammen mit der Korrumption der Sozialdemokraten vollzogen wurde, geschah teilweise schon vor dem ersten Weltkrieg und vervollständigte sich nach dem 2., weshalb die Streiks der 70er ja auch wilde, nicht-gewerkschafltich-organisierte Streiks waren.
Dieses Wissen ist notwendig, dass wir uns die Frage nach den aktuellen Kampfformen und er aktuellen Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse fragen können. Wir bleiben weiter auf der Suche, Tipps nehmen wir gerne entgegen per Mail, siehe Kontakt.

Wer dieses wichtige Kapitel des zeitgenössischen Klassenkampfes nachlesen will, dem sei auch die Seite über die [Ford-Streiks in Köln 1973] empfohlen.

 

Erstveröffentlicht auf [Anarchistischer Kommunismus].

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Meint ihr wirklich, dass bewußt Maschinen schlechter gemacht wurden um die Arbeiterschaft zu hierarchisieren? Ich würde denken, dass  dies recht bald rückgängig gemacht würde um einen "Wettbewerbsvorteil" durch Einspahrung von Arbeitskraft zu erreichen und dann alle anderen wieder mit ziehen müßten.

MsG

Vielleicht wurde es bald rückgängig gemacht, aber ein Werk hat sicher keinen Wettbewerbsvorteil, wenn ihre Arbeiterschaft immer weitere Lohnerhöhungen fordert und immer wieder radikale wilde Streiks ausbrechen, die sich auch mit Streikbrechern (werden von schwarz vermummten Arbeitern draußen gehalten, in diesen Auseinandersetzungen entstand übrigens der Black-Bloc) noch mit selbstgegründeten oder eingekauften Gewerkschaften ruhigstellen lassen!

Finde die unten verwendete Vokabel "böse" und Vermutung von "Verschwörungstheorien" völlig unpassend: Es ist ja offensichtlich, dass das Management möglichst niedrige Löhne bei gleichzeitiger ausreichender Arbeiterzufriedenheit anstrebt. Wenn du und ich unkritisch aufgewachsen wären und Manager*innen würden, würden wir auch so handeln. Oder wenn es blöd läuft und in 15 Jahren doch auf die schiefe Bahn geraten! Das ist nicht "böse" sondern ganz normales Klasseninteresse von oben, wärend kurze Arbeitszeiten, hohe Löhne, bedingungsloses Arbeitslosengeld, ein Stopp der Hetze gegen Arbetislose usw. ganz normales Klasseninteresse von uns hier unten ist! Irgendwelche Ansprüche zu formulieren, die in diesem System für alle gleich gelten sollten sind bürgerliche Ideologie, wie "jeder muss halt arbeiten, aber wer sich anstrengt bekommt auch eine gute Arbeit mit gutem Lohn, weshalb das System ja ganz gerecht ist"...

"sich die Klasse von 1919 zurückgewünscht (Traditionslinke und Leninist*innen)" Quelle? Ich würde mal behaupten dass niemand so nen Blödsinn macht. Aber ist natürlich auch einfacher nur gegen seine eigenen Vorstellungen von LeninistInnen zu kämpfen als gegen deren tatsächliche Positionen.

Vielleicht gibt es ja auch ein paar kluge Leninis*innen. Die die ich bisher kennen gelernt habe waren tatsächlich recht stumpf und haben einfach sehr unspezifisch von "Klassenkampf" schwadroniert und das ab und an mit dem Leninzitat gewürzt. Da würde ich mich dem Artikel also eher anschließen. Aber vielleicht weißt du ja mehr über diese kuriosen Leute und hast nen guten Text parat?

MsG

Das stimmt, dass das Zurückwünschen von 1919 durch die leninistische Linke eine Unterstellung ist. Ich führe diese jedoch darauf zurück, dass ich von den mir bekannten leninistischen Gruppen fast keine Veranstaltungen oder öffentlich sichtbaren positiven Bezüge zu Klassenkämpfen nach dem zweiten Weltkrieg mitbekommen habe. Die großen Streiks der 70er, die zu der Umstrukturierung ganzer Industriezweige geführt haben, werden nicht erwähnt. Mir geht es ansonsten nicht darum die leninistische Linke schlecht zu machen, ich arbeite oft und gerne mit vielen ihrer Vertereter*innen zusammen. Aber ich empfinde die Blindheit gegenüber außergewerkschaftlichen Klassenkämpfen, vor allem auch außerbetrieblichen, als tragische Selbst-Entmächtigung. Ich denke dass auch Hausbesetzung, Frauenbewegung, Schwulenbewegung, mit seinen Peers kommunizierter Ladendiebstahl usw. als Klassenkämpfe gesehen werden müssen: Überall kämpft die lebendige Arbeit, ob in ihrer Freizeit oder ob auch arbeitslos spielt dabei eine untergeordnete Rolle, gegen die Profitlogik und deren Zwang zu Produktions- und Reproduktionsarbeit.

Ich will irgendwie nicht so recht dran glauben, dass das "Kapital" auf irgendwelchen Sitzungen 25-Jahres-Pläne ausheckt. Versucht euch doch mal an der systemischen Betrachtung.

Grundannahmen:

1. technischer Fortschritt setzt sich durch

2. Im Kapitalismus wird produziert um Gewinn zu erzeugen

 

Das Gefasel von Industrie 4.0. ist sozusagen Punkt 1. (technischer Fortschritt). Maschinen erledigen immer mehr Arbeitsprozesse kostengünstiger als menschliche Arbeitskräfte. Ein Unternehmen kann da mitmachen, oder am Markt scheitern. Möglicherweise gibt es in 20 Jahren keine Lokführerstreiks mehr, weil die Züge die Menschen nicht mehr brauchen um zu fahren. Aber dann ist das kein lange geplanter Angriff auf die "Arbeiterklasse" gewesen, sondern technischer Fortschritt. Vier Senftenträger -> ein Chauffeur -> S-Klasse mit Autopilot

Klar bleiben da immer mehr Menschen auf der Strecke, aber das ist glaube ich eher "Systembedingt" als böse Absicht. Die Konsequenzen sind für dich und mich die gleichen. In den "Abwekrkämpfen" könnten wir uns auf der Straße begegnen, zusammen Barrikaden bauen. Wenn die Revolution ausbleibt, wird das nichts mit dem schönen Leben - darin sind wir uns einig.

Aber aus dem grundlegendem Unterschied der Ursachen für das Ganze (planendes Kapital vs Systemzwänge) ergeben sich auch (nicht miteinander vereinbare) "Lösungsstrategieen". Bzw. während eine Seite vermutet zu wissen wie es gehen soll (Organisierung der Arbeiterklasse, kommunistische Partei, sebstverwaltete Betriebe, Entmachtung der Kapitalisten und Übernahme ihrer Posten?), weiß die andere Seite das sie nicht weiß wie es geht das "System Kapitalismus" zu zerschlagen. Und das sind mehr als nur ein paar kleine Differenzen, unsere Marginalität lässt es manchmal vielleicht so aussehen. Wenn das mal nicht mehr sein sollte, könnten wir uns auch auf der Straße begegnen, aber jede_r von uns auf seiner Seite der Barrikade (siehe Griechenland PAME vs "Anarchos" - Kommunisten schützen das Parlament, in das sie letztlich auch nur rein wollen, gegen die, die es eher niederbrennen wollen).

"Überall wird nur Marx gelesen und dann vielerorts festgestellt, dass die Klassenzusammensetzung so nicht mehr stimmt..."

um dies mal kritisch zu prüfen, 2 Textempfehlungen:

-Wal Buchberg: Die Klassentheorie von Karl Marx

-Volkhard Mosler: Die Arbeiterklasse: Ende oder Wandel

Ist dieser Volkhard so ein Linkspartei-Typ?

...Buchberg scheint ganz interessant zu sein ...

Heute für die Linkspartei in Frankfurt im Römer. Früher mal frankfurter Oberguru der trotzkistischen SAG. Lange davor 68er.

Die Arbeiterklasse wird auch nicht sichtbarer oder für linke Ideen zu begeistern sein, wenn sie in Szenedeutsch gegendert wird. Falls es wem entgangen sein sollte, die mehrzahl der Arbeiterklasse hat es nicht so mit Gender. Mit der Szenelinken erst recht nicht.