Mit Kind durchs Besetzte Land - Worte sind nicht intensiv genug...

Palästina

Nach drei Wochen Westjordanland mit meiner vierjährigen Tochter versuche ich die Informationen und Eindrücke zu ordnen und die durchlebten Gefühle in Worte zu fassen.

 

Sehr bewegend und aufwühlend war der Besuch bei Saeed Amireh (19) und seiner Familie in Ni'lin. Sein Vater ist ein gewaltloser politischer Gefangener, der am 12.01.2010 von der israelischen Armee verhaftet wurde. Seither leben Saeed und seine sieben Geschwister alleine mit ihrer Mutter. Sie bewohnen das letzte Haus des Dorfes; direkt dahinter, dort wo die Olivenbäume und Kaktusfeigen wachsen, beginnt die Closed Military Area – mitten im Feld steht die Mauer.

Da wir Ni’lin nicht auf der Landkarte finden konnten und die privaten Taxis es nicht anfahren, holt uns Saeed in Ramallah ab und wir fahren die letzten 17 km gemeinsam. Während der Fahrt beginnt er zu erzählen. Er berichtet uns von 2700 zerstörten Olivenbäumen und von der Road 446, die das Dorf seit 1991 in zwei Teile spaltet und in südlicher Richtung nur für Siedler zu befahren ist. Seither ist es nicht mehr möglich zu Fuß auf die andere Seite zu kommen und es gibt spezielle Taxis, die nur im Ort fahren. Am Eingang des Dorfes gibt es oft fliegende Checkpoints des israelischen Militärs, doch damit nicht genug: jetzt wird ein Tunnel geplant der dann den einzigen Zugang zum Dorf darstellen wird – die Straße wird damit komplett zur Siedlerstraße. Der Armee ermöglicht es, den Zugang zum Dorf jederzeit komplett und beliebig lange zu sperren, außerdem erlangen sie die volle Kontrolle darüber, wer das Dorf wann betritt oder eben nicht. Internationals kommen dann sicher nicht mehr rein.

Aber wir sind jetzt angekommen in Ni'lin. Nachdem wir die Familie begrüßt haben und meine Tochter mit den jüngeren Geschwistern von Saeed zu spielen begonnen hat, machen wir uns auf den Weg. Wir besuchen das Zentrum des Ni'lin Popular Comittee Against the Wall, betrachten die dort ausgestellten Photos von unzähligen Verletzten und den Märtyrern des Dorfes – um Missverständnissen vorzubeugen: Märtyrer sind keine Attentäter, es sind unbewaffnete Menschen die von der israelischen Armee getötet wurden.

Saeed erzählt uns ihre Geschichten, er erzählt, wie er den zehnjährigen Ahmed Mousa trug nachdem ihm ein Soldat in den Kopf schoss, er erzählt, dass sein Gehirn heraus fiel und dass die Mutter des Kleinen durch den Schock ihr Baby verlor, mit dem sie schwanger war... Es ist schwierig zuzuhören, es tut weh die Bilder zu sehen, den Geschichten zu lauschen und Saeed vor sich zu sehen, diesen jungen Mann der die unfassbaren Geschichten erzählt und erlebt hat.

Unterdessen gehen wir in Richtung Mauer. Auf dem Boden liegt Munition: unterschiedlichste Arten von Tränengasgeschossen, Tränengasgranaten und auch scharfe Munition. Sie liegen überall; auf dem Weg, zwischen den Steinen, unter den Bäumen. Wir sind nur wenige hundert Meter von Saeeds Haus entfernt, die Landschaft ist wunderschön, doch weiter hinten sehen wir die nach UN-Resolution 242 illegalen Siedlungen und die Greenline, die offizielle Grenze zu Israel. "Das ist kein Protest hier, das ist Krieg!" wiederholt Saeed immer wieder. Unterwegs zeigt er uns die Stelle an der Aqel (36) getötet wurde - der hoffentlich letzte Märtyrer des Dorfes. Bei dem Versuch einen 15 Jährigen zu bergen, dem aus kurzer Distanz in den Bauch geschossen wurde, zielten die Soldaten auch auf ihn und trafen ihn ins Herz.

Was bedeutet es eigentlich sich in einer militärischen Sperrzone aufzuhalten? An der Mauer angekommen erfahren wir es: wir sind unter ständiger Beobachtung und wir hören, wie auf der anderen Seite die Armee auffährt - schnell machen wir uns auf den Weg zurück ins Dorf, da es weder den Einwohnern des Dorfes noch den Internationals erlaubt ist sich dort aufzuhalten. Doch wir waren dort, wir haben es gesehen, wir haben es dokumentiert und wir werden berichten, so wie wir es Saeed versprochen haben und wie es als Zeuge unsere Pflicht ist.

Ich möchte also von dem Dorf Ni'lin berichten, das ursprünglich 7000 Einwohner hatte; Heute leben noch um die 6000 Menschen hier - das Leben ist schwierig geworden und gefährlich. Häufig kommen die israelischen Soldaten in das Dorf, sie schießen dort mit Tränengas, Splittergranaten, Gummigeschoßen und scharfer Munition.

Die meisten Einwohner sind Landwirte, doch jetzt sind sie Landwirte ohne Land, denn darauf stehen israelische Siedlungen und die Mauer, es wurde bereits 1/3 des gesamten Gebietes von Ni’lin gestohlen. Das was an Feldern noch auf "ihrer" Seite der Mauer ist, ist Closed Military Area - sie dürfen nicht hingehen und ihre Bäume pflegen, sie dürfen nicht hingehen um die Früchte zu ernten - die Menschen sind ihrer Lebensgrundlage beraubt.

Seit die israelische Armee am 27.8.2008 mit Bulldozern ins Dorf kam um Olivenbäume zu entwurzeln, damit Platz für die Mauer entsteht, gibt es kontinuierlichen Protest in Ni'lin. An diesem Tag formte sich eine spontane Demonstration der Einwohner, die sich mit erhobenen Händen vor die Bulldozer stellten. Die  Bewohner wollen sich ihr Recht nicht widerstandslos nehmen lassen. Dafür zahlen sie einen hohen Preis: Seit 2008 sind in diesem Dorf fünf Menschen von der israelischen Armee erschossen worden, hinzu kommen unzählige Verletzte und die mehr als 160 Verhafteten. Vielen Frauen starben ihre Babys im Bauch als sie giftige Gase einatmeten, die Soldaten nachts in die Fenster der Häuser schossen - mittlerweile sind nahezu alle Fenster vergittert, damit die Scheiben nicht brechen, wenn mit Tränengaskanistern auf sie geschossen wird.

Wir kehren zurück in das Haus der Familie, sehen nach meiner glücklich spielenden Tochter und lernen das Küken kennen, das die Familie bei sich aufgenommen hat – hier drin ist alles so warm und herzlich. Nach einer kurzen Pause gehen wir weiter um Saeeds Onkel, den Journalisten Hamoudh Amireh zu treffen. Sie zeigen uns weitere Bilder und auch Videos der Verletzten, Toten und Verhafteten Ni’lins. Sie erzählen uns die Geschichten der Familien; und sie erzählen von Ibrahim Amireh, Hassan Mousa und Zaydoon Srour. Die drei waren die Anführer des gewaltlosen Protestes in Ni'lin, sie haben das Ni’lin Popular Comittee Against The Wall und die Son's of Ni'lin Organization gegründet. Sie alle sind seit Januar in Haft und für keinen von ihnen ist es das erste Mal…

Nachdem wir mit der Familie Iftar (Fastenbrechen) gegessen haben, fahren wir mit Saeed auf die andere Seite des Dorfes und besuchen dort Freunde seines Vaters. Ihr Grundstück liegt ebenfalls am äußersten Rande des Dorfes, wir können von dort den Checkpoint sehen, der die 446 in südlicher Richtung abriegelt. Als ich Saeed frage, ob ich Photos machen kann, sagt er, dass könne ich gerne, doch ich dürfe mich dabei von den Soldaten auf keinen Fall erwischen lassen, da sie sonst schießen würden. Ich photographiere also ohne Blitz in die Nacht.

Danach setzen wir uns in das Zelt, dass die neun dort lebenden Brüder errichtet haben. Wir bekommen Tee und sie erzählen, dass sie 24 Stunden am Tag dort sind, das Gelände ist nie leer. Sie wollen den Soldaten zeigen, dass sie da sind, dass sie hier leben und sich nicht vertreiben lassen. Sobald keiner von ihnen da wäre, würde die Armee das Grundstück einnehmen. Wir fahren weiter an das andere Ende im oberen Teil des Dorfes und schauen vom Dach eines weiteren Freundes runter. Wir sehen die hell erleuchtete 446, wir sehen den unteren Teil Ni’lins in dem Saeed lebt – und weit hinten sehen wir die Lichter von Tel Aviv. Tagsüber kann man das Meer sehen, erzählen sie uns. Sie können es sehen, aber hingehen dürfen sie nicht…

Zurück in Saeeds Haus fängt er an von seinem Vater und seiner Haft zu erzählen: Zuerst kam er in das unterirdische Gefängnis Almasqubya, das voller Mäuse und Insekten ist. Saeed erzählt, dass sein Vater geschlagen und gedemütigt wurde. Als nach zwei Monaten endlich die Besuchsgenehmigung für Ibrahims Frau erlangt war, wurde er in das, in der Wüste liegende, Freiluftgefängnis Alnaqab verlegt. Die neue Besuchsgenehmigung benötigte weitere zwei Monate, seither darf sie ihn einmal im Monat besuchen - für 45 Minuten und durch eine Glasscheibe getrennt.

Tagsüber ist es heiß, nachts ist es kalt in Alnaqab, das Essen und das Wasser sind schlecht und nicht ausreichend, die Familie muss Ibrahim regelmäßig Geld schicken, damit er sich dort etwas zu essen kaufen kann, da er sonst schlicht verhungern würde; er leidet an einer Herzkrankheit und die benötigten Medikamente werden ihm verweigert.

Die Anklagepunkte sind ein Hohn: Aufenthalt in einer militärischen Sperrzone – besagter Olivenhain, durch den auch wir gegangen sind -, Organisieren von illegalen und gewalttätigen Protesten sowie das Bezahlen Anderer für das Schmeißen von Steinen. Ibrahim und die anderen sind strikte Gegner von Gewalt, sie haben sich immer für friedliche Proteste eingesetzt, trotz aller Toten und Verletzten.

Ibrahims einzige Waffe ist das Megaphon.

Seine Familie hat, sowie die meisten Familien des Dorfes, kaum genug Geld um die lebensnotwendigen Dinge zu bezahlen, vor allem seit ihm während der letzten Haft die Arbeitserlaubnis entzogen wurde - die Familie hat seitdem kein geregeltes Einkommen mehr! Die Anklagepunkte beruhen auf den Aussagen zweier Jugendlicher, einer davon geistig behindert, die während ihrer Haft gefoltert wurden.

Bis Juli gab es 15 Gerichtsverhandlungen, vor jeder dieser Verhandlungen musste er acht Stunden lang in einem heißen Raum ohne Essen und Trinken verbringen, zu Beginn jeder Verhandlung war er hungrig, müde und durstig. Am 12. Juli wurden alle drei zu einer Strafe von jeweils 11 1/2 Monaten Haft und 9000 Shekel verurteilt. Zahlbar bis zum 20.10.2010, ansonsten wird die Haft um weitere neun Monate verlängert; den Gerichtssaal verließen sie in Fußfesseln.

Ibrahims größte Sorge ist seine Familie, denn die hat zum Beispiel bereits 25 mitternächtliche Razzien durch die Israel Defense Forces (IDF) erlebt, acht davon seitdem er in Haft ist. Manchmal kommen die Soldaten nur um sie zu bedrohen und zu verspotten, doch manchmal bringen sie Hunde mit und hinterlassen ein hohes Maß an Zerstörung. Die kleinen Zwillingsbrüder leiden an Angstzuständen und Albträumen.

Einmal versuchten die Soldaten auf das Dach der Familie zu kommen um von dort auf die Menschen auf der Straße zu schießen - die Familie schaffte es, dies zu verhindern, indem sie sich alle vor die Tür stellten, doch dabei wurde Saeeds zehnjähriger Schwester Rajaa ins Bein geschossen. Wir haben das Video gesehen - der Commander lacht!! Eine weitere Schwester wurde angeschossen, einer seiner Brüder verhaftet und auch Saeed war mit 17 Jahren für viereinhalb Monate in Haft - wegen Teilnahme an "illegalen" Demonstrationen - trotz allem ist Ibrahim überzeugt dass eine Gegengewalt die Situation nur noch verschlimmert und hat seine Kinder zu friedlichem Widerstand erzogen.

Dies ist der wahre Grund für diese Verhaftungen: mit diesen drei Männern steht und fällt der Protest in Ni’lin, mit ihnen steht und fällt das ganze Dorf, denn sie sind es, die den gewaltfreien Protest organisiert, angeleitet und strukturiert haben, mit ihren Verhaftungen konnte das IDF die Wortführer ausschalten und durch die harten Haftbedingungen versuchen sie ihren Willen und ihre Widerstandskraft zu brechen.

Das Leben der Familie Amireh und der anderen Bewohner Ni’lins ist geprägt von der täglichen Missachtung der Menschenrechte und UN-Resolutionen durch die israelische Armee, sie leben in ständiger Angst. „Ich schlafe auch nicht gut“ erzählt Saeed, sein Handy hat er immer direkt neben dem Ohr – die anderen Bewohner warnen ihn, wenn nachts Soldaten im Ort gesichtet werden.

Es ist eine Geschichte von tausenden in der West Bank, es ist "nichts besonderes", diese Familie steht beispielhaft für das, was die Palästinenser tagtäglich durchleben und durchleiden.

Nicht allein weil es eine menschliche Katastrophe ist, sondern auch, weil Ibrahim ein Übermittler von Frieden und Gewaltlosigkeit ist, wie die Welt sie nötig hat und von dem wir alle noch einiges lernen können, sollten wir uns für seine Freilassung einsetzen. Wenn jeder nur einen kleinen Betrag spendet können wir es schaffen, die nahezu 7000 Euro für die Befreiung der drei Friedensaktivisten zusammen zubekommen. Sämtliche Spenden werden durch drei geteilt, um nicht nur Einen, sondern alle zu befreien.

…für Fragen und Veranstaltungen stehe ich gerne zur Verfügung (mona-isabell@mittelstein.name) – ich habe es Saeed versprochen: ich werde das nicht schweigend dulden, sondern hier zurück in Deutschland erzähle ich so vielen Menschen als möglich, was ich in Palästina und speziell in Ni’lin gesehen habe, denn ich habe nun eine Verantwortung als Zeuge. Weitere Informationen sind auch in Saeeds blog zu finden: www.supportibrahim.com

Spenden bitte auf folgendes Konto: Rund um die Welt e.V., Sparkasse Heidelberg, BLZ: 67250020, Kto.Nr.: 9081771, Stichwort: Ni’lin”, BIC: SOLADES1HDB, IBAN: DE84672500200009081771. Danke!

Nachtrag: Während ich diesen Artikel schreibe geht die Situation in Ni’lin weiter: vor einigen Nächten wurde der Nachbar der Familie verhaftet – dafür kamen mitten in der Nacht über 50 Soldaten in sein Haus und schlugen ihn heftig vor den Augen seiner Frau und seiner vierjährigen Tochter. Freitag wurde Hamoudh ins Bein geschossen, als er auf der wöchentlichen Demonstration gerade Photos von den Soldaten machte.

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Antiisraelische Propaganda, was hat das hier zu suchen?

Was genau ist daran "antiisraelische Propaganda"? Nur weil du Realitäten nicht von den Werbeblättchen des israelischen Außenministeiums unterscheiden kannst?

Nein, das ist keine "antiisraelische Propaganda". Ich berichte einfach nur von einem Besuch den ich auf meiner Reise gemacht habe. Wenn dir beim Lesen anitiisraelische Gefühle aufkommen, dann liegt es vielleicht an der Vorgehensweise der israelischen Soldaten, die zutiefst Menschenverachtend ist.

Da der Artikel aber nicht von "Israel" spricht, sondern von Palästina und auch nur von einem Dorf in Palästina - Ni'lin - weiß ich nicht, warum er als "antiisraelische Propaganda" zu bezeichnen wäre...

Was in der Welt treibt einen bitte dazu ein 4 jähriges Kind mitten in ein Krisengebiet zu bringen? Das ist doch Wahnsinnig

Du, stell dir vor, in diesem Krisengebiet müssen sogar noch kleinere Kinder leben. Ohne es sich aussuchen zu können.

Danke der Nachfrage, ich bin nicht wahnsinnig. Diese Reise war wohlüberlegt und sorgfältig geplant.