“Der Begriff der industriellen Revolution, der häufig benutzt wird um die Periode von 1750 bis 1850 zu bezeichnen, ist eine reine bürgerliche Lüge, ähnlich die der politischen Revolution. Er beinhaltet nicht das Negative und geht von einer Vision der Geschichte aus, die die technologischen Fortschritte als einzige Geschichte betrachtet. Die Mehrheit der technischen Innovationen, die die Entwicklung der Fabriken ermöglicht haben, wurde bereits eine gewisse Zeit zuvor entdeckt, blieb bis zu jenem Zeitpunkt aber noch ungenutzt. Ihre großräumige Anwendung ist keine mechanische Konsequenz, sondern hat ihren Ursprung in einer historisch datierten Entscheidung der herrschenden Klassen. Diese Entscheidung beruhte nicht so sehr auf den Sorgen der reinen technischen Effizienz (eine oft sehr fragwürdige Effizienz), sondern vielmehr auf einer Strategie der sozialen Domestizierung. Die industrielle Pseudo-Revolution läuft somit auf ein Unternehmen der sozialen Konter-Revolution hinaus. Es gibt nur einen einzigen Fortschritt: den Fortschritt der Entfremdung.”
Os Cangaceiros war eine unkontrollierbare Bande von sozialen Rebellen, die verheerenden Schaden am französischem Staat anrichteten, indem sie die Infrastruktur der Unterdrückung angriffen, weit verbreitete Revolten unterstützten, geheime Pläne von hochmodernen Gefängnissen stahlen und veröffentlichten, Büros von Firmenkollaborateuren überfielen und ihr Leben im absolutem Widerspruch zur auf Arbeit basierenden Welt lebten.
Dieser Text erschien im September 2013 in dem Buch “Os Cangaceiros - Ein Verbrechen namens Freiheit” bei Cumbula Velifera & Unruhen Publikationen
Aufgelegt als Broschüre im Frühjahr 2014 von Edition Irreversibel
Die industrielle Domestizierung – Download
Die
industrielle Domestizierung
„Wenn
sich das Kapital der Wissenschaft bemächtigt, wird der aufsässige
Arbeiter immer gezwungen sein zu gehorchen.“
Andrew Ure, The
Philosophy of Manufactures,
1835
„Als früher jemand einen Geschäftsmann als Arbeiter
bezeichnete, riskierte dieser eine Schlägerei. Wenn man ihnen heute
aber erzählt, dass Arbeiter eine wichtige Rolle innerhalb des
Staates spielen, bestehen sie alle darauf Arbeiter zu sein.“
M.
May, 1848
Der Begriff der industriellen Revolution, der häufig
benutzt wird um die Periode von 1750 bis 1850 zu bezeichnen, ist eine
reine bürgerliche Lüge, ähnlich die der politischen Revolution. Er
beinhaltet nicht das Negative und geht von einer Vision der
Geschichte aus, die die technologischen Fortschritte als einzige
Geschichte betrachtet. Dies ist ein doppelter Erfolg für den Feind,
der so die Existenz von Managern und einer Hierarchie als die
unausweichliche Konsequenz der technischen Notwendigkeiten
legitimiert, und der eine mechanische Konzeption des Fortschritts
vorschreibt, welcher als positives Gesetz und als sozial neutral
angesehen wird. Es ist der religiöse Moment des Materialismus, der
Idealismus der Materie. Eine solche Lüge war selbstverständlich für
die Armen bestimmt, bei denen sie bleibende Schäden hinterlassen
sollte. Um sie zu widerlegen, reicht es aus, sich an die Fakten zu
halten. Die Mehrheit der technischen Innovationen, die die
Entwicklung der Fabriken ermöglicht haben, wurde bereits eine
gewisse Zeit zuvor entdeckt, blieb bis zu jenem Zeitpunkt aber noch
ungenutzt. Ihre großräumige Anwendung ist keine mechanische
Konsequenz, sondern hat ihren Ursprung in einer historisch datierten
Entscheidung der herrschenden Klassen. Diese Entscheidung beruhte
nicht so sehr auf den Sorgen der reinen technischen Effizienz (eine
oft sehr fragwürdige Effizienz), sondern vielmehr auf einer
Strategie der sozialen
Domestizierung.
Die industrielle Pseudo-Revolution läuft somit auf ein Unternehmen
der sozialen Konter-Revolution hinaus. Es gibt nur einen einzigen
Fortschritt: den Fortschritt der Entfremdung.
In dem davor
bestehenden System genossen die Armen noch eine große Unabhängigkeit
während der Arbeit, die sie gezwungen waren zu verrichten. Die
vorherrschende Form war die heimische Werkstatt: die Kapitalisten
liehen den Arbeitern Werkzeuge, versorgten sie mit Rohstoffen, und
kauften ihnen die Fertigprodukte am Ende wieder für schändliche
Preise ab. Die Ausbeutung war für die Arbeiter bloß ein Moment
des Geschäfts,
über den sie keine direkte Kontrolle ausübten. Die Armen konnten
ihre Arbeit noch als eine „Kunst“ bezeichnen, bei welcher sie
einen beträchtlichen Spielraum an Entscheidungen besaßen. Vor allem
aber blieben sie Herr über die Nutzung ihrer Zeit: ihre Arbeitszeit
entzog sich jeder Berechnung, da sie zu Hause arbeiteten und
aufhörten, wenn sie es für angebracht hielten. Ihre Arbeit war
charakterisiert durch Abwechslung und Unregelmäßigkeit, da die
heimische Werkstatt in den meisten Fällen bloß eine Ergänzung zu
den landwirtschaftlichen Aktivitäten war. Daraus ergaben sich
Fluktuationen der industriellen Aktivität, die nicht mit dem
harmonischen Aufstieg des Handels vereinbar waren. Die Armen besaßen
somit noch eine beträchtliche Macht, die sie fortwährend
anwendeten. Die Praxis der Veruntreuung von Rohstoffen war an der
Tagesordnung und versorgte einen ausgedehnten parallelen Markt. Vor
allem konnten diejenigen, die zu Hause arbeiteten, Druck auf ihre
Arbeitgeber ausüben: die häufigen Zerstörungen von Webstühlen
waren eine Methode der „Kollektivverhandlung durch Aufruhr“
(Hobsbawm). Geld her oder wir schlagen alles kurz und klein!
Das
Bürgertum war gezwungen, den
Arbeitsbereich gezielt zu kontrollieren,
falls es diese bedrohende Unabhängigkeit der Arbeiter ausradieren
wollte. Dies war der Grund für die allgemeine Verbreitung der
Fabriken. Es ging darum, den
Arbeitsbereich zu autonomisieren,
zeitlich und geographisch. „Es sind nicht so sehr die absolut
Müßigen, die die Allgemeinheit stören, sondern diejenigen, die nur
die Hälfte ihrer Zeit arbeiten“, schrieb schon Ashton 1725. Das
Wesen des Militärs wurde auf die Industrie angewendet, und die
Fabriken wurden wortwörtlich nach dem Modell der Gefängnisse
gebaut, welche zudem deren Zeitgenossen waren. Eine gigantische
Umfassungsmauer trennte sie von allem, was nicht zur Arbeit gehörte,
und es wurden Wachen eingestellt, um diejenigen zurückzuhalten, die
es anfangs für selbstverständlich hielten, ihre unglückseligen
Freunde besuchen zu gehen. Im Inneren hatten drakonische Regeln den
eigentlichen Zweck, die Sklaven zu domestizieren. Ein Schriftsteller
hatte 1770 einen neuen Plan vorgeführt um Arme hervorzubringen: das
Haus des Schreckens, in dem die Bewohner täglich vierzehn Stunden
festgehalten werden und mithilfe einer Hungerdiät an der Leine
gehalten werden. Seine Idee war der Realität nur kurz
vorausgegangen: eine Generation später hat man das Haus des
Schreckens ganz einfach Fabrik genannt.
Es war in England, wo
die Fabriken sich zuerst ausbreiteten. In diesem Land hatten die
herrschenden Klassen ihre internen Konflikte schon seit langem
überwunden und sie konnten sich deshalb ungebremst der Leidenschaft
des Handels hingeben. Die Repression, die auf die Niederlage des
millenaristischen Angriffs der Armen¹ folgte, hatte den Weg für die
industrielle Gegenoffensive geebnet. Die Armen in England hatten also
das traurige Schicksal, dass sie als erste die ganze Brutalität
eines sich entwickelnden sozialen Mechanismus zu spüren bekamen. Es
ist selbstredend, dass sie ein solches Schicksal als eine absolute
Erniedrigung betrachteten, und diejenigen, die dieses Schicksal
akzeptierten, mussten mit der Verachtung ihrer Mitmenschen rechnen.
Bereits zu Zeiten der Levellers war es üblich anzunehmen, dass
diejenigen, die ihre Arbeitskraft gegen einen Lohn verkauften, in der
Tat die Rechte der „frei geborenen Engländer“ aufgaben. Schon
bevor überhaupt mit der Produktion begonnen werden konnte, hatten
die ersten Fabrikbesitzer große Probleme, Arbeitskräfte zu
rekrutieren und sie mussten hierfür oft weite Strecken zurücklegen.
Danach mussten sie die Arbeiter an ihrer neuen Arbeit festhalten,
denn Desertionen gab es en masse. Aus diesem Grund kümmerten sich
die Fabrikbesitzer auch um die Unterkünfte ihrer Sklaven, als
Vorzimmer zur Fabrik. Die Bildung dieses großen industriellen
Reserveheers zog eine Militarisierung der Gesamtheit des sozialen
Lebens mit sich.
Der Luddismus
war die Antwort der Armen auf die Einführung dieser neuen Ordnung.
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hat sich in einem
Klima der aufständischen Wut die Bewegung der Maschinenstürmer
entwickelt. Dabei handelte es sich nicht nur um eine Nostalgie des
goldenen Zeitalters des Handwerks. Der Durchbruch der Herrschaft der
Quantität, des serienmäßigen Plunders, hat sicherlich zu einem
guten Teil zur Wut der Menschen beigetragen. Von da an überwog die
notwendige Zeit, um eine Arbeit zu verrichten, über die Qualität
des Resultats, und diese inhaltliche Abwertung jeder einzelnen Arbeit
hat die Armen dazu geführt, sich allgemein an der Arbeit zu
vergreifen, was sich als dessen Kern herausstellte. Der Luddismus war
aber an erster Stelle ein antikapitalistischer Unabhängigkeitskrieg,
ein „Versuch der Zerstörung der neuen Gesellschaft“ (Mathias).
„Alle Adeligen und alle Tyrannen müssen getötet werden“,
lautete eines ihrer Flugblätter. Der Luddismus ist das Erbe der
millenaristischen Bewegung einiger Jahrhunderte zuvor: obwohl er sich
nicht mehr durch eine universelle und einheitliche Theorie
ausdrückte, blieb er dem politischen Geist und jeder ökonomischen
Pseudo-Rationalität gegenüber vollkommen fremd. Zur gleichen Zeit
in Frankreich hingegen waren die Aufstände der Canuten – die sich
auch gegen den Prozess der industriellen Domestizierung richteten –
schon verseucht durch die politische Lüge. „So verdunkelte ihr
politischer Verstand ihnen die Wurzel der geselligen Not, so
verfälschte er ihre Einsicht in ihren wirklichen Zweck“, schrieb
der Marx von 1844. Ihr Slogan war „arbeitend leben oder kämpfend
sterben“. In England, während das Gewerkschaftswesen nur wenig
bekämpft bzw. sogar toleriert wurde, stand auf dem Zerstören von
Maschinen die Todesstrafe. Die totale Negativität der Luddisten
hatte sie gesellschaftlich unakzeptabel gemacht. Der Staat hat auf
zwei verschiedene Arten auf diese Bedrohung reagiert: er hat eine
moderne professionelle Polizei gebildet, und die Gewerkschaften
offiziell anerkannt. Der Luddismus wurde zuerst von der brutalen
Repression zerschlagen und ist dann ausgestorben, nachdem die
Gewerkschaften es geschafft hatten, die industrielle Logik
durchzusetzen. Ein englischer Beobachter hat 1920 mit Erleichterung
berichtet, dass „das Feilschen über die Bedingungen der
Veränderung den bloßen Widerstand gegen die Veränderung
übertrumpft hat“. Ein schöner Fortschritt!
Von all den
Verleumdungen, die über die Luddisten verbreitet wurden, kam die
schlimmste von den Verteidigern der Arbeiterbewegung, welche in ihnen
eine blinde und kindische Demonstration sahen. So ein Ausschnitt aus
dem Kapital,
welcher eine fundamentale Fehlinterpretation einer Epoche darstellt:
„Es bedarf Zeit und Erfahrung, bevor der Arbeiter die
Maschinerie von ihrer kapitalistischen Anwendung unterscheiden und
daher seine Angriffe vom materiellen Produktionsmittel selbst auf
dessen gesellschaftliche Exploitationsform übertragen lernt.“
Diese
materialistische Auffassung der Neutralität der Maschinen genügt
aus, um die Organisation der Arbeit, die eiserne Disziplin (in dieser
Hinsicht war Lenin ein konsequenter Marxist) und schließlich den
ganzen Rest zu legitimieren. Angeblich geistig zurückgeblieben,
haben die Luddisten zumindest verstanden, dass die „materiellen
Produktionsmittel“ an erster Stelle Instrumente der Domestizierung
sind, deren Form nicht neutral ist, da sie die Hierarchie und die
Abhängigkeit gewährleistet.
Der Widerstand der ersten
Fabrikarbeiter zeigte sich hauptsächlich in Bezug auf eine Sache,
die eines ihrer seltenen Eigentume war, und derer sie beraubt wurden:
ihrer Zeit. Ein alter religiöser Brauch sah es vor, dass die
Menschen weder am Sonntag noch am darauffolgenden „Blauen Montag“
arbeiteten. Am Dienstag erholte man sich vom zweitägigen
Trinkgelage, so dass die Arbeit vernünftigerweise erst wieder am
Mittwoch beginnen konnte! Diese gesunde Praxis war zu Beginn des 19.
Jahrhunderts die Regel und in einigen Gewerben überlebte sie bis
1914. Die Arbeitgeber benutzten verschiedene Zwangsmittel, um diesen
institutionalisierten Absentismus zu bekämpfen, ohne Erfolg. Nachdem
die Gewerkschaften Fuß gefasst hatten, hat man den „Blauen Montag“
durch einen freien Nachmittag am Samstag ersetzt, ein glorreicher
Sieg: die Arbeitswoche hat sich somit um zwei Tage erweitert!
Es
war nicht bloß die Frage der Arbeitszeit, die beim Blauen Montag auf
dem Spiel stand, sondern auch die Frage über die Verwendung
von Geld.
Die Arbeiter kehrten nicht zur Arbeit zurück, bevor sie ihren ganzen
Lohn ausgegeben hatten. Seit dieser Epoche wird der Sklave nicht mehr
nur als Arbeiter betrachtet, sondern auch als Konsument. Adam Smith
hat eine Theorie über die Notwendigkeit aufgestellt, den inneren
Markt zu entwickeln, indem man ihn für die Armen zugänglich macht.
Und wie der Bischof Berkeley 1755 schrieb: „Ist die Schaffung von
Bedürfnissen nicht die beste Möglichkeit, die Menschen zu
industrialisieren?“ Wenn auch nur von geringer Wichtigkeit bis
dahin, so adaptierte sich der den Armen bewilligte Lohn doch den
Notwendigkeiten des Marktes. Diese jedoch benutzten das zusätzliche
Geld nicht nach den Erwartungen der Ökonomen; die Erhöhung des
Lohns war gewonnene Zeit bei der Arbeit (was eine nette Umkehrung der
utilitaristischen Maxime von Benjamin Franklin ist: time
is money).
Die so gewonnene Zeit in der Fabrik verbrachte man in den – zurecht
so genannten – Public
Houses
(während dieser Epoche verbreiteten sich die Neuigkeiten über
Revolten von Pub zu Pub). Je mehr Geld die Armen besaßen, desto mehr
tranken sie. Den Geist der Ware haben sie zuallererst in den
Spirituosen entdeckt, zum größten Bedauern der Ökonomen, die davon
ausgingen, dass sie das Geld sinnvoll ausgeben würden. Die gemeinsam
vom Bürgertum und den „fortschrittlichen (also nüchternen)
Fraktionen der Arbeiterklasse“ geführte Kampagne für Mäßigkeit
entstand nicht so sehr aus Sorge um die öffentlichen Gesundheit (die
Arbeit richtet noch mehr Schäden an, ohne dass sie aber deren
Abschaffung fordern), sondern diente der Ermahnung, dass man seinen
Lohn sinnvoll ausgeben sollte. Hundert Jahre später wundern sich
dann dieselben, wenn Arme auf Essen verzichten, um sich eine
„überflüssige“ Ware zu kaufen.
Die Sparpropaganda wurde
eingeführt, um diese Neigung zur unmittelbaren Geldausgabe zu
bekämpfen. Und wieder einmal war es „die Avantgarde der
Arbeiterklasse“, welche die Spareinrichtungen für die Armen
etablierte. Das Sparen verstärkt den Zustand der Abhängigkeit der
Armen und die Macht ihrer Feinde noch mehr: die Kapitalisten konnten
die vorübergehenden Krisen überwinden, indem sie die Löhne senkten
und die Arbeiter so an die Denkweise des existenziellen Minimums
gewöhnten. Aber Marx hat in Grundrisse
einen damals unlöslichen Widerspruch aufgezeigt: jeder Kapitalist
verlangte von seinen Sklaven, und
nur von den seinen,
dass diese als Arbeiter sparten; alle anderen Sklaven waren für ihn
Konsumenten, und mussten also Geld ausgeben. Dieser Widerspruch
konnte nur sehr viel später gelöst werden, als die Entwicklung der
Ware die Einführung der Kredite für die Armen erlaubte. Immerhin
hat das Bürgertum, wenn es es auch einmal geschafft haben soll, das
Verhalten der Arbeiter während ihrer Arbeit zu zivilisieren, es
niemals geschafft, deren Geldausgabe komplett zu domestizieren. Es
ist das Geld, wodurch die Brutalität immer wieder hervorgerufen
werden wird.
Nachdem die Abschaffung des Blauen Montags die
Arbeitswoche verlängert hatte, „haben die Arbeiter sich nunmehr
ihre Freizeit während der Arbeit eingerichtet“ (Geoff Brown). Die
Verminderung des Arbeitstempos wurde zur Regel. Es war schlussendlich
die Einführung der Stückarbeit, die die Disziplin in den
Werkstätten durchsetzte: Fleiß und Arbeitsleistung haben
schlagartig zugenommen. Die bedeutendste Folge dieses Systems,
welches seit den 1850er Jahre allgemein eingeführt wurde, war, dass
sie die Arbeiter zwang, die
industrielle Logik zu verinnerlichen:
um mehr zu gewinnen, musste man mehr arbeiten, was sich allerdings
negativ auf die anderen Lohnarbeiter auswirkte, und zur gleichen Zeit
wurden die am wenigsten fleißigen entlassen. Um diese ungezügelte
Konkurrenz zu beseitigen, ist die Kollektivverhandlung über die zu
liefernde Arbeitsmenge und dessen Verteilung und Entlohnung
entstanden. Die gewerkschaftliche Schlichtung hat sich durchgesetzt.
Nachdem dieser Sieg der Produktivität einmal errungen war, haben
sich die Kapitalisten damit einverstanden erklärt, die Arbeitszeit
herunterzusetzen. Das berühmte Gesetz der zehn Stunden, falls es
tatsächlich ein Sieg für die Gewerkschaften darstellte, war also
eine Niederlage für die Armen, die Sanktionierung des Scheiterns
ihres langen Widerstandes gegen die neue industrielle Ordnung.
Somit
wurde die allgegenwärtige Diktatur der Notwendigkeit eingeführt.
Nachdem die Überreste der früheren sozialen Organisation einmal
beseitigt waren, gab es nichts mehr auf dieser Welt, das nicht von
den Erfordernissen der Arbeit bestimmt wurde. Der Horizont der Armen
begrenzte sich auf den „Existenzkampf“. Jedoch kann man die
Alleinherrschaft der Notwendigkeit nicht als simplen quantitativen
Anstieg des Mangels begreifen: es handelte sich hierbei vor allem um
die Kolonisierung des Verstandes durch das ordinäre und grobe
Prinzip der
Nützlichkeit,
eine Niederlage des Denkens. Man messe hier die Konsequenz der
Niederschlagung dieses millenaristischen Bewusstseins, welches die
Armen während der ersten Phase der Industrialisierung angespornt
hatte. Damals hatte man die Herrschaft der brutalen Notwendigkeit
deutlich als das
Werk einer Welt
begriffen, dieser auf dem Eigentum und des Geldes gründenden Welt
des Antichristen. Die Idee der Abschaffung der Not war nicht getrennt
gewesen von der Idee der Realisierung des Paradieses auf Erden,
„diesem spirituellen Kanaan, wo Wein, Milch und Honig fließen und
das Geld nicht existiert“ (Coppe). Mit dem Scheitern dieses
versuchten Umsturzes hat das Bedürfnis einen Schein
von Unmittelbarkeit
erlangt. Der Mangel wurde von diesem Moment an als eine natürliche
Katastrophe betrachtet, dem nur die zunehmend intensivere
Arbeitsorganisierung Abhilfe schaffen konnte. Mit dem Triumph der
englischen Ideologie
entzog man den Armen, denen bereits alles genommen worden war, nun
auch noch die eigentliche Idee vom Reichtum.
Der Kult der
Nützlichkeit und des Fortschritts findet seinen Ursprung und seine
Legitimität im Protestantismus, besonders in dessen puritanischer
angelsächsischer Form. Indem sie aus der Religion eine
Privatangelegenheit machte, bestätigte die protestantische Ethik die
von der Industrialisierung verursachte soziale Atomisierung: das
Individuum stand Gott gegenüber ebenso isoliert, wie es auch
isoliert der Ware und dem Geld gegenüberstand. Danach stellte sie
gerade die Werte in den Vordergrund, die von den modernen Armen
verlangt wurden: Ehrlichkeit, Genügsamkeit, Abstinenz, Sparen,
Arbeit. Die Puritaner, diese Arschlöcher, die pausenlos die Feste,
die Spiele und die Ausschweifung bekämpften, also alles was sich der
Logik der Arbeit widersetzte, und die den millenaristischen Geist als
„das Ersticken jeglichen Unternehmergeistes beim Menschen“ (Webbe
1644) bezeichneten, haben den Weg freigemacht für die industrielle
Gegenoffensive. Außerdem kann man von der Reformation sagen, dass
sie der Prototyp des Reformismus war: aus einer Spaltung heraus
entstanden, begünstigte sie ihrerseits alle weiteren Spaltungen. An
andere stellt sie „nicht einmal die Forderung des Christentums,
sondern nur noch der Religion überhaupt, irgendeiner Religion“.
Es
war 1789 in Frankreich, als sich diese Prinzipien vollständig
verwirklichen konnten, indem sie ihre religiöse Form endgültig
ablegten und sich im Recht und in der Politik ausbreiteten.
Frankreich war ein Nachzügler in diesem industriellen Prozess: ein
unversöhnlicher Konflikt trennte das Bürgertum und den Adel,
welcher jeglicher Mobilisierung des Geldes gegenüber stutzig war.
Paradoxerweise war es dieser Rückstand, welcher das Bürgertum dazu
führte, das modernste aller Prinzipien vorzubringen. In
Großbritannien, wo die herrschenden Klassen sich seit langem auf
einem gemeinsamen historischen Weg vereint hatten, „hat die
Erklärung der Menschenrechte Gestalt angenommen, nicht eingekleidet
in die römische Toga, sondern in den Mantel der Propheten aus dem
Alten Testament“ (Hobsbawm). Hier lag also nun das Limit, die
Unvollständigkeit der theoretischen Konter-Revolution aus
Großbritannien: schließlich beruhte die Staatsbürgerschaft dort
weiterhin auf der Doktrin der
Wahlen,
die Gewählten erkannten sich wieder in der Frucht ihrer Arbeit und
in ihrer moralischen Zustimmung zu dieser Welt. So ließ sie den
Pöbel
außer Acht, welcher noch von einer Welt der Freude träumen konnte.
Die Zwangsarbeit in den Fabriken hatte zu Beginn das Ziel, diese
bedrohende Stärke zu verringern, sie gewaltsam
mithilfe eines sozialen Mechanismus zu integrieren. Es hatte dem
englischen Bürgertum noch an der Feinheit beim Lügen gemangelt,
welche dessen Gegenstück auf der anderen Seite des Ärmelkanals
charakterisierte und es diesem erlaubte, die Armen zuerst mit
der Ideologie einzuschränken.
Auch heute noch legen die englischen Verteidiger der Alten Welt mehr
Wert auf moralische
Richtigkeit
als auf politische Meinungen. Die besonders sichtbare und arrogante
soziale Grenze, welche die Reichen von den Armen in diesem Land
trennt, geht einher mit der schwachen Verbreitung der Idee der
politischen und rechtlichen Gleichheit der Individuen.
Obwohl die
moralische Indoktrinierung der Puritaner am Anfang zur Folge hatte,
all jene zu vereinen und zu stärken, welche in einer sich
verändernden und unsicheren Welt ein besonderes Interesse zu
verteidigen hatten, begann sie alsbald mit den Verwüstungen zulasten
der unteren Klassen, nachdem diese bereits unter dem Joch der Arbeit
und des Geldes zusammengeklappt waren, um so deren Niederlage zu
vollenden. Ure empfahl seinesgleichen, die „moralische Maschinerie“
mit der gleichen Gewissenhaftigkeit zu pflegen wie die „mechanische
Maschinerie“, um so „den Gehorsam akzeptabel zu machen“.
Nachdem diese moralische Maschinerie erst einmal von den Armen
aufgenommen worden war, sollte sie bald ihre unheilvollen Folgen
aufzeigen, indem sie der aufkommenden Arbeiterbewegung ihren Stempel
aufdrückte. Es vermehrten sich die methodistischen, wesleyanischen,
baptistischen und anderen Arbeitersekten,
bis sie schließlich genauso viele Gläubiger versammelten wie die
Kirche Englands, Institution des Staates. In diesem, den neuen
Industriegebieten gegenüber feindlich gesinnten Umfeld, zogen sich
die Arbeiter ängstlich in die die Kapelle zurück. Man ist immer
dazu genötigt, Kränkungen zu rationalisieren für die man keine
Rache ausübt: die neue Arbeitermoral erklärte die Armut zum
Gnadengesuch und das Sparen zur Tugend. An jenen Orten war die
Gewerkschaft der unmittelbare Sprössling der Kapelle und die
laizistischen Prediger verwandelten sich in Gewerkschaftsvertreter².
Die vom Bürgertum geführte Kampagne, um die Armen zu zivilisieren,
sollte die soziale Wut nur indirekt
übertrumpfen, da es ausreichte, dass die Arbeitervertreter diese
Kampagne aufgriffen – denn sie übernahmen in ihren Kämpfen gegen
ihre Meister nunmehr deren Sprache. Die – noch – religiösen
Ausdrucksformen, die von der Domestizierung der Denkweise verursacht
werden konnten, waren aber bloß eine Begleiterscheinung. Die
Domestizierung hatte in der wirtschaftlichen Lüge eine viel
effizientere Basis.
J. und P. Zerzan³ haben diesen
Widerspruch treffend hervorgehoben: es war im zweiten Drittel des 19.
Jahrhunderts, als die Armen die entwürdigendsten und
verstümmelndsten Konditionen in allen Bereichen ihres Lebens
ertragen mussten, als jeglicher Widerstand gegen die Einführung der
neuen kapitalistischen Ordnung geschlagen war; es war genau in diesem
Moment, dass Marx, Engels und alle ihre Epigone mit Genugtuung die
Geburt der „revolutionären Armee der Arbeit“ begrüßten und
glaubten, dass die objektiven Bedingungen endlich geschaffen waren
für einen siegreichen proletarischen Angriff. In seiner berühmten
Ansprache 1864 an die Internationale beginnt Marx mit einer
detaillierten Schilderung der entsetzlichen Situation der englischen
Armen, um kurz darauf „die wunderbaren Erfolge“ zu feiern: das
Gesetz der zehn Stunden (wir haben gesehen, was es damit auf sich
hatte) und die Errichtung genossenschaftlicher Fabriken, welche „ein
Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die politische
Ökonomie des Eigentums“ darstellte! Wenn die marxistischen
Kommentatoren ausgiebig das schreckliche Schicksal der Arbeiter des
19. Jahrhunderts geschildert haben, so betrachten sie dies
gewissermaßen als unvermeidbar und vorteilhaft. Unvermeidbar, weil
es eine fatale Folge der Erfordernisse der Wissenschaft und der
notwendigen Entwicklung der „Produktionsverhältnisse“ war.
Vorteilhaft insofern „das Proletariat vereint, diszipliniert und
organisiert worden ist durch den Produktionsmechanismus“ (Marx).
Die Arbeiterbewegung bildete sich auf einer rein defensiven Basis.
Die ersten Arbeiterorganisationen waren „Gesellschaften des
Widerstands und der gegenseitigen Hilfe“. Doch während die
revoltierenden Armen sich zuvor immer im
Negativen
wiedererkannt hatten, durch die Benennung der Klasse ihrer Feinde,
war es auf und wegen der Arbeit – welche mit Gewalt ins Zentrum
ihrer Existenz gerückt wurde –, dass die Arbeiter in ihr nach
einer positiven Gemeinschaft suchten, nicht von ihnen selbst
hervorgerufen, sondern von einem äußeren Mechanismus. Diese
Ideologie nahm zuerst Gestalt an inmitten der „aristokratischen
Minderheit“ der qualifizierten Arbeiter, „dieser Sektor, für den
sich die Politiker interessieren und aus dem diejenigen stammen,
welche die Gesellschaft nur allzu gerne als die Vertreter der
Arbeiterklasse begrüßen will“, wie es Edith Simcox 1880
sachdienlich festgestellt hat. Die riesige Masse der noch
unregelmäßigen und unqualifizierten Arbeiter hatte aus diesem Grund
kein Bürgerrecht. Es waren sie, die, als die Gewerkschaften ihre
Türen öffneten, den legendären kämpferischen und wilden Geist der
englischen Arbeiter bewahrten. Es begann eine lange Phase sozialer
Kämpfe, die gelegentlich sehr gewaltsam waren, aber denen jegliches
einigendes Prinzip fehlte.
„Obwohl die revolutionäre
Initiative wahrscheinlich in Frankreich starten wird, kann allein
England als Antrieb
für eine ernsthaft ökonomische Revolution dienen. (…) Die
Engländer haben all das benötigte Material
für die soziale Revolution. Was ihnen fehlt, ist der sich
verallgemeinernde
Geist
und die revolutionäre
Leidenschaft.“
Diese Aussage des Generalrats der Internationalen beinhaltet
gleichzeitig die Wahrheit und das falsche Bewusstsein einer Epoche.
Von einem sozialen Standpunkt aus betrachtet, hat England schon immer
ein Rätsel
dargestellt: das Land, das die modernen Voraussetzungen der
Ausbeutung hervorbrachte und das somit als erstes eine große Masse
an Armen erzeugte, ist auch das Land, dessen Institutionen seit
mittlerweile drei Jahrhunderten unverändert geblieben sind und das
nie von einem revolutionären Angriff erschüttert worden ist. Dies
steht im Gegensatz zu den Nationen des europäischen Kontinents, und
widerspricht der marxistischen Auffassung der Revolution. Die
Kommentatoren haben versucht, dieses Rätsel mit einem britischen
Atavismus zu erklären, was zum tausendfach wiederholten Blödsinn
über den reformistischen und anti-theoretischen Geist der englischen
Armen geführt hat, im Vergleich zum radikalen Bewusstsein, das die
Armen in Frankreich geleitet hat, immer bereit dazu, auf die
Barrikaden zu steigen. Solch eine ahistorische Vision vergisst
erstens die theoretische Fülle während der Jahre des Bürgerkrieges
im 17. Jahrhundert und zweitens die Ausdauer und die Gewalt, die
immer schon die sozialen Kämpfe der englischen Armen gekennzeichnet
haben, und die seit Mitte dieses Jahrhunderts unaufhörlich gestiegen
sind. In Wirklichkeit ist dies des Rätsels Lösung: die
Revolte der Armen hängt immer davon ab, was ihr gegenübersteht.
In
England haben die herrschenden Klassen ihre Unternehmung der
Domestizierung kurzerhand mit der rohen Gewalt eines sozialen
Mechanismus durchgesetzt. Auch bedauern die englischen Historiker
oft, dass die „industrielle Revolution“ nicht von einer
„kulturellen Revolution“ begleitet wurde, welche die Armen in den
„industriellen Geist“ integriert hätte (solche Überlegungen
haben sich in den 1970er Jahren vermehrt, als die Ausbreitung der
wilden Streiks den Ernst der Lage enthüllte). In Frankreich war die
bürgerliche Gegenoffensive zuerst theoretischer Art, durch die
Herrschaft der Politik und des Rechts, „dieses Wunder, das die
Menschen seit 1789 missbraucht“ (Louis Blanc). Diese Grundsätze
vertraten
ein universelles Projekt, es war ein Versprechen der Teilnahme, das
man den Armen machte, sobald diese die Modalitäten als die ihren
anerkannten. Ein Teil der Armen ernannte sich um 1830 zum Sprachrohr
und forderte, dass „man den Menschen, die erniedrigt worden sind,
ihre bürgerliche Würde zurückgeben müsse“ (Proudhon). Ab 1848
wurden die gleichen Grundsätze gegen das Bürgertum im Namen der
„Republik der Arbeit“ vorgebracht. Und wir wissen, wie sehr der
Ballast von 1789 bei der Niederschlagung der Commune mitgewirkt hat.
Es ist ein soziales Projekt, das sich im 19. Jahrhundert in zwei
teilte. In England, der Metropole des Kapitals, konnten die sozialen
Kämpfe nicht in einem gemeinsamen Angriff verschmelzen, wodurch sie
in „ökonomische“ Kämpfe verkleidet wurden. In Frankreich, der
Geburtsstätte des Reformismus, blieb dieser gemeinsame Angriff in
einer politischen Form gefangen und überließ somit das letzte Wort
dem Staat. Das Geheimnis des Fehlens einer revolutionären Bewegung
jenseits des Ärmelkanals ist also identisch mit dem Geheimnis der
Niederlage der revolutionären Bewegungen auf dem Kontinent.
Heute
schließt dieser Prozess, dessen Entstehung wir soeben beschrieben
haben, ab: die klassische Arbeiterbewegung hat sich endgültig in die
Zivilgesellschaft integriert, während sich eine neue Unternehmung
der industriellen Domestizierung abzeichnet. Heute gelangen ebenso
die Größe wie die Grenzen der vergangenen Bewegungen – welche
immer noch die sozialen Bedingungen einer jeden Region dieser Welt
bestimmen – ans Licht.
Léopold Roc
1 Siehe L'Incendie millénariste, S. 233-58
2 Ein vielsagendes Beispiel: die 1891 in Manchester gegründete Arbeiterkirche hatte als einzige Funktion, die Arbeiter aus dem Norden dazu zubringen, einer unabhängigen Arbeiterpartei beizutreten. Gleich danach ist sie wieder verschwunden.
3 Industrialism & Domestication, Black Eye Press, Berkeley, 1979
yuppie
super text und schöne broschüre!
text selber kopieren und weitläufig verbreiten;)