Übersetzung: Das Experiment Rojava

Das Experiment Rojava

Die Broschüre dokumentiert die Erfahrungen eines Besuchs in Nordostsyrien oder in Rojava (Westkurdistan), den Zaher Baher - Mitglied einer Harengey Solidarity Group und des Kurdistan Anarchist Forum - mit einem guten Freund im Mai diesen Jahres gemacht hat.

 

Die Übersetzung ist zuerst hier erschienen: http://magazinredaktion.tk/nordsyrien.php, das englische Original hier: http://www.anarkismo.net/article/27301

 

Es folgt das Vorwort zur deutschen Übersetzung:

 

Vorbemerkung

 

Wenn sich heute alle Welt für die Verteidigung der nordsyrischen Kleinstadt Kobanê interessiert, dann ist das unmittelbar die Folge einer geschickten und bewaffneten Propagandaoffensive der kurdischen Arbeiterpartei PKK, bzw. deren syrischen Ablegers, der PYD. Das ging in der Darstellung von Cemil Bayik – der Co-Vorsitzenden der Gesellschaften der Gemeinden Kurdistans KCK, einer der zentralen PKK-Organe – wie folgt ab: Nachdem es dem islamischen Staat gelungen war Mossul kampflos zu übernehmen, obwohl ihr formell eine besser bewaffnete irakische Übermacht entgegenstand, rückte er auch – einen informellen Waffenstillstand brechend – in den kurdischen Teils Iraks vor. Symbolisch wurde hier der Fall der nordirakischen Stadt Şengal. Die irakische Armee hatte sich scheinbar eh schon zurückgezogen, da packten auch die überraschten irakisch-kurdischen Perschmerga ihre Waffen ein und zogen ab, ohne auch nur der Zivilbevölkerung Bescheid zu geben. Jetzt hatte die Stunde der PKK geschlagen: „Die Volksverteidigungseinheiten aus Rojava (YPG) und die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans PKK haben, nach dem kampflosen Rückzug der KDP Peschmerga aus Sengal, den Schutz der dort lebenden ezidischen Kurden organisiert. Mehreren hunderttausend Menschen wurde so das Leben gerettet.“ (1)

 

Einige einflussreiche Mächte diskutierten seither die Bewaffnung der Kurden. Doch Waffen hatten sowohl die Truppen der kurdischen Autonomieregion wie die der Zentralregierung. – Allein, sie haben nicht gekämpft! Gekämpft haben die Einheiten der PKK. Und wieder der Co-Vorsitzende: „Eigentlich gibt man denjenigen Waffen die kämpfen. Wer kämpft gegen den IS? Es gibt auch andere die kämpfen, das verneine ich nicht, aber unsere Bewegung trägt die Hauptlast. Wenn man Waffen liefern will, dann muss man Waffen denen geben, die kämpfen. Das wäre das richtige.“ (2) Das war Ende August. Mitte Oktober war es dann soweit, Obama erklärte die Sache zur Chefsache und das schon einige Wochen belagerte syrisch-kurdische Kobanê wird aus der Luft mit einigen Waffen versorgt und amerikanische Flugzeuge bombardieren die Stellungen des IS. Einer der Kommandanten der Verteidigungskräfte bedankt sich: „Die Flugzeuge der Allianz haben bislang mit großer Sorgfalt gearbeitet und wir danken ihnen sowohl für ihr Bündnis mit uns, als auch für die große Vorsicht, die sie walten lassen haben. Sie haben der ISIS einen großen Schlag verpasst und das geht weiter.“ (3) Zur weiteren Verwirrung des politischen Koordinatensystems und zum Verdruss der Türkei arbeiten PKK-Leute direkt mit den amerikanischen Militärs zusammen und stolz verkündet ein Pressesprecher: „Ein YPG-Vertreter höchstpersönlich sitzt in der Kommandozentrale, wo die Luftangriffe koordiniert werden, und vermittelt Informationen aus Kobanê. Ohnehin wären Angriffe aus militärischer Sicht unmöglich, würde die YPG nicht an Luftoperationen teilnehmen. Der Bodenkrieg dauert an und stündlich ändert sich die Situation vor Ort.“ (4)

 

Das sind also die jüngeren und schnell vergessenen Ereignisse. Ob und warum der in die Öffentlichkeit geratene Landstrich irgendeine weitere Bedeutung hat, hängt allerdings nur von den gesellschaftlichen Verhältnissen in den kurdischen Autonomiegebieten ab. Der Grund für die Verteidigungsbereitschaft der syrischen Kurden liegt in ihrer Selbstverwaltung und den neuen Ideen, die dort ausprobiert werden. Die PKK-Schwester PYD hatte nämlich aus der syrischen Situation einigen Vorteil gezogen: Indem sie mit Assads Regime einen Waffenstillstand schloss und ein Autonomiegebiet ausrief, wurde Syrisch-Kurdistan eine eine relativ friedliche Oase in diesem Bürgerkriegsland. Hier versucht man seither den von Öcalan propagierten Demokratischen Konföderalismus (5) zu praktizieren, ein Verwaltungsmodell angeblich irgendwie zwischen Kapitalismus und Anarchie: Die Verfassung schützt das Eigentum, aber dasselbe sei sozial verpflichtend. Alles dreht sich um das Selbstbestimmungsrecht der Völker, keinesfalls aber um Nationalismus. Es gibt keinen Staat, dafür aber Friedens- und Konsensteams. Gefängnisse sollen nicht bestrafen, sondern rehabilitieren. Man darf Jeside oder Assyrer sein und auch Transgender. Jeder Identität bekommt potentiell sogar eine Quotenregel zugestanden. So jedenfalls irgendwie die Theorie bzw. Verfassung (6). Dazu gibt es eine Flut von neuen Gruppen und Institutionen und eine gelungene Armenspeisung. Man hört sogar, dass die Ölförderung von Arbeiterräten kontrolliert würde; der daraus gewonnene Strom ist zwar knapp, sei dafür aber kostenlos. Das Ganze eignet sich gut als Projektionsfläche: „Demokratisches Experiment“, „Ansätze einer Räteherrschaft“, „befreites Gebiet“, „echte Chance“, „Revolution“, „demokratisches Model“, „Halt stand freies Kobanê!“ kann man lesen und alle lieben die bewaffneten Frauenverbände. Und nicht zuletzt kämpfen die syrischen Kurden tapfer gegen den IS, dieser Ausgeburt der Hölle, geeignet alle streitenden Parteien gegen sich zu vereinen. Grund genug einen Blick auf die Sache zu werfen. Ein Anarchist aus England hat zusammen mit einem Freund dieses kleine gallische Dorf in Syrien besucht und einen Bericht über die Lage dort geschrieben, der hoffentlich etwas Einblick in den politischen-gesellschaftlichen Hintergrund des ganzen Kriegsgeschreis gibt, da er vor der der aktuellen Offensive des IS geschrieben ist.

 

Et al., November 2014.

 


Fußnoten:
(1) Rojava ist ein anderer Name für Syrisch-Kurdistan. YPG die Armee der PYD. KDP die regierende Partei im irakischen Autonomiegebiet, Perschmerga deren Armee. http://civaka-azad.org/die-tuerkei-unterstuetzt-um-die-selbstverwaltungsstrukturen-rojava-zu-zerstoeren/
(2) http://civaka-azad.org/die-kraefte-die-den-aufgebaut-haben-wollen-jetzt-den-befreier-spielen/
(3) http://325.nostate.net/?p=12910
(4) http://kurdischenachrichten.com/2014/10/ypg-pressesprecher-polat-can-auch-wir-werden-in-der-koalitions-kommandozentrale-vertreten/
(5) http://www.freeocalan.org/wp-content/uploads/2012/09/Abdullah-Öcalan-Demokratischer-Konföderalismus.pdf
(6) http://civaka-azad.org/wp-content/uploads/2014/03/info7.pdf

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