Bei Amazon wird seit über einem Jahr gestreikt. Doch die Kollegen fühlen sich nicht ermüdet, denn neue Standorte schließen sich dem Arbeitskampf an. Ein Gespräch mit Tommy Nietzelt. Der 34-Jährige arbeitet seit sechs Jahren als Picker am Amazon-Standort in Leipzig. Er ist ver.di-Vertrauensmann und Mitglied der örtlichen Streikleitung, seit 2014 auch Mitglied des Betriebsrates.
Wie fühlt man sich nach fast 20 Streiktagen seit Mai 2013?
Ganz gut. Bei anderen Belegschaften hat der Kampf für einen Tarifvertrag schon mal sieben Jahre gedauert. Wir haben uns von Anfang an auf einen langen Kampf gefasst gemacht. Aber vielleicht war es einigen KollegInnen nicht bewusst, was wir uns unter "lang" vorstellten. Ich bin voller Hoffnung und habe nie gezweifelt. Egal, wie lange das dauert, bin ich voll dabei. Inzwischen ist der Tarifvertrag eine Grundsatzfrage für mich geworden.
Manche KollegInnen sind allerdings ungeduldig. Wir haben eine Nadelstichtaktik und streiken nur an einzelnen Tagen. Es ist nicht immer einfach, den Gewerkschaftsmitgliedern beizubringen, dass das sinnvoll ist. Auf Streiks kann Amazon sehr schnell reagieren, in dem die Arbeit auf andere "Fulfillment Center" umgeleitet wird. Also die Vorteile von Nadelstichen sind die Überraschung.
Vor zwei Wochen gab es mit Rheinberg in NRW erstmals Arbeitsniederlegungen am vierten von insgesamt neun Standorten in Deutschland. Wie vernetzen sich die GewerkschafterInnen?
Der vierte Streikstandort war auch eine schöne Überraschung für uns! Also neben dem Internet haben wir mehrmals im Jahr bundesweite Vernetzungstreffen. Dort sind 80 Prozent der Standorte vertreten – also auch die, die noch nicht streiken – mit mehreren KollegInnen aus jedem Ort.
Was sagt man zu KollegInnen, die selbst meinen, dass sie bei Amazon "im Paradies" arbeiten, weil viele andere Unternehmen deutlich niedrigere Löhne bezahlen?
Nur weil es anderen Leuten noch schlechter geht, kann ich nicht die Klappe halten. Beim Onlinehändler Zalando zahlen sie bis zu zwei Euro weniger pro Stunde, aber andere Unternehmen kann man nicht als Maßstab nehmen. Und wenn wir bei Amazon bessere Löhne erkämpfen, wird das Druck auf Zalando ausüben.
Amazon ist ein tarifloser Betrieb. Das können wir nicht hinnehmen. An den einzelnen Standorten wird unterschiedlich bezahlt: Bei uns liegt das Einstiegsgehalt aktuell bei 9,55 Euro die Stunde. Im Westen liegt es deutlich darüber, wobei es auch dort unterschiedlich ist.
Hat der Arbeitskampf konkrete Auswirkungen gehabt?
In verschiedenen Standorten wurden Klimaanlagen installiert. Interessanterweise hatte uns ein Standortleiter früher immer gesagt, dass eine Klimaanlage in unserer Halle technisch nicht machbar wäre – und ein Jahr später haben sie es gemacht. Aber eigentlich sind sie nur aufgrund gesetzlicher Bedingungen da.
Amazon behauptet immer, dass die Streiks wirkungslos seien.
Bei früheren Streiks bekamen wir immer die Meldung von den Chefs, dass alle KundInnen trotzdem pünktlich beliefert wurden. Nach den Streiks an vier Standorten vor zwei Wochen kam keine solche Meldung. Also ich denke, dass es Folgen gab. In Leipzig blieben Zehntausende Pakete liegen, und das Volumen, das am nächsten Tag rausging, war immens. Wir versuchen immer, an Tagen zu streiken, an denen es weh tut. Zum Beispiel an Brückentagen wie nach dem "Männertag" wissen wir aus Erfahrung, dass viele KollegeInnen krank werden und das Personal knapp ist. Genau da sind wir rausgegangen.
Was für Solidarität habt ihr erlebt?
Gleich am ersten Streiktag sind Studierende bei uns aufgetaucht. Am Anfang waren wir ein bisschen verwundert, aber jetzt finden wir das topp. Inzwischen hat sich ein Solidaritätsbündnis gegründet. Sie sind an jedem Streiktag dabei. Manchmal demonstrierten wir zur Innenstadt – es sind drei oder vier Kilometer – und halten Kundgebungen ab. Einmal sind wir auch mit 300 KollegInnen auf die Uni gegangen und haben mit den Studierenden diskutiert.
Die Studis haben tolle Sachen gemacht. Zum Beispiel wenn du bei Amazon ein Geschenk bestellst, kannst du auf der Karte eine Solidaritätsbotschaft für den Packer eingeben. Oder in letzter Zeit schreiben Leute Produktrezensionen wie: "Das Produkt ist toll, aber die ArbeiterInnen brauchen einen Tarifvertrag!"
Auch mit anderen Belegschaften?
Wir streiken für den Tarifvertrages des Einzel- und Versandhandels. Letztes Jahr gab es flächendeckende Arbeitskämpfe im "normalen" Handel. Viele Mitglieder haben uns gefragt, warum wir nicht zusammen streiken, denn das wäre ein starkes Zeichen. Der Druck auf die GewerkschaftssekretärInnen wurde immer größer und wir mussten klar machen, dass die Glaubwürdigkeit des Streiks leidet, wenn wir nicht zusammen gehen. Schlussendlich hatten wir zwei gemeinsame Streiktage: Einmal gingen wir zu den KollegInnenen im Einzelhandel, einmal kamen sie zu uns, und es war eine Supersache. Ich weiß nicht, warum ver.di nicht selbst darauf gekommen ist.
Wie geht der Kampf weiter?
Es werden weitere Standorte streiken. Jedes Mal wenn wir in Leipzig und Bad Hersfeld gestreikt haben, sind KollegInnen anderswo in ver.di eingetreten. Amazon wird man nur knacken können, wenn viele Standorte organisiert sind. Die Formen der Streiks werden sich auch ändern.
Interview: Wladek Flakin, Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO)
Eine kürzere Version dieses Interviews erschien im Neuen Deutschland am 20. Juli
Amazon im hohen Norden
http://www.kn-online.de/Lokales/Neumuenster/Kommt-Amazon-nach-Neumuenster