Singapur rühmt sich für die Harmonie, doch nun hat der Stadtstaat die heftigsten Ausschreitungen seit 40 Jahren erlebt. Der Unfalltod eines Bauarbeiters löste die schwere Randale in der Nacht aus.
Von Sophie Mühlmann, Singapur
Ein Kreuz aus rosa Bougainville und gelben Chrysanthemen liegt mitten auf der Fahrbahn. Genau hier, an einer Straßenkreuzung der Race Course Road in Singapurs Stadtteil "Little India" war am Sonntagabend um kurz nach 21 Uhr ein indischer Gastarbeiter von einem Bus erfasst worden.
Der Unfall und der Tod des 33-jährigen Bauarbeiters Sakthivel Kumaravelu entzündeten einen Funken. Es folgten die schlimmsten Ausschreitungen, die der in vieler Hinsicht so geordnete kleine Stadtstaat seit vier Jahrzehnten erlebt hat.
Was genau die Gewalt ausgelöst hat, ist bisher nicht bekannt. "Vielleicht", hieß es am Montag, "war Alkohol im Spiel". Die Menge begann jedenfalls plötzlich, die ersten Rettungskräfte, die den Toten unter dem Bus hervorzogen, mit Flaschen, Mülltonnen und Steinen zu bewerfen. Polizeiwagen wurden umgestoßen und in Brand gesetzt, die Menge johlte, als ein Krankenwagen explodierte.
Aufgestaute Wut und Frustration der Gastarbeiter brachen sich Bahn, und am Ende lieferten sich 300 Polizisten und 400 südasiatische Männer eine erbitterte Schlacht. Zehn Polizisten und acht Arbeiter wurden verletzt. Erst rund zwei Stunden später, als 27 Personen verhaftet worden waren, kehrte endlich wieder Ruhe ein. Die Polizei feuerte eigenen Angaben zufolge keinen einzigen Schuss ab.
Singapur rühmt sich für die Harmonie, mit der die verschiedenen Volks- und Religionsgruppen zusammenleben. Der Vorfall vom Sonntag schockiert die ganze Insel. Premierminister Lee Hsien Loong erklärte am Montagfrüh auf seiner Facebookseite, die Verantwortlichen würden "mit der ganzen Kraft des Gesetzes" zur Rechenschaft gezogen. "Welche Ereignisse auch immer die Ausschreitungen angestachelt haben, es gibt keine Entschuldigung für solch gewalttätiges, destruktives und kriminelles Verhalten", schreib Lee. Er rief seine Landsleute dazu auf, ruhig zu bleiben.
Das gleiche forderte auch die Singapurer Business Federation (SBF) am Montag von sämtlichen Unternehmen, die ausländische Arbeiter beschäftigen. Sie sollten ihre Angestellten dazu anhalten, den Frieden zu wahren und sich nach der Gewalt vom Sonntag nicht "in Spekulationen zu ergehen".
Außerdem soll es am kommenden Wochenende ein komplettes Alkoholverbot in dem Stadtviertel geben, in dem sich jeden Sonntag die südasiatischen Gastarbeiter treffen. An ihrem einzigen freien Tag flanieren sie hier zwischen Restaurants, indischen Geschäften und Marktständen für Blumen, Gewürze oder Bollywoodmusik.
Fast nur Männer sind hier am Sonntag unterwegs, denn die meisten ungelernten Gastarbeiter aus Indien, Sri Lanka und Bangladesch sind bei den Bauunternehmen beschäftigt, die den endlosen Bauboom des tropischen Inselstaates bedienen. Obwohl Singapur die höchste Millionärsdichte der Erde hat, leben diese Männer auf engstem Raum zusammen und werden schlecht bezahlt.
Singapur hat seit den 60er-Jahren keine Demonstrationen oder Zusammenstöße mehr erlebt. Damals hatten sich die Chinesen und Malayen auf den Straßen bekämpft. Zahlreiche Menschen waren damals ums Leben gekommen. Seitdem legt die singapurische Regierung besonderen Wert auf ausgewogene Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen im Vielvölkerstaat.
Hier verdienen allein 1,3 Millionen Fremdarbeiter ihr Geld – fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Gerade in den letzten Jahren ist das Verhältnis nicht mehr ungetrübt. Fremdenhass macht sich breit, und ausländische Bauarbeiter lehnen sich zunehmend gegen die Ausbeutung durch ihre Arbeitgeber auf.
Reuter Videobericht
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