„Was der Nüchterne im Kopf hat, trägt der Betrunkene auf der Zunge“ ist ein russisches Sprichwort. Dieses Sprichwort möchte man wie ein Spruchbanner in deutschen Gerichten hochhalten, wenn mal wieder der Rechtsanwalt eines Nazis oder Rassisten angesichts der menschenverachtenden Worte und Taten seines Mandanten auf dessen realen oder angeblichen Alkoholkonsum hinweist und auf eingeschränkte Schuldfähigkeit, mildernde Umstände und die Reduzierung des Strafmaas für seinen Mandanten plädiert.
So auch bei einem Prozess am Bochumer Amtsgerichts am 19. März 2015, wo es um mehrere Straftaten im Sinne der Volksverhetzung (§ 130) und des Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86 a) ging.
Nicht dass der angeklagte Arbeitslose Frank-Werner J. aus Bochum-Langendreer kein ausgewiesenes Alkoholproblem hätte und die prekären Lebensverhältnisse ihn mehr im Griff hätten, als er sein eigenes Leben. Das ist bedauerlich und macht wütend angesichts der kapitalistischen Selektionsprozesse dieser bundesdeutschen Leistungsgesellschaft. Aber wie dem geschiedenen 50jährigen geht es vielen Menschen, ohne dass sie ihre Differenzen zu anderen Menschen derart ethnisieren und politisieren, ihr Gegenüber erniedrigen, herab würdigen und mit dem Tod bedrohen. So zeigten die in dem Prozess verhandelten Taten ein Moment lang das auf, was der Faschismus den innerhalb des Kapitalismus deklassierten Menschen bieten kann - eine (völkische oder sozio-kulturelle) „Identität“, die zur Zuschreibung und Abwertung anderer (ethnischer und sozio-kultureller) „Identitäten“ dient und somit einen trügerischen Halt, vermeintliche Stärke und angebliche Sicherheit in einer imaginierten Gemeinschaft der „Übermenschen“ bietet.
Aber zu den Sachverhalten. Im Frühjahr 2014 wohnte Herr J. noch in der Grabelohstraße in Bochum-Langendreer. Dort geriet er mit seinen neuen Vermietern in Streit. Der Streit eskalierte und es kam zu Sachbeschädigungen. Die Beschädigungen an den Pkws brachten die Vermieter - ein Ehepaar, dass anscheinend aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt - zur Anzeige. Schließlich beleidigte der Angeklagte das Ehepaar immer wieder. Er stellte sich an das offene Fenster seiner Wohnung und gröhlte: „Ausländer raus“, „Kanaken Raus“, „Deutschland den Deutschen“ und sinngemäß „Es lebe Adolf Hitler“ und „Zigeuner gehören verbrannt“. Dabei zeigte er mehrfach den Hitlergruß.
In dem Strafverfahren am 18. März 2015 (76 Ds -441/14) wurde gegen ihn wegen Volksverhetzung in acht, tateinheitlich mit dem Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in sechs Fällen verhandelt.
Nach der Verlesung der Anklage kam die voraussehbare Leier des Anwalts:
- Das Leben sei seinem Mandanten entglitten, Sozialer Abstieg, Alkoholismus – jetzt sei er aber abstinent und seit einem Jahr in Therapie, er hätte eine positive Sozialprognose.
- Sein Mandant sei in keinem Fall ein Rassist, dieses Gedankengut läge ihm fern – sein Mandant hätte in seinem Berufsleben sogar mit Ausländern zusammen gearbeitet.
- Das aufgeheiztes Klima zwischen seinem Mandanten und den Vermietern sei der Auslöser gewesen – sein Mandant sei ungerecht behandelt worden.
- An die Vorfälle könnte sich sein Mandant kaum erinnern, so alkoholisiert sei dieser gewesen. - Der Alkohol sei es in Schuld gewesen. Nüchtern würde sein Mandant nie auf solche Ideen kommen. - Es täte seinem Mandanten leid und es käme nie wieder vor.
Was in dieser Litanei natürlich nicht fehlen durfte war die anwaltliche Würdigung der dem Prozess zugrunde liegenden Paragraphen 86a und 130. Die seien aus historischen Gründen selbstverständlich wichtig und richtig, etc. p. p..
Nach der anwaltlichen Verteidigungsrede hielt die Richterin dem bis dato stillen Angeklagten seine Vorstrafen vor. Aus dem Auszügen des Strafregisters des Angeklagten war ersichtlich, dass er schon zwei mal wegen ähnlicher Delikte verurteilt worden war. In einem Fall beleidigte er einen Mann mit schwarzer Hautfarbe. Er soll unter anderem „Darfst Du überhaupt hier leben?“ und „Darfst Du überhaupt jemanden anzeigen, du Brauner?“ geäußert haben. In diesem Prozess aus dem Jahr 2012 wurde Herr J. zu 55 Tagessätzen verurteilt. Schon diese Vorstrafen führten die anwaltliche Argumentationsstrategie ad absurdum. Dennoch baute die Richterin dem Angeklagten Brücken. So bot sie ihm die Gelegenheit sich bei den als Zeugen anwesenden Betroffenen zu entschuldigen. Was der Angeklagte auf Wink seines Anwalts dann auch tat.
Der Prozess endete schließlich mit einer Verurteilung wegen Volksverhetzung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu 120 Tagessätzen a 10 Euro. (Diese niedrige Geldstrafe erfolgte angesichts der ALG II – Bezüge des Angeklagten.) Die Richterin sah den Angeklagten strafmildernd als geständigen, einsichtigen und therapiewilligen Alkoholkranken an.
Die Strategie des Rechtsanwalts ging somit auf. Eine entsprechende strafrechtliche Würdigung im Sinne der Paragraphen 86a und 130 unterblieb.
Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86 a)
http://dejure.org/gesetze/StGB/86a.html
Volksverhetzung (§ 130)
http://dejure.org/gesetze/StGB/130.html
(Um Missverständnissen vorzubeugen. Dieser Artikel ist nicht als Aufforderung zu höheren Strafmaasen, schärferen Gesetzesauslegungen, etc.p.p., sprich zur Legitimation eines Obrigkeitsstaats, zu verstehen. Es geht vielmehr darum, eine übliche Prozessstrategie von Strafverteidigern zu beleuchten, die darauf abzielt die für antidemokratische, rassistische und rechtsradikale Vergehen konzipierte Strafgesetze zu unterlaufen. Die Folge dessen ist die relativ niedrige Verurteilung für rassistische und faschistische Beleidigungen, Bedrohungen und Schlimmeres. Zudem kann man an diesen immer wieder erfolgreich, bespielten Vorgehen von Rechtsanwälten sehen, wie wenig Rassismus und Volksverhetzung an deutschen Gerichten Ernst genommen wird.)
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Adresse:
Azzoncao, ein Polit-Cafè
c/o Bahnhof Langendreer
Wallbaumweg 108
44894 Bochum
Na und?
Anwälte sind dafür da, für ihre MandantInnen das beste rauszuholen, egal wie scheiße oder schuldig oder beides sie sind. Wo ist das Problem? Was das für staatstragende Forderungen? Und in diesem Fall, würde eine härtere Strafe für diese arme Rassisten-Wurst irgendwas bringen? Hoffentlich schlägt wenigstens die Alk-Therapie an...
Zum Vergleich
Unmittelbar vor diesem Prozess wurde vor derselben Kammer ein Migrantin zu 600 Euro Strafe wegen "Schwarzfahrens" verurteilt. Beim "Schwarzfahren" handelt es sich um eine so genannte Beförderungserschleichung, einer Form des "Erschleichen von Leistungen" nach dem § 265a StGB. Die Migrantin war zu Gericht ohne Rechtsbeistand erschienen. Sie konnte schlecht Deutsch und wirkte sehr unorganisiert. Ihr Vergehen war wie folgt. Sie war mit den öffentlichen Verkehrsbetrieben gefahren und besaß dafür ein Ticket. Sie war aber weiter gefahren als das Ticket ihr erlaubt hatte. Das war ihre Straftat. Weil sie zuvor schon zweimal wegen des gleichen Delikts verurteilt worden war, drohte ihr die Staatsanwältin im Falle einer erneuten Beförderungserschleichung mit einer Haftstrafe auf Bewährung.
Hier ging es um finanzielle Kleinstbeträge, bei einer Frau, die generell für ihre Beförderung bereit ist zu zahlen.
Wenn ein notorischer Rassist anderen Menschen ihre Rechte in diesem Land, gar das Existenzrecht, abspricht und zu Mord an diesen aufruft, dies laut in der Öffentlichkeit propagiert und sich positiv auf den Massenmord im Nationalsozialismus und die NS-Diktatur bezieht, dann kann er diese Grenzüberschreitungen, die sich direkt gegen das persönliche Wohl und das Sicherheitsempfinden der anderen Menschen richtet, anscheinend beliebig oft machen. Eine Haftstrafe scheint ihm nicht zu drohen. Was mit den bedrohten Menschen ist scheint die Gerichte nicht zu interessieren. Was mit den sozialen Kontexten passiert, in denen diese Straftaten passieren, anscheinend auch nicht..
Das Rechtsgut "Geld" der Beförderungsbetriebe wiegt anscheinend schwerer als die Verängstigung und Bedrohung von Menschen aus gesellschaftlichen Minderheiten und der öffentliche Friede zwischen den Bevölkerungsgruppen, den es zu wahren gilt.
Das war in diesen beiden aufeinander folgenden Prozessen sehr gut sichtbar.
Dieses Ungleichgewicht ist an sich ein Skandal. Dass es die ehedem rechtlich schlechter stehenden armen und/oder migrantischen Bevölkerungsgruppen trifft ist ein Ausdruck des Kapitalismus und Rassismus. Hier wird gesellschaftliche Exklusion tagtäglich erlebbar für die Betroffenen an den Gerichten umgesetzt und sozial zementiert. Das kann nicht oft genug gesagt werden. Auf diese Mechanismen und auch auf die anwaltlichen Strategien gilt es hinzuweisen. Ein "Na und?" ist da wenig hilfreich.