Die Autoren dieses Briefes vom 3. Dezember 2012 sind nicht Teil einer Gruppe, doch zum Zeitpunkt seiner Niederschrift sind ihre theoretischen Referenzen v.a. Jacques Camatte, Gilles Dauvé, Bruno Astarian. Der Brief versucht, auf einige Streitpunkte zurückzukommen, welche zwischen ihnen und den Vertretern der Wertkritik an einem von letzteren organisierten Treffen im November 2012 aufgekommen sind.
Anselm,
Ich versuche, einige schnelle Erklärungen bezüglich der „Konfrontation“ […] während des Treffens zu liefern.
[…]
Ein Treffen und die demokratische Konfrontation von gezwungenermassen ungleich fundierten Meinungen führt sowieso nie zu irgendeinem theoretischen Fortschritt.
Deshalb versuche ich hier eine erste, sehr knappe Klärung.
Wie wir schon gesagt haben, unser Interesse für die Wertkritik ergibt sich nicht aus ihrer weitgehend übertriebenen Originalität, sondern einzig und allein aus den ziemlich klaren Übereinstimmungen in gewissen Bereichen mit der „post-proletarischen“ kommunistischen Theorie (Begriff von Christian Charrier), welche auf konfliktuelle und uneinheitliche Art und Weise seit vierzig Jahren hauptsächlich vom französischen radikalen Milieu ausgearbeitet wird (v.a. Camatte, Dauvé, Astarian, manchmal Roland Simon). Diese Übereinstimmungen sind, wie Du es bemerkt hast, unserer Meinung nach hauptsächlich ein Resultat der neuen Epoche, in welcher es endlich klar geworden ist, dass die Affirmation des Proletariats, sowohl als Klasse für das Kapital als auch als Klasse, welche eine alternative Form der Verwaltung des Kapitals vorschlägt, eines der prinzipiellen Hindernisse auf dem Weg der Zerstörung der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt.
In Deinem Fall, wie ich es Dir schon nach Lausanne geschrieben habe, geht es auch um eine Intuition bei der Lektüre Deiner Bücher, dass Du diese Welt für genauso unerträglich hältst wie wir, und dass Deine Essays eine „Spannung“ hin zu einem Leben enthalten, welches sich radikal von diesem tristen Überleben unterscheidet; eine Spannung, die uns näher bringt, so hoffe ich zumindest, als eine einfache theoretische Einigkeit/Uneinigkeit.
Die Übereinstimmungen sind meiner Meinung nach klar, einige Theoretisierungen kommen direkt von Bordiga, andere später, in den 1960er oder 1970er Jahren: das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis und nicht als einfache Klassenherrschaft, Kapitalisten als einfache Funktionäre des Kapitals, Agenten der Selbstverwertung des Werts, „Selbstverwaltung“ als Selbstverwaltung des Kapitals, der wirtschaftliche Kampf der Klassen (oder Klasseninteressen) ist nicht Träger einer Überwindung, Wichtigkeit der abstrakten Herrschaft des Kapitals, wovon die Ausbeutung ein Moment darstellt, die Kategorie des Privateigentums der Produktionsmittel und des „freien“ Markts ist für die gesellschaftlichen kapitalistischen Verhältnisse unwesentlich, der Staat als eindeutiger Ausdruck des Kapitals...
Ausserdem stimmst Du mit gewissen Ideen von Bordiga überein: der Kommunismus hat nichts mit der quantitativen Entwicklung der „Produktivkräfte“ zu tun, Kritik der Technik (siehe u.a. der berühmte Text „Politica e ’costruzione’“ [„Politik und ’Konstruktion’“] von 1952: „Es gibt keine Dummheit, so gross sie auch sein mag, welche die moderne Technik nicht sofort unterstützen und mit jungfräulichem Plastik überdecken würde, wenn das dem unwiderstehlichen Druck des Kapitals und seinem erschreckenden Appetit entspricht.“, „Der Kapitalismus hat schon lange eine „technische“ Grundlage konstruiert, d.h. ein Welterbe von Produktivkräften, das uns bei weitem genügt […] Noch besser: Der Kapitalismus hat selbst zu viel konstruiert und er erlebt diese historische Alternative: Zerstören oder Verschwinden.“), Notwendigkeit einer Desakkumulation.
Trotz diesen Übereinstimmungen, welche dazu führten, dass wir enthusiastisch waren, Dich zu treffen und froh sind, es getan zu haben, störten uns von Anfang an die Meinungsverschiedenheiten, die Schwächen oder die (unserer Meinung nach) sehr fragwürdigen Konzeptionen und M. stellte Dir direkt mehrere dahingehende Fragen. Aber wie gesagt, die Polemik für die Polemik entspricht nicht meinem Geschmack und ich bevorzuge das hervorzuheben, was uns verbindet.
Umso mehr, weil Deine Texte, von den drei Theoretikern der Wertkritik, die uns zugänglich sind, jene sind […], welche am wenigsten für uns „schockierende“ Elemente enthalten.
Die Gesamtheit der Elemente, welche uns in der Wertkritik stören, erlaubt uns trotzdem, einerseits, ein Labor der Erneuerung der Sozialdemokratie darin zu sehen. D.h., dass sich der Kern der Wertkritik (= abstrakte Herrschaft durch den abstrakten Wert/die abstrakte Arbeit, Ausbeutung als rein internes Verhältnis) klar mit „reformistischen“ oder zumindest zutiefst ambivalenten Positionen überlagert hat, v.a. bei Postone, aber auch manchmal bei Kurz, eher selten bei Dir (den Reformismus in Form von „Anti-“ ausgenommen: Kämpfe gegen die Schädlichkeiten usw.).
Es geht um eine einfache Feststellung, darum, auf ein Problem aufmerksam zu machen, und nicht um eine polemische Absicht. Um dieses zu illustrieren komme ich nicht auf die Tatsache zurück, dass Postone all seine Kritik des Kapitalismus auf eine sehr hohe gesellschaftliche Produktivität der Arbeit gründet (auf sehr „traditionell marxistische“ Art und Weise), welche einen Sozialismus erlaubt, der die Arbeit als getrennte Sphäre aufrechterhält. Oder die bemerkenswerte Abwesenheit jeglicher Kritik der Demokratie, genau wie seine bezeichnende Formel „einer politischen, öffentlichen Sphäre im Sozialismus –, die außerhalb des formalen Staatsapparates läge“ [1]. Ich werde hingegen von der Position von Robert Kurz für die „israelische Selbstverteidigung“ [2] sprechen, auf welche jene in seinem Text „Keine Revolution, nirgends“ folgt, wo er dazu aufruft, in Israel „gewerkschaftliche Interventionskräfte“ zu unterstützen „wobei die militärische Macht aufrechterhalten werden muss, um sich vor der Koalition feindlicher Länder abzusichern“. Oder der konstante Aufruf von Postone an „die Linke“, und scheinbar, was ich nicht wusste und ich bin froh, dass Clément das während dem Treffen angesprochen hat, glaubt er, dass man den Nationalisierungen Mitterands 1981 einen radikalen Inhalt hätte geben können...(Du warst leider während dieser Intervention nicht da, Clément).
Unter anderen diskutablen Positionen würde ich auch den Text von Steeve in der Zeitschrift „Sortir de l’économie“ Nr. 4, S. 131 zitieren, ein Text geschrieben im Mai 2012, wo er sagt, das Geld werde wahrscheinlich in der post-kapitalistischen Gesellschaft eine Rolle spielen...
Ich muss sagen, dass solche Dinge in Deinen Texten eher selten sind, wenn auch einige Elemente darin uns stören, wenn auch etwas weniger.
Falls jedoch theoretisches Denken noch irgendwas bedeutet, ist es zumindest störend, dass solche Schlussfolgerungen ausgehend von den Prämissen und dem theoretischen Kern der Wertkritik gezogen werden können.
Der (verfälschte und verzerrte) anmassende Satz von Debord „wenn ich meine Ideen im Mund eines Feindes sehe, frage ich mich, wo er sich geirrt hat“, muss in seiner eigentlichen, logischen Formulierung und in seinem anfänglichen Sinn wieder aufgenommen/korrigiert werden: Wenn aus einer Theorie inakzeptable Schlussfolgerungen gezogen werden können, heisst das, dass diese Theorie sie zumindest potentiell enthält und es somit verdient, revidiert zu werden.
Das ist also der erste Punkt: Die „Radikalität“ der Wertkritik kann nur durch eine klare und explizite Verurteilung dieser neo-sozialdemokratischen Positionen und der Suche nach ihren notwendigen Ursprüngen in der Theorie selbst bestätigt werden.
Unsere Hypothese ist, dass diese Schlussfolgerungen, unter anderem, vom Ausblenden der grundlegenden Gewalt des Ausbeutungsverhältnisses kommen, die Arbeitskraft ist nicht eine Ware wie jede andere, sondern eine Pseudo-Ware, welche gleichbedeutend ist mit der Abtretung der Befehlsgewalt ans Kapital für eine gegebene Zeit, aufgrund der wesentlichen Eigenschaft, „ohne Reserve“ (Bordiga) gegenüber dem Kapital zu sein. Es ist somit sehr wahrscheinlich, dass diese „Reservelosen“, ob ausgeschlossen oder nicht, die aufständische Masse der Zukunft sein werden, und nicht, oder zumindest nicht hauptsächlich, eine „Vereinigung kritischer Individuen“. Und es ist gewiss, dass diese Reservelosen nie von der Wertkritik gehört und die Pamphlete zur Kommunisierung nicht gelesen haben...Doch als Individuen werden wir gezwungen sein, zu versuchen, mit ihnen den Himmel zu erstürmen und dies in einem kommunistischen Sinne zu tun (=Wiederbildung eines wirklichen Gemeinwesens gegen die „materielle Gemeinschaft“ des Kapitals).
Falls Du eine bessere Idee hast, sehr gut, doch es ist auf jeden Fall nötig, den theoretischen Kern zu korrigieren, falls Du die „Abweichungen“ korrigieren willst (ausser natürlich, Du entscheidest auf kohärente Art und Weise, sie zu akzeptieren, was den anderen Ausweg darstellt), um aus der Wertkritik etwas anderes als „radikal schicke“ Theorie für mondäne Dinners zu machen: „Wussten Sie, mein lieber Herr, dass unser ganzes Leben auf der abstrakten Herrschaft der Arbeit und des Geldes gründet? Wie gesagt...Traurige Epoche, oder nicht?“. Die Tatsache, dass ein Teilnehmer die „Gewalt“ erwähnte, die er wahrnimmt, wenn er in seiner Familie von der Wertkritik spricht, ist einfach nur lächerlich.
Damit kritisiere ich absolut nicht die Tatsache, dass auch für uns im Moment die Theorie die einzige Möglichkeit und die einzige Notwendigkeit darstellt und ich fordere auch keine unmittelbare „Ausführung“; der Aktivismus und der Immediatismus waren nie Teil der „post-proletarischen“ Strömung und auch nicht Teil der Tätigkeit Bordigas und einiger anderer in seinem Umfeld. Seit langem stehen wir dem Vorwurf gegenüber, in unserem „Elfenbeinturm“ zu verharren und alles, was sich bewegt, zu verurteilen, wir werden mit „Mönchen des Marxismus“ und „Agnostikern“ verglichen. Daran soll es nicht scheitern, diese Vorwürfe bringen uns zum Lachen, und wenn wir jene sehen, welche „Hand anlegen“ und in „Bewegungen“ aktiv sind, werden diese Vorwürfe zu Komplimenten.
Doch ich finde, dass es darum geht, seine Positionen zu verteidigen, denn sogar Deine Texte sind verwertbar für eine ökologische Neo-Sozialdemokratie (Wachstumsgegner und andere), solange Du diese Punkte nicht ansprichst, z.B. die Tatsache, dass die finale Krise des Kapitalismus nur (mit wenig Chancen auf Erfolg) durch einen schmerzhaften Prozess der Kommunisierung zum Kommunismus führen kann (die Tatsache, dass die Wertkritik den Begriff verworfen hat, ist symptomatisch). In Deinem Umfeld scheinen übrigens einige eine frei erfundene und komplett konfuse Definition dieses Konzepts zu haben, denn es ging nie darum, Gemeinschaften oder Squats zu kreieren, welche heute schon auf kommunistische Art und Weise funktionieren! Es gibt nichts in dieser Welt, das wir aufrechterhalten und einfach übernehmen wollen. Alles gehört ihnen, uns gehört nichts.
Kommunisierung=vom Moment der aufständischen Krise an, wo die Zerstörung der alten Gesellschaftsverhältnisse simultan bewerkstelligt wird durch die entschiedene und notwendige gewalttätige Konfrontation mit den Kräften des Kapitals (wobei zu hoffen bleibt, dass sie so zerstreut wie nur möglich sind, um die notwendige Gewalt zu reduzieren), entstehen gleichzeitig kommunistische gesellschaftliche Verhältnisse in der Krisenaktivität selbst (unmittelbare Beseitigung des Geldes, Abwesenheit von demokratischer oder undemokratischer getrennter Entscheidungsform, Bemächtigung der Produktionsmittel, welche zum Teil zerstört und zum Teil im Sinne von dem, was Astarian eine „Produktion ohne Produktivität“ nennt, wiederverwertet werden, neue Form der Tätigkeit, deren Ziel z.B. die Vertiefung der Intersubjektivität der Gruppe durch das beiläufige Mittel der Produktion ist...), welche sich so schnell wie möglich weltweit ausbreiten (oder vom Kapital wieder absorbiert werden) und zunehmend dazu führen, dass die Notwendigkeit der Gewalt zu ihrer Vertiefung „abstirbt“ [3]. Der Kommunismus als Ziel ist gleichzeitig der Kommunismus als Mittel sobald der Aufstand beginnt, dabei gibt es keine anfängliche Periode der „Machtergreifung“, bevor sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern, doch dabei wird nicht die Notwendigkeit der Konfrontation mit der zum Neustart bereiten alten Welt des Kapitals verwischt.
Das ist es, was uns dazu brachte, die Frage der Konfrontation und der Gewalt aufzubringen, und nicht eine immediatistische und dumme Apologie aller Form von Gewalt unabhängig von ihrem Inhalt, welche wir den beschränkten Anarchisten und Maoisten überlassen...
Übrigens, wie ich schon gesagt habe, haben die Kämpfe „gegen die Schädlichkeiten“ überhaupt keine inhärente Radikalität, wenn sie auch nötig sein mögen, sie tragen sogar dazu bei, wenn sie erfolgreich sind, dass die Idee ermutigt wird, dass mehr oder weniger radikale Kämpfe der Basis es erlauben, den Staat unter Druck zu setzen und von ihm gehört zu werden, womit die Demokratie erneuert wird. Sie sind auf jeden Fall nicht mehr als die fordernden Kämpfe der Arbeiter Träger einer Überwindung an sich. Der Horizont der Wertkritik scheint sich auf eine neue „Sozialdemokratie der Hoffnungslosigkeit“ zu beschränken, wo der Kampf „gegen Reformen“ schlicht dazu beiträgt, das geringere Übel zu erhalten, genau wie die alte Sozialdemokratie, welche Reformen wollte, damit das geringere Übel zur Realität wird...
Ich überfliege so schnell wie möglich die unendlich wiederholte und erneuerte Feststellung, die Wertkritik sei unglaublich originell, welche meiner Meinung nach einer einzigen Tatsache geschuldet ist: Die Auslöschung oder Relativierung der Gewalt des grundlegenden Verhältnisses der kapitalistischen Produktionsweise, die Trennung des Arbeiters von seinen Produktionsmittel, die Bedingung der Reservelosigkeit des Proletariers.
Wenn man den theoretischen Kern der Wertkritik bis zum Überdruss wiederholt, die Analyse der abstrakten Arbeit als gesellschaftliche Vermittlung, das Kapital als Selbstverwertung des Werts (eine Analyse, welche durch dieses anfängliche Versäumnis verdreht wird), kommt man zum Schluss, dass überhaupt keine Analyse der Wertkritik wirklich originell ist: Noch mehr, viele sind gefährlich nah an der klassischen Sozialdemokratie, allen voran der Aufruf an den guten Willen unabhängig von der gesellschaftlichen Position, andere hingegen kommen vom ach so geschmähten „traditionellen Marxismus“: An erster Stelle die Krisenanalyse, welche schlichtweg die klassischen Theorien des Marxismus sind (Diskussion Luxemburg/Grossmann usw.); die produktive und unproduktive Arbeit, Mehrarbeitsrate, Profitrate usw. Einige Theoretisierungen von Kurz sind allerdings haarsträubend, z.B. die Behauptung, die „fordistische Regulierung“ habe die Überwindung der Krise von 1929 erlaubt [4], welche der Regulationstheorie entlehnt ist, eine Denkschule, welche Anfang der 1980er Jahre [AdÜ: präziser Mitte der 1970er Jahre] für und von Sozialdemokraten gegründet worden ist, um den Marxismus zu „überwinden“...
Doch ich weiss, ich habe nicht wirklich den „Theoretiker“ Kurz gelesen, was ich tun werde, sobald es mir sprachlich möglich sein wird. Doch einige Einblicke, welche Du mir gabst, sind entweder klassisch, wie z.B. jene der Trotzkisten Valier und Salama (Ware ohne „individuellen“ Wert, sondern als Warenmasse, Extraktion von Mehrarbeit auf „gesellschaftlicher“ Ebene und nicht in einem spezifischen Unternehmen), oder zumindest diskutabel (Geld ohne Wert im Mittelalter).
Jede Theorie, welche versucht, jegliche Verbindung, auch eine kritische, jegliche historische Kontinuität mit der kommunistischen Bewegung allen voran in ihrer proletarischen Form zu verweigern (wovon sich sogar Temps Critiques klar distanziert), hat bis jetzt in der Sphäre der Erneuerung der Sozialdemokratie geendet (Castoriadis, Lyotard, Baudrillard usw.).
Ich belasse es dabei, obwohl es noch viel zu sagen gäbe. Du bist nicht verpflichtet, zu antworten, und noch weniger sofort; es ging nur darum, einige Bemerkungen und Probleme etwas klarer zu formulieren. In der gegenwärtigen Situation können weder M. noch ich behaupten, die Lösung zu haben; doch die einfache Feststellung, dass das hier Probleme sind, kann radikale Positionen von ihrer simplen Karikatur unterscheiden.
Freundschaftlich,
JC
Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net.
"Erneuerung der Sozialdemokratie"
Um das zusammenzufassen: folgende Anhaltspunkte werden aufgeführt, warum die Wertkritik im Kern "(neo-)sozialdemokratisch" sei.
1. Die "Abwesenheit jeglicher Kritik der Demokratie".
Zu 1.: Dieser Vorwurf ist aus der Luft gegriffen. Exemplarisch lässt sich ein älterer Text von Robert Kurz zitieren, in dem es um "den diktatorischen Charakter von Freiheit und Demokratie" (Kurz) geht.
"Daß die Demokratie selbst, wie ihr Name schon sagt (Volks-Herrschaft), nur die bisher modernste Art der Diktatur einer zwanghaften gesellschaftlichen Form über die Entwicklung menschlicher Bedürfnisse und Beziehungen ist, kann das absolut in dieser Form befangene demokratische Räsonnement nicht einmal im Traum realisieren. Dabei fiele es eigentlich nicht schwer, die sogenannte Marktwirtschaft als den repressiven Kern der demokratischen Herrschaft zu dechiffrieren, denn die bedingungslose Unterwerfung der menschlichen Lebensäußerungen unter die Logik und unter die Zwänge des Marktes (egal ob "frei" oder "geplant") ist das wesentliche Merkmal aller modernen Demokratien. [...] Demokratie und Marktwirtschaft alias Kapitalismus gehören zusammen als die zwei Seiten einer Medaille. [...] Die demokratische Welt ist also eine Welt des "stummen Zwanges" (Marx), der sich als Verwertungsgesetz des Geldes in vielen Erscheinungsformen bemerkbar macht." (Kurz, Robert: "Die Demokratie frisst ihre Kinder")
Mehr wertkritische Texte zur radikalen Demokratiekritik finden sich hier und hier.
2. Robert Kurz' Beiträge zu Israel
Zu 2.: Leider erläutert der vorliegende Text von kommunisierung.net nicht, was genau an Kurz' Beiträgen zu Israel (vgl. z.B. "Der Krieg gegen die Juden") "indiskutabel" sein soll. Der Wertkritik "Reformismus" vorzuwerfen, weil sie sich nicht antizionistisch positioniert, ist wenig überzeugend.
3. Die Affirmation des Geldes.
Zu 3.: Als Indiz wird ein Text eines mir unbekannten "Steeve" angeführt, der konstatiert, "das Geld werde wahrscheinlich in der post-kapitalistischen Gesellschaft eine Rolle spielen". Auch dieser Punkt ist als "Kritik an der Wertkritik" (vgl. Titel) aus der Luft gegriffen:
"Klar ist aber, dass Geldforderungen keine Perspektive mehr eröffnen, sofern sie nicht von der Suche nach Wegen aus der Falle des abstrakten Geldreichtums getragen werden. [...] Hoffnungen in die Geldwirtschaft liegen uns fern. Gerade deshalb kennen unsere Geldforderungen kein Tabu. Der Standort mag untergehen und das Wachstum soll versiegen. Bis dahin verlangen wir Geld, das uns vorerst noch ein Überleben in der Geldwirtschaft ermöglicht. Eine soziale Emanzipationsbewegung muss sich mittelfristig jedoch um den konkreten Reichtum kümmern, dessen Voraussetzungen in Fülle vorhanden sind." (Galow-Bergemann, Lothar; Erxner, Andreas: "Geld ist genug da...")
Mehr wertkritische Texte zur radikalen Geldkritik finden sich hier und hier.
Hier höre ich aus Zeitgründen mal auf. Mir scheint, dass die Autor*innen des Textes von kommunisierung.net sich bislang wenig mit wertkritischer Theoriebildung auseinandergesetzt haben. Schön allerdings, dass das überhaupt noch jemand macht.
Präzisierungen
Dieser Text stammt nicht von den "Autor*innen ... von kommunisierung.net", es ist lediglich eine Übersetzung. Er ist eine Reaktion auf eine Diskussion mit Anselm Jappe, einem der zentralen Vertreter der Wertkritik in Frankreich. Der Autor des Briefes spricht nicht Deutsch ("Doch ich weiss, ich habe nicht wirklich den „Theoretiker“ Kurz gelesen, was ich tun werde, sobald es mir sprachlich möglich sein wird.") und kennt nur jene Texte von Kurz, welche auf Französisch verfügbar sind. Der Vorwurf der Abwesenheit jeglicher Kritik der Demokratie bezieht sich auch nicht auf die Autoren der Wertkritik, sondern auf Postone, welcher sich zwar nicht als solchen bezeichnet, aber trotzdem einen beträchtlichen Einfluss auf deren theoretische Entwicklung hatte.
Was Israel betrifft, geht es nicht um Pro- oder Anti-Zionismus, sondern um die Verteidigung eines bürgerlichen Staates. Versuche doch mal einem französischen Linkskommunisten zu erklären, dass die Verteidigung des Staates Israels eine revolutionäre Position sein soll. Du wirst nur Kopfschütteln ernten - meiner Meinung nach zurecht.
Steeve schreibt in der französischen wertkritischen Zeitschrift Sortir de l'économie und dass er sehr reformistische Positionen hat, konnte ich auch schon in anderen Texten von ihm feststellen.
Schade, dass Du nicht auf das zentrale Argument des Textes eingehst: "Unsere Hypothese ist, dass diese Schlussfolgerungen, unter anderem, vom Ausblenden der grundlegenden Gewalt des Ausbeutungsverhältnisses kommen, die Arbeitskraft ist nicht eine Ware wie jede andere, sondern eine Pseudo-Ware, welche gleichbedeutend ist mit der Abtretung der Befehlsgewalt ans Kapital für eine gegebene Zeit, aufgrund der wesentlichen Eigenschaft, „ohne Reserve“ (Bordiga) gegenüber dem Kapital zu sein." Es spricht das zentrale Problem der Wertkritik an: Die komplette Ausblendung des Klassenkampfes und die permanente Weigerung, von Kommunismus zu sprechen. Der Autor argumentiert, dass diese theoretische Grundlage sozialdemokratische Positionen ermöglicht, ohne diese zwingend zu implizieren. Eine Kritik, die ich teile, obwohl ich die Texte der Wertkritik für durchaus interessant und lesenswert halte.
hier stimmt was nicht
Der Wertkritik geht es explizit um Kommunismus. Sie bezieht sich hier auf Marx wie einige andere Strömungen auch und teilt mit ihm das Ziel der Aufhebung des Kapitalismus in eine Gesellschaft in der "der Mensch kein unterdrücktes, verächtliches Wesen" mehr ist. Von denen weigert sich niemand, von Kommunismus zu sprechen.
Zu Klassenkampf: Wertkritik wendet sich vom altbekannten Bewegungsmarxismus und klassenkampfrhetorik ab. Postone (als der wertkritk nahestehend) spricht bei Klassenkampf von "Disributionskämpfen". Diese hätten keine aufhebende Wirkung für den Kapitalismus sondern seien Verteilungskämpfe auf der Basis des Kapitalismus. Jahrzehentlang haben linke TheoretikerInnen versucht die Arbeiterklasse an Hand ihrer "objektiven Bestimmung zu deuten. Es wurden sich die Haare gerauft, warum sie dann als revolutionäres Subjekt (nach objektiver Bestimmung!) im Klassenkampf nie wirklich nach Aufhebung sondern nach einer besseren Positionierung INNERHALB kapitalistischer Verhältnisse strebte. Wertkritik versucht dieses Missverhältnis zu erklären, in dem sie sich u.a. in einer Kritik der Konstitution des bürgerlichen Subjekts versucht, zu welchem sie ebenfalls die "Arbeiterklasse" zählt (eigentlich alle Menschen, die Teil der bürgerlichen gesellschaft sind). Der Klassenkampf wird nicht ausgeblendet sondern sondern als vermeintlich revoltutionäres Potenzial hinterfragt! Die Schwachstelle ist nur, dass die Frage nach dem revolutionären Subjekt einfach im Raum stehen bleibt.
Trotzdem nimmt Wertkritik selbst die bürgerliche Aufklärung aufs Korn, an deren Idealen heute noch weite Teile der Radikalen Linken festhalten. Genauso wird einer Staatsfixiertheit, parlamentarischen Verkehrsformen, patriarchalen Verhältnissen eine Absage erteilt. Was daran sozialdemoktatisch sein soll, ist mir mehr als schleierhaft ...
Wenn Teile der Radikalen Linken mehr offen diskutieren und weniger identitär diffamieren würden, wären wir schon bei einigen Sachen um einiges weiter!
Kommunismus, immer noch
Ich würde eben eher sagen, der Wertkritik geht es implizit, und eben nicht explizit, um Kommunismus. Klar, ich habe bei weitem nicht alle Texte gelesen, doch der Begriff Kommunismus ist mir bis jetzt darin noch nirgends begegnet. Zudem denke ich auch, wir sollten zwischen Postone und der Wertkritik unterscheiden. Postone geht es explizit um eine "adäquate demokratische Theorie" (Time, Labor and Social Domination, 1993, S. 15) und der im Text erwähnte "Sozialismus" mit "einer politischen, öffentlichen Sphäre" tönt für mich auch mehr nach Habermas als nach Kommunismus.
Meiner Meinung nach kann der Klassenkampf nicht auf "Distributionskämpfe" reduziert werden. Ich bin selbstverständlich mit Dir einig, dass der "Bewegungsmarxismus" und die dazugehörige Arbeiterbewegung ein Relikt vergangener Zeiten ist. Doch man sollte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, wer von Klassenkampf spricht, spricht eben auch von Ausbeutung. Natürlich ist heutzutage die traditionelle Arbeiterklasse als proletarische Bedingung nicht mehr vorherrschend, d.h. jedoch nicht dass es keine Proletarier mehr gibt im Sinne von jenen, welche gegenüber dem Kapital keine Reserve haben. Natürlich sind die Proletarier nicht im deterministischen Sinne ein "revolutionäres Subjekt". Trotzdem bleiben es meines Erachtens die Ausgebeuteten, welche allen voran ein Interesse haben, die Ausbeutung zu beenden, obwohl sich immer wieder Exponenten der Ausbeuterklasse mit ihnen solidarisieren und ihre eigene Klasse verraten, das geht letzendlich zurück bis zu Marx, der das gewissermassen (mit beträchtlicher finanzieller Unterstützung von Engels) auch tat. An den Platz des revolutionären Subjekts tritt dann einfach eine "Vereinigung kritischer Individuen" oder eben die "vereinigte radikale Linke" (Dein grosses R bei "Radikalen" könnte man schon fast als Freudschen Verschreiber bezeichnen). Nur, die Zersplitterung der radikalen Linken ist eben genau ein Resultat der Restrukturierung des Kapitalismus und des Niedergangs der Arbeiterbewegung und es ist nichts als logisch, dass sich diese mit der Krise des restrukturierten Kapitalismus noch verstärkt. Schliesslich ist diese Kritik der Wertkritik alles andere als identitär und diffamierend und versucht eben genau, die Streitpunkte offen zu diskutieren. Ich weiss nicht genau, welche Strömungen für Dich alle zur radikalen Linken gehören, aber falls es alle sind, die sich selber so sehen, gebe ich gerne zu, dass mir gegenüber gewissen Fanatikern die Polemik oder das konsequente Ignorieren die einzig angebrachte Sprache scheint.
Was die Kritik der Aufklärung und des bürgerlichen Subjekts betrifft, würde ich behaupten, dass die Wertkritik viel davon von der Frankfurter Schule und der Neuen Marx-Lektüre übernommen hat und dem nur wenig hinzugefügt hat. Das zentrale Problem ist das Primat der Abstraktion: Die Herrschaft des Werts und der Arbeit ist eben nicht nur abstrakt, sondern basiert ganz konkret auf Ausbeutung und Extraktion von Mehrwert. Genau das ist eben der philosophische Eingang für sozialdemokratische Auslegungen. Bei Krisis und Exit hab ich nicht den Eindruck, dass solche Tendenzen existieren oder von Bedeutung sind, aber der im Text angesprochene Steeve schafft es tatsächlich auf Basis der Wertkritik in diesem Text zu behaupten, dass die Familie und die Beziehung zwischen Freunden nicht-wirtschaftliche Inseln seien! Andreas Exner der Zeitschrift Streifzüge war früher bei attac und den Grünen, verliess diese aber mit dem Vorwurf der "Wähler_innentäuschung" (!) und kämpft nun für das bedingungslose Grundeinkommen wie damals Don Quijote gegen die Windmühlen. Auch André Gorz, der gemäss Wikipedia für Streifzüge schrieb, ist meiner Meinung nach eher ein Erneuerer der Sozialdemokrate als ein Genosse. Ich hoffe, dass sind genug Belege für die im Text vorkommende Behauptung, dass es in der Wertkritik eben sozialdemokratische Tendenzen gibt, ohne dass das heisst, dass diese per se sozialdemokratisch wäre.
reformistisch?
Keine Ahnung wo du in wertkritischen Schriften eine "Weigerung" findest "von Kommunismus zu sprechen". Dass in vielen Texten konkrete Gewalt durch Ausbeutung in eine Universalgeschichte des destruktiven Potentials der Wertverwertung aufgelöst wird ist richtig. Allerdings ist es ebenso richtig, den Klassenkampf als kapitalimmanent und nicht notwendig systemsprengende Kraft zu begreifen. Bei Kurz wird die Fetischkonstitution überspannt, weshalb die Gewalt die vom Kapitalverhältnis ausgeht, als abstrakte über den Wert vermittelte Naturgewalt auf die Menschen hereinbricht. Diese Makroperspektive ist zwar nicht grundsätzlich falsch, löst aber die Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem undialektisch in Richtung Allgemeinem auf. Damit werden auch sämtliche real gegebenen Handlungspotential obsolet. Hier ist Kurz und co. vorzuwerfen, dass sie zu wenig reformistisch sind, in dem Sinne, dass sämtliche dem Kapitalismus immanent bleibenden Möglichkeiten negiert werden und zB. die Partizipationsforderungen von Frauen in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft als antiemanzipatorisch weil nicht revolutionär antikapitalistisch delegitimiert werden.
Und das Israel zwar ein bürgerlicher Staat, aber eben nicht nur einfach ein bürgerlicher Staat wie jeder andere ist und warum das so ist, kann man denke ich sehr überzeugend In Robert Kurz Text "Die Kindermörder von Gaza" nachlesen. Und über das Thema gab und gibt es sehr wohl Diskussionen und verschiedene Positionen innerhalb der Linken in Frankreich. Siehe zB. die Kontroverse zwischen Badiou. Milner, Lanzmann etc..
Badiou?
Der Text der Wertkritik wo das Wort Kommunismus drinsteht hast Du mir immer noch nicht geliefert. "Partizipationsforderungen von Frauen in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft" sind klar reformistisch, Kämpfe für gleiche Löhne von Proletarierinnen halte ich für unterstützenswert, aber ob im Parlament mehr Frauen oder Männer sitzen ändert für proletarische Frauen überhaupt nichts.
Israel ist ein bürgerlicher Staat wie jeder andere, hier würde der Wertkritik eine Klassenanalyse gut tun. Tut mir leid, der Text von Kurz überzeugt mich nicht, ich kann nicht verstehen, dass man gegen bürgerliche Staaten ist, aber um die armen Juden vor dem Antisemitismus zu beschützen, ist dann ein bürgerlicher Staat wieder gut genug. Wenn ich zudem von der linkskommunistischen (und nicht linken) Szene in Frankreich spreche, meine ich die GenossInnen der autonomen Szene, jene Leute, welche nicht im Fernsehen zu sehen sind und nicht irgendwelche maoistische Linke des Spektakels.