«Weil Mursi versagte, musste die Armee intervenieren»

Erstveröffentlicht: 
14.12.2013

Der gestürzte ägyptische Präsident Mursi sei ein «Lügner», sagt der Politologe Kamal al-Helbawy. Das ehemalige Mitglied der Muslimbrüder ist ein scharfer Kritiker Israels.

 

Von Rudolf Burger.

 

Wann sind Sie Mitglied der Muslimbrüderschaft geworden?

 

Es war während meiner Schulzeit 1951/52 in einer Stadt im Nildelta 70 Kilometer nördlich von Kairo. Das war die gleiche Schule, die auch Hosni Mubarak besuchte. Einige Monate vor der Revolution 1952 gab es dort viele Demonstrationen. In der Schule waren drei wichtige politische Kräfte präsent: Muslimbrüder, Liberale und Sozialisten. Alle drei haben versucht, Schüler für ihre Sache zu gewinnen.

 

Und wieso sind Sie der Muslimbruderschaft beigetreten?

 

Sie haben angeboten, uns kostenlos in Mathematik, Sprachen und alle andern schwierigen Fächer zu unterrichten. In den Ferien kam Unterricht über islamische Werte, den Koran und die Traditionen des Propheten dazu. Das hat mich zu den Muslimbrüdern geführt.

 

Sie haben dann später für die Muslimbrüder in Nigeria, Saudiarabien, Pakistan und zur Zeit der sowjetischen Besetzung auch in Afghanistan gearbeitet. Haben Sie gegen die Sowjets gekämpft?

 

Nein, ich habe die Aktivitäten der dortigen Muslimbrüder auf dem Gebiet der Medizin, der Bildung und der sozialen Aktivitäten beaufsichtigt.

 

Aber weil Sie in Afghanistan gearbeitet hatten, konnten Sie nicht nach Ägypten zurückkehren.

 

So war es. Hosni Mubarak hatte ein Gesetz verabschiedet, wonach gegen Personen ermittelt wurde, die in Afghanistan gewesen waren. Sie wurden eingekerkert oder sogar getötet.

 

Sie gingen ins Exil nach London und arbeiteten für die Muslimbrüder. Haben Sie versucht, Muslime dazu zu bringen, der Bruderschaft beizutreten?

 

Das war zunächst meine wichtigste Aufgabe. Ich habe Muslimen Geschichte, Ziele und moralische Werte der Bruderschaft erklärt. Viele wollten beitreten, ohne dass ich sie lange fragen musste.

 

Dann, nach dem Sturz Mubaraks, kehrten Sie nach Ägypten zurück.

 

Ja, am 5. April 2011, nach 23 Jahren im Exil.

 

Was waren damals Ihre Hoffnungen?

 

Eine gute Revolution anzutreffen, eine Führung, die mit der Bekämpfung der Korruption vorwärtsmachen und Frieden statt Gewalt schaffen würde. Aber das geschah nicht.

 

Und wieso sind Sie aus der Muslimbruderschaft ausgetreten?

 

Ich bin zweimal zurückgetreten. Als ich noch in London war, war ich Sprecher der Bruderschaft und als Mitglied der internationalen Führung im ganzen asiatischen Raum für die Bruderschaft verantwortlich. Ende der 90er-Jahre bin ich aus diesen Ämtern zurückgetreten, um mich intellektuellen Themen und kulturellen Projekten zu widmen. Am 31. März 2012 bin ich dann aus der Bruderschaft ausgetreten. Sie hatten versprochen, keinen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen zu stellen, haben dieses Versprechen aber nicht gehalten. Damit waren sie in den Augen des Volkes unglaubwürdig geworden und hatten das Vertrauen verloren.

 

Mohammed Mursi wurde Präsident, es gab eine Rebellion gegen ihn, und das Militär hat ihn gestürzt. Musste das Militär so handeln?

 

Ich bin gegen die Intervention des Militärs in die Politik. Aber die Wahl zum Präsidenten bedeutet, dass einem Verantwortung aufgebürdet wird und man eine gute Leistung erbringen sollte. Wenn das Ergebnis schlecht ist und sich das Volk gegen dich erhebt, solltest du zurücktreten. Im Westen, in Deutschland, den USA, Grossbritannien, gibt es zwei, drei, vier, fünf Parteien, die übernehmen können, wenn die Regierung scheitert. In Ägypten war das anders, nur die Muslimbrüder und ihre Partei, die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, waren gut organisiert. Es gab keine andere starke Partei, die an ihre Stelle hätte treten können. Am besten wäre es für Ägypten gewesen, wenn Mursi erfolgreich gewesen wäre. Aber als er scheiterte, musste die Armee intervenieren.

 

Und in welcher Beziehung ist Mursi Ihrer Ansicht nach gescheitert?

 

Da könnte ich zehn Stunden reden . . .

 

machen wir es etwas kürzer.

 

Bevor Mursi gewählt wurde, war ich Mitglied eines 100-Personen-Komitees. Wir haben eine Delegation mit einer Liste von Vorschlägen zu ihm geschickt. Er war mit allem einverstanden, hat unterschrieben, aber nichts davon gehalten.

 

Was zum Beispiel war auf dieser Liste?

 

Dass der Ministerpräsident, falls Mursi Präsident würde, nicht aus einer islamischen Bewegung komme, sondern von einer andern politischen Partei. Weiter hat Mursi versprochen, sich in den ersten 100 Tagen mit den grossen Problemen Energie, Verkehr, Strassenreinigung und Versorgung mit Treibstoff zu befassen. Er hat nichts davon gehalten, aber am 6. Oktober 2012 in einer grossen Rede in einem Stadion erklärt, diese Probleme seien zu 80 Prozent gelöst. Mursi ist ein Lügner.

 

Vielleicht hat ihm die Zeit gefehlt.

 

Noch etwas: Mursi hat als Präsident nur Leute ernannt, die aus der islamischen Bewegung oder aus der Muslimbruderschaft kamen. Sie versuchten, das ganze Land zu kontrollieren. Sie ernannten zum Beispiel einen Mann, der einst mein Student gewesen war, zum Berater für internationale Beziehungen. Er hatte auf diesem Gebiet aber absolut keine Erfahrung, er war eine Fehlbesetzung, dabei hatte er grösseren Einfluss als der Aussenminister.

 

Hat Mursi wirklich versucht, einen islamistischen Staat zu errichten?

 

Ja. Es war im ganzen Land bekannt, dass er versuchte, überall Muslimbrüder einzusetzen und so Ägypten unter die Kontrolle der Muslimbrüder zu bringen.

 

Immerhin war Mursi demokratisch gewählt. War es richtig, dass ihn das Militär stürzte?

 

Ja. Mursi war demokratisch gewählt, um eine Aufgabe zu erfüllen. Dabei hat er aber versagt, es gab keine Reformen. Man hat gegen ihn rebelliert, weil seine Leistung ungenügend war.

 

Ist die Armee die einzige Kraft, die Ägypten zusammenhalten kann?

 

Ja, heute ist das so. Die Muslimbrüder hatten das ganze Land unter ihrer Kontrolle, aber erstmals seit 1928, seit die Bruderschaft gegründet wurde, hat sich jetzt ein grosser Teil der Bevölkerung gegen die Muslimbrüder gewandt. Das war neu, während Jahrzehnten haben die Menschen die Muslimbrüder gegen die Herrscher unterstützt. Aber dieses Mal haben die Leute gegen sie rebelliert. Hätten die Muslimbrüder Leuten aus verschiedensten Richtungen eine Chance gegeben, hätten sie das Land für 500 Jahre regieren können (lacht). Aber sie waren gegenüber der Gesellschaft nicht offen, sie konnten Liberale, Sozialisten, Nasseristen und Nationalisten nicht akzeptieren.

 

War es der Fehler der Muslimbrüder, aus Ägypten ein islamistisches Land machen zu wollen?

 

Ägypten ist ein islamisches Land, ob mit oder ohne Muslimbrüder.

 

Sollte Ägypten aber ein islamistisches Land werden, mit den Gesetzen der Scharia?

 

Wir sind glücklich, so wie es heute ist.

 

Das heisst eine multikulturelle Gesellschaft, in der Christen gleichberechtigt sind?

 

Das haben wir in die neue Verfassung geschrieben. Ich denke, ich war der Einzige unter den Muslimbrüdern, der schon vor langer Zeit gesagt hat, ich hoffte, dass Ägypten von einer Frau wie Margaret Thatcher regiert würde. Sie wäre besser gewesen als alle arabischen Führer. Frau Thatcher war eine Christin und eine Frau (lacht).

 

Mit anderen Worten: Für Sie ist auch die Gleichberechtigung der Frau ein Thema?

 

Sehen Sie: Ich bin von Interimspräsident Adli Mansur als Vertreter der islamischen Richtung zu einem der drei Vizepräsidenten des Komitees für die neue Verfassung ernannt worden. Ich habe im Komitee immer auf den Rechten für Muslime und Christen insistiert und bin für die Gleichberechtigung der Frauen eingetreten. Als einige gegen die Gleichberechtigung der Frauen waren, habe ich ihnen gesagt, sie sollten mir irgendeinen Beweis aus dem Koran zeigen, wonach Frauen im Islam nicht den Männern gleichgestellt seien. Sie akzeptierten schliesslich den Passus über die Gleichberechtigung.

 

Gibt es im Islam auch keine Vorschrift, ein Kopftuch zu tragen?

 

Niemand kann Frauen dazu zwingen. Im Islam ist vorgeschrieben, dass eine Frau ihre Haare bedecken sollte. Aber wenn nicht, gibt es dafür keine Strafe.

 

Man liest über Sie, dass Sie kein Freund des Friedens mit Israel sind. Stimmt das?

 

Ich bin kein Feind des Friedens mit irgendjemandem. Aber Israel ist geschaffen worden, als ich zehn Jahre alt war. Ich habe in der älteren Geschichte nichts über Israel gelesen.

 

Auch viele andere Nationen sind erst relativ spät gegründet worden.

 

Aber andere Nationen haben die ursprünglichen Bewohner nicht vertrieben. Ich bin nicht gegen Israel, ich bin gegen die Politik, die es betreibt. Ich habe sehr gute Freunde unter Juden, Davod Weiss, der Rabbi von New York, gehört dazu. Jüdische Freunde sitzen mit mir an einen Tisch, sie essen mit mir, ich besuche sie, sie kommen in mein Haus. Ich bin nicht gegen Judaismus, aber vor vielen Jahren haben mich einige Leute in London gefragt, wieso ich die Hamas unterstütze. Ich habe sie gefragt: Wieso haben Sie mir diese Frage nicht gestellt, als ich Nelson Mandela unterstützte? Ich unterstütze Menschen, die sich für ihre Rechte einsetzen. Ich bin gegen die gewaltsame Besetzung von Land, das anderen gehört.

 

Sollte Israel nicht das Recht haben, in den Grenzen von 1948 zu existieren?

 

Sie haben das Recht, zu existieren. Aber wieso musste Israel die Palästinenser vertreiben? Wieso hat Israel zusammen mit den USA das Projekt, Araber zu vertreiben?

 

Präsident Mursi war nicht gegen den Friedensvertrag mit Israel.

 

Er hat einen entsprechenden Brief an Peres geschrieben. Aber bevor Mursi Präsident wurde, hat er sich gegen diesen Frieden ausgesprochen. Ich habe meine Meinung nicht geändert.

 

Sie finden also, dass Ägypten den Friedensvertrag mit Israel kündigen sollte?

 

Alle Verträge sollten von Zeit zu Zeit überprüft werden. Alles, was dem Frieden dient, sollte unterstützt werden. Aber wenn es trotz eines solchen Vertrags für viele Jahre keinen Frieden zwischen Arabern und Israelis gibt, müsste es Zusätze zu diesem Vertrag geben, um wirklichen Frieden herzustellen.

 

Sie haben geschrieben, die USA unterstützten Mursi, um Ägypten zu destabilisieren und um danach militärisch zu intervenieren. Glauben Sie das wirklich?

 

Die Amerikaner haben überall interveniert, im Irak, in Afghanistan, Libyen . . . 

 

. . .aber nicht in Syrien.

 

Wer hat denn befohlen, dass die chemischen Waffen Syriens zerstört werden müssen?

 

Das war die internationale Gemeinschaft . . . 

 

. . .unter Führung der Amerikaner. Die Amerikaner haben überall auf der Welt einen grossen Einfluss. Sie sind eine Hegemonialmacht.

 

Sollte Ägypten die engen Beziehungen zu den USA auflösen?

 

Nein. Ägypten sollte aber gleich gute Beziehungen zu allen Ländern der Welt haben.

 

Sie haben die Intervention der USA in Afghanistan und im Irak kritisiert . . . . . . #

 

ich kritisiere die USA, wo immer sie intervenieren.

 

Mussten sich die USA nach 9/11 nicht auf die Bekämpfung des Terrorismus einstellen?

 

Ja, wenn es sich um echten Terrorismus gehandelt hätte. In London habe ich die Zeitschrift «Islamism Digest» herausgegeben. Darin ist Terrorismus aus einem anderen Blickwinkel erklärt worden. Ich bin gegen Terrorismus, ich bin gegen jeden, der Sprengstoffanschläge begeht, in den USA, in Frankreich, Spanien, London, in Ägypten, überall auf der Welt, aber es sollten alle gleichbehandelt werden. Amerika kann al-Qaida als Terrororganisation ansehen . . .

 

. . . sicher zu Recht, 9/11 war ein Akt des Terrorismus.

 

Da können wir übereinstimmen. Aber wenn die USA im Irak Leute töten, viele Jahre nach Saddams Tod, oder in Afghanistan dasselbe geschieht, ist das nicht richtig. Ich habe Amerikanern in vielen Interviews in London und sonst wo gesagt: Wenn ihr gegenüber den Afghanen gerecht wärt, hättet ihr sie mit 200 Milliarden Dollar unterstützt, weil die Afghanen die Sowjets vertrieben haben. Sie haben das für euch gemacht. Ihr seid das einzige Land, das von der Auflösung der Sowjetunion und der Zerstörung des Kommunismus profitiert hat.

 

Hat nicht fast die ganze Welt davon profitiert?

 

Aber die Amerikaner haben den Afghanen nicht geholfen, sie haben Afghanen getötet, und sie haben Guantánamo geschaffen. Ich glaube nicht, dass Sie die Schaffung von Guantánamo gutheissen können.

 

Nein. Im Westen wird oft die Frage gestellt, ob Demokratie ein Modell für ein Land wie Ägypten sei.

 

Wieso nicht? Ich hoffe es.

 

Nach der Diktatur unter Mubarak gab es Wahlen, aber daraus ist keine Demokratie geworden.

 

Es waren ja keine echten Wahlen. Der Westen hat Mubarak lange Jahre unterstützt, ihm geholfen, Gegner umzubringen und Korruption sogar zu einem grösseren Problem zu machen als in Nigeria. Ich bin hundert Prozent für die Demokratie, aber man muss auch die Traditionen des Landes berücksichtigen, in dem Demokratie eingeführt werden soll. Man muss die Traditionen des ägyptischen Volkes, der Tunesier und der Libyer beachten, man kann Demokratie nicht aufpfropfen, sondern muss dafür die richtige Umgebung schaffen.

 

Was wäre eine Tradition, die in Ägypten berücksichtigt werden müsste?

 

Ägypter werden zum Beispiel nie akzeptieren, dass Männer einander heiraten können.

 

Das ist auch im Westen nicht überall akzeptiert.

 

Aber es gibt sogar einige christliche Priester, die heute dafür sind.

 

Ist das nicht eine eher unwichtige Sache?

 

Sicher, aber die Leute werden die Heirat unter Männern nicht gutheissen, sie demonstrieren dagegen. Es gibt bei uns gewisse Grenzen. Was in unserer Religion und auch im Christentum verboten ist, können wir nicht akzeptieren.

 

Was sollte in Ägypten als Nächstes geschehen?

 

Es wird bald ein Referendum über die neue Verfassung geben, aber es ist auch möglich, dass zunächst Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen durchgeführt werden. Sobald das Parlament steht, wird es eine neue Regierung geben, und dann kann die Zukunft so beginnen, wie wir es in die Verfassung geschrieben haben, mit dem Fokus auf Gesundheit und Bildung sowie Gleichberechtigung für Frauen und Christen.

 

Werden Sie sich um ein politisches Amt bemühen?

 

Ich? Nein, ich werde keiner politischen Partei beitreten, mich nicht um ein politisches Amt bewerben oder mich sogar als Präsidentschaftskandidat präsentieren. Ich möchte nicht für eine Partei, sondern für die Agenda Ägyptens arbeiten, für Unabhängigkeit und Wohlfahrt.

 

Sind die Aussichten für Ägypten heute besser als vor einem Jahr?

 

Ja, aber man sollte im Westen Ägypten so sehen, wie ich es dargestellt habe. Wäre Mursi ein Demokrat gewesen und hätte er das Land gut regiert, wäre er unser Mann gewesen. Aber weil er versagte, musste die Armee intervenieren, um das Land zusammenzuhalten. Nach den nächsten Wahlen sollte sich die Armee in die Kasernen zurückziehen, und wir sollten beginnen, für eine bessere Zukunft Ägyptens zu arbeiten.

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Mansur: "Ägypten am richtigen Weg" - Noch keine Reaktion von Muslimbrüdern - Militär bekommt mehr Privilegien

 

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