[Chile] Mit Kerzen und Krawallen: Erinnern am 11. September

Miguel (rote Basecap) und seine compañeros

Santiago de Chile. Der 11. September, Jahrestag des Militärputsches, wird in Chile jedes Jahr von heftigen Krawallen begleitet. Epizentrum bildet die Stadt Santiago und ihre Armenviertel. Dort liefern sich vor allem Jugendliche Straßenschlachten mit den Carabineros, der Militärpolizei Chiles. Dieses Jahr starben allein drei Personen in der Nacht und eine vierte wurde lebensgefährlich verletzt. Politisch motivierte Taten werden von Behörden und Medien jedoch ausgeschlossen.

Abseits der Unruhen finden unzählige Gedenken an die Opfer der Diktatur statt. Ein bedeutender Ort stellt hierbei das Estadio Nacional dar, einer der ersten großen Internierungs- und Folterlager der Militärdiktatur.

 

Hintergrundartikel: Der 11. September: Geschichte und Nachlass einer Diktatur


 

Krawalle in den poblaciones: Zwischen gewaltförmiger Erinnerung und Selbstzweck

Zwei gepanzerte Truppentransporter der Carabineros stehen auf der Avenida Grecia Ecke Vespucio Sur, der Stadtautobahn. Sie bewachen einen der zentralen Ein- und Ausgänge in das Viertel Lo Hermida, einer población (Armenviertel) mit politischem Hintergrund der bis in die frühen Siebziger zurück reicht. Aufmerksam schauen die Polizisten die Straße hinunter und mustern mich mit finsterer Miene als ich vorüberziehe. Die Straßen scheinen wie leer gefegt. Kaum jemand ist auf den Beinen.

Am 11. September schließen die Geschäfte früher. Gegen 15 Uhr bewegen sich hastig Scharen von Arbeiter_innen und Angestellten durch die Straßen. Vielen ist eine gewisse Anspannung in ihren Gesichtern anzumerken. Sie befinden sich alle auf dem Heimweg. transantiago, der private Verkehrsbetrieb, wird seine Anzahl der Busse in den Abendstunden reduzieren. Vor vier Jahren noch war am 11. September nationaler Feiertag. Das arbeitende Volk konnte ausspannen. Dieser aus der Diktatur stammende Erlass markierte festlich das Datum an dem Chile vom „Krebs des internationalen Kommunismus geheilt“ wurde. Die Abschaffung des Feiertags durch die Regierungskoalition Concertación markierte jedoch nicht die Einführung eines allgemeinen Trauertages.

 

Aus der Entfernung ertönt ein lautes Krachen. Einige Blocks weiter liefern sich Bewohner der población erbitterte Straßenkämpfe mit der Polizei. Eine Gruppe von etwa 50 Protestierenden errichtet eine Barrikade auf der Straße und zündet sie an. Die meisten unter ihnen sind Jugendliche, ich erkenne nicht eine Frau unter ihnen. Die Barrikade hält jedoch nicht lange. Mit dröhnendem Motor rauscht ein Wasserwerfer an, löscht sie und fegt anschließend drüber hinweg. Die Protestierenden nehmen die Beine in die Hand, manche von ihnen erwischt der mit CS-Gas vermengte Wasserstrahl des guanacos. So nennen die Chilen_innen liebevoll ihre Wasserwerfer, angelehnt an das spuckende Lama. Ähnlich bildhaft ist der zorrillo, zu deutsch Stinktier. Ein Panzerfahrzeug, das CS-Gas verschießt. Aus der Ferne rücken unterdessen Greiftrupps der fuerzas especiales, der Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung vor. Zumeist sind es kleine Grüppchen von fünf Carabineros, ausgestattet mit Schildern und einem Granatwerfer. Mit CS-Gas zerstreuen sie die Ansammlung von Menschen, bleiben jedoch auf Distanz zu ihr. Eiligen Schrittes laufe ich den Straßenzug hinunter. Je näher ich gelange umso beißender wird der Geruch des Gases. An den Straßenecken tummeln sich kleine Gruppen von Anwohner_innen und schauen – teils belustigt, teils angespannt – dem Treiben zu. Die Schals werden bis zu den Augen hochgezogen und die Jackentaschen sind vollgestopft mit Zitronen. Die wenigsten von ihnen sehen erschrocken aus, viele sind schon in ihren Fünfzigern und haben die Diktatur selbst als Jugendliche erlebt.

Unterwegs lerne ich Miguel, einen Aktivisten kennen. Er dürfte kaum älter als 17 Jahre sein und ist einer der wenigen, der Unbekannten gegenüber aufgeschlossen ist; nachdem er sich erkundigt hat ob ich auch nicht von der chilenischen Presse bin. Den meisten Menschen außerhalb des barrios wird mißmutig wenn nicht gar feindlich begegnet. Gerade Fotografen stehen in Verruf sapos zu sein, Zivilpolizei die Aufnahmen von den Protestierenden macht um sie später zu überführen. Doch auch den kommerziellen Medien wird die Feindschaft erklärt. Und das nicht ohne Grund: häufig werden die Video- oder Fotoaufnahmen an die örtlichen Polizeistellen weitergegeben. Hinzu kommt eine Berichterstattung die jeglichen Protesten ein politisches Motiv abspricht und ihre Protagonist_innen als gewaltbereite flaites hinstellt, was so viel wie Kleinkriminelle bedeutet. Sollte ein politisches Motiv nicht zu leugnen sein, wird entweder alles kurzerhand um die Gewaltfrage zentriert oder – sofern die Protestierenden noch jung sind – die Möglichkeit von Kenntnissen rund um den 11. September und seine Geschichte geleugnet. Sie hätten die Diktatur ja schließlich nie erlebt oder waren noch zu klein.


 

Miguel ist guter Dinge, ein paar Blocks weiter gäbe es gute Möglichkeiten Fotos zu schießen. „Da geht die Post ab“, sagt er mit einem breiten Grinsen. Soweit sollten wir allerdings nicht mehr kommen. Unterwegs errichtet eine Gruppe von etwa 40 Vermummten eine neue Barrikade. Kurz darauf brennt sie auch schon. Als die Polizei in einem zorrillo anrollt und Tränengas abfeuert, hageln Steine auf das Fahrzeug ein. Die Menge flüchtet in eine Seitenstraße. Von der anderen Straßenseite aus mache ich erste Aufnahmen. Dies erregt sofort die Aufmerksamkeit einiger Teilnehmer. Steine fliegen in meine Richtung, ich sei ein sapo, schreien sie. Auch die Rufe von Miguel können nicht alle besänftigen. Eine Handvoll stürmt weiterhin lauthals auf mich zu. Drei Jungs, sie mögen kaum 14 Jahre alt sein, werden sofort handgreiflich: „Gib mir die Kamera, du Arschloch“, brüllt einer und reißt am Riemen. Ein anderer zerrt an Rucksack und Bauchtasche. Mittlerweile sind Verwandte von Miguel zu Hilfe geeilt, sie drängen die aufgebrachte Menge ab. Dank einem beherzten Tritt in den Magen bleibt auch der halbstarke Schreihals auf Distanz. Genug Zeit um in das Hinterhaus einer Tante Miguels zu flüchten.

Jährlich berichten die Medien von Übergriffen auf Journalist_innen, die verprügelt werden und ihre Ausrüstung entrissen bekommen. Fraglos sind solche Übergriffe verwerflich, die Presse müht sich jedoch sichtlich ab mediale Drohszenarien zu errichten. Schon Tage vor dem 11. schwadronieren sie mit Schreckensmeldungen über zukünftig stattfindende Krawalle und illustrieren dies mit Jahre alten Fotos. Fernsehreporterinnen tauchen in kugelsicheren Westen und behelmt auf, im „reinsten Stil der Straßen Palästinas“ wie es in dem Bild-Pendant Las Últimas Notícias heißt. Während einem der Vergleich mit einem Krieg aufgedrängt wird zerren die Medien das Bild des autonomen Bürgerschrecks, mit Steinen und Molotovcocktails bewaffnet, in den Fokus der Öffentlichkeit.

 

Die Nacht um den 11. September steht heute mehr denn je für eine Plattform, auf der Unzufriedene jeglicher Couleur ihren Unmut auf die Straße tragen. In den Brennpunkten der Stadt liefern sich politische Aktivist_innen Scharmützel mit der Polizei. Aber auch wütende Jugendliche, deren Leben in den poblaciones ihnen kaum Zukunftsperspektiven bietet, gesellen sich zu den Revolten hinzu. Diese Nacht bietet ihnen letztlich auch die Möglichkeit Feindbildern wie Polizei oder Presse, die sie in ihrem Alltag schikanieren oder als dumme, kriminelle Taugenichtse hinstellen, eine Abreibung zu verpassen. Nicht selten hat dieses Erlebnis auch einen großen Unterhaltungswert für die Teilnehmenden.

Flankiert werden die Krawalle weiterhin von Streitigkeiten zwischen Gangs, die nicht selten mit scharfen Waffen ausgetragen werden. Dieses Jahr wurden Medienberichten zufolge zwei junge Männer aufgrund solcher Zwistigkeiten erschossen, ein dritter lebensgefährlich verletzt. Ein Jugendlicher starb indessen durch einen Kopfschuss als die selbstgebaute Handfeuerwaffe seines Freundes versehentlich auslöste. Medien- und Polizeiberichten zufolge gab es landesweit 206 Festnahmen, 161 allein in Santiago. Während der insgesamt 21 Stunden andauernden Ausschreitungen sollen über 130.000 Haushalte vom Stromnetz abgeschnitten worden sein. Ausgelöst wurde dies durch so genannte cadenazos, eine beliebte und übliche Aktion bei der Eisenketten auf Stromleitungen geworfen werden was zum Kurzschluss führt. Nach Polizeiangaben, nahm die Gewalt durch Handfeuerwaffen gegen sie zu. So registrierten sie die Nutzung von Revolvern Kalibers 32 und 38, sowie 9mm Pistolen. Auf Seiten der Protestierenden steigt demnach die Bereitschaft der Polizei mit ebenso professionell hergestellten Waffen zu begegnen. Für Gelegenheitstäter_innen die ein oder andere Tankstelle zu überfallen, bereitet der 11. September ebenfalls die Bühne.

Dennoch lässt sich dem Tag der politische Hintergrund an sich schwerlich absprechen. Für viele Aktivist_innen aus dem autonomen und Mapuche-Spektrum stellt dieses Datum einen der zentralen Anlaufpunkte im Jahr dar um ihre Kritik auf die Straße zu tragen. Eine Kritik die sich gegen ein nach wie vor mörderisches Staatswesen richtet, wenngleich nicht mehr in aller Massivität und Systematik wie in Zeiten der Diktatur. Der Aufmerksamkeit der Medien können die Aktivist_innen sich dabei gewiss sein, auch wenn deren Berichte kaum über den Kanon der Kriminalisierung hinaus gelangen.

 

 

Die Erinnerung wach halten, bis der Staat das Licht ausknipst – Gedenken am Estadio Nacional

Von weitem schon sind die Kerzen zu erkennen. Unzählige säumen die Mauern um das Estadio Nacional. An den Mauern sind Portraits des einstigen Präsidenten der Republik, Salvador Allende, angebracht. Neben ihm der Konterfei von Victor Jara, ein beliebter Liedermacher Chiles und eines der berühmtesten und bekanntesten Opfer der Diktatur. Die Menschen schauen sich die Fotos eingehend an, gehen fast auf Tuchfühlung mit ihnen. Lange verweilen sie bevor sie schweigsam weiterziehen. Einige von ihnen befestigen Rosen oder zünden eine Kerze an. Während der Diktatur war das Stadion eines der ersten Internierungs- und Folterlager. Zu Tausenden wurden Regimegegner_innen hier hineingepfercht und unter der Aufsicht von Soldaten zu Verhören in die darunter liegenden Kammern gebracht. Der brutalen Folter sollten nicht wenige zum Opfer fallen. Heute stellt es eines der bedeutendsten Orte der Erinnerung dar.

 

 


 

Gegen 21:45 Uhr fangen Beamte an die Lichter am Estadio Nacional abzubauen. Hier bestimmt der Staat bis wann angedacht wird. Eine größere Menge räumt daraufhin auch das Feld. Etwa 2.000 Menschen gedenken bis in die späten Abendstunden hinein den Opfern der Militärdiktatur an dem Stadion. Bedeutend weniger als erwartet. Die Alterspanne ist ziemlich breit: Opas mit ihren Enkelkindern, Familien und junge Paare nehmen an der Erinnerung teil. Manche Aktionen binden sogar die Kinder aktiv in das Gedenken ein. Mit Klebeband formen sie ihre Schuhe nach und entzünden anschließend, unter Aufsicht junger Erwachsener, in ihnen Kerzen für die Verstorbenen.

Die Stimmung schwankt indessen. Meist ist sie gedämpft bis gedrückt, aber auch einige positive Momente sind zu verzeichnen. Anwesende singen feierlich die Lieder von Victor Jara. Immer mehr stimmen in die Lieder mit ein.

Der Ablauf scheint allerdings stark routiniert und institutionalisiert. Auf einer kleinen Bühne stimmt ein Mann mit Gitarre die Internationale an. Über ihm prangt eine gigantische Zeichnung des Hauptes Allendes. Der Mythos Allende ist allgegenwärtig; Kundgebungen huldigen seiner Person, thematisieren Unidad Popular und die Leiden der Diktatur.

Die Vergangenheit ist das bestimmende Moment. Das Gedenken am Estadio Nacional befasst sich, bis auf eine Ausnahme, ausschließlich mit der Ära Allendes und den traumatischen Zeiten der Diktatur. Die einzige Ausnahme bildet ein Transparent auf dem die Namen ermordeter Aktivisten durch den post-diktatorischen chilenischen Staat benannt werden.

 

 


*** Kontakt: seba_sternthal (at) riseup dot net ***


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Vielen Dank für den tollen Bericht aus Chile!