Aufstand in Resistanbul

#occupygezi

Hier folgen eine Momentaufnahme und ein selektiver Überblick über Einschätzungen und Kommentare aus Medien mit linkem und emanzipatorischem Anspruch. Der Fokus liegt dabei weniger auf den spektakulären Ereignissen auf den Barrikaden, die man ohnehin gut über diverse Live-Ticker mitverfolgen kann, sondern mehr auf der Analyse der Revolte mit geschärftem Blick auf die Herausforderungen für die sozialen Bewegungen in der Türkei – soweit dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wo sich die Tränengaswolken über Istanbul, Izmir und Ankara dicht zusammenziehen, überhaupt möglich ist.

 

Neoliberaler Kapitalismus im autoritären Sittenwächterstaat

„Es hatte den Anschein, als ob die Welt in das Zeitalter der Austeritäts-Riots eingetreten sei. Und dann ist Istanbul ausgebrochen. Täuschen wir uns nicht, Istanbul kann nicht mit Athen, Barcelona, Lissabon oder New York verklumpt werden. Was in der Türkei passiert, ist die Kehrseite der antikapitalistischen Münze. Es handelt sich um einen Aufstand gegen Entwicklung. Es ist ein Straßenkampf für Städte, die den Menschen gehören und nicht dem Kapital. Es ist Widerstand gegen ein autoritäres Regime, das vom wirtschaftlichen Boom ermutigt wird.“ [1]

Das wirtschaftliche Wachstum wird von der türkischen Regierung wie von den bürgerlichen Medien gerne als Erfolgsgeschichte der AKP zu Buche geschrieben: Zwischen 2002 und 2011 wuchs die Ökonomie im Schnitt um jährlich 7.5 %. Nach einem temporären Einbruch im Zuge der Krise 2008/09 konsolidierte sich die türkische Wirtschaft wieder bei starken Wachstumsraten von 9 % im Jahr 2010 und 8.5 % im Jahr 2011. Das durchschnittliche Pro-Kopf Einkommen stieg zwischen 2001 und 2011 von 2.800 auf rund 10.000 US-$. Zugleich stieg auch die staatliche Verschuldung. Einem BNP-Wachstum von 44 Milliarden $ zwischen 2008 und 2012 steht ein Anstieg der Auslandsverschuldung von 55 Milliarden $ gegenüber. Im Jahr 2012 ist kaum mehr etwas vom „Wirtschaftswunder“ übrig geblieben, die Ökonomie stagniert mit einer Wachstumsrate von nur mehr 2.2 %. [2]

Das Wirtschaftswachstum in der Türkei beruhte im wesentlichen auf dem Fluss von ausländischen Direktinvestitionen vorwiegend saudiarabischer, quatarischer sowie US-amerikanischer und niederländischer Provenienz. Die Unternehmen profitierten von einer massiven Privatisierungswelle: Fabriken, Bergwerke und die ganze Infrastruktur des Landes. Selbstverständlich verschleiern die Erfolgszahlen des türkischen „Wirtschaftswunders“ den ungleichen Zugriff auf die Einkommen: Während die reichsten 20 % der EinwohnerInnen in der Türkei über fast die Hälfte der nationalen Einkommen verfügen, müssen die ärmsten 20 % mit gerade 6 % der Einkommen auskommen. Trotz des ökonomischen Wachstums steht die Türkei an der dritten Stelle der ungleichsten Länder der OECD. Die Erwerbslosenrate liegt in der Periode der AKP-Regierung bei rund 9 %; die Erwerbsarbeitslosigkeit unter jungen AkademikerInnen liegt bei rund 30 %. Nach offiziellen Angaben leben 16 % der TürkInnen unter der Armutsgrenze. Außerdem wurden die vorher in der Mittelklasse durch teilweise gehobenen Konsumstandard geweckten Erwartungen durch den Einbruch des Wachstums 2012 frustriert und so steigerte sich die Unzufriedenheit in diesem sozialen Umfeld. [3] Hinzu gesellt sich eine Neupositionierung der Türkei als regionale Hegemonialmacht („Ottomanischer Tiger“) in Nordafrika und im Mittleren Osten. Wie eine klassische Kolonialmacht vergrößerte der türkische Staat seine Einflusssphäre über die Märkte, insbesondere die Beziehungen zu den im Gefolge der Arabellion an die Macht gelangten, neuen islamistischen Regimen in Ägypten und Tunesien sowie zur kurdischen Regionalregierung in Nordirak wurden enger; auch im Syrien-Krieg intervenierte die AKP-Regierung auf der Seite der Freien Syrischen Armee gegen das Assad-Regime. Diese Intervention wird auch von vielen TürkInnen als Hintergrund für den Bombenanschlag mit 46 Todesopfern in der Stadt Reyhanli an der türkisch-syrischen Grenze vor drei Wochen gesehen. [4]

Zu den unmittelbar sozio-ökonomischen Gründen für die Revolte kommen auch gesellschaftliche Zusammenhänge. So wirkt sich die rebellische Welle der Arabellion nun auch verspätet auf die Türkei aus. Umgekehrt ist es denkbar, dass die Entwicklung der Massenbewegung gegen die islamistische AKP-Regierung sich umgekehrt wieder auf die sozialen Bewegungen in Ländern wie Ägypten und Tunesien, vielleicht sogar Iran, auswirken, da die Unzufriedenheit und schwindende Legitimität einer Regierung, die gemeinhin ein „moderat islamisches“ Image pflegt bzw. auch von bürgerlichen Medien zugeschrieben bekommt, auch einen Aufschwung für die Protestbewegungen gegen die Regime in Nordafrika und im Mittleren Osten haben kann. [5] Der Aufstand in der Türkei richtet sich gerade auch gegen die konservativ-religiöse Durchdringung und Bevormundung der Gesellschaft durch die AKP. Diese rückschrittlichen Entwicklungen manifestieren sich in so verschiedenen Bereichen wie die Missachtung des Selbstbestimmungsrechtes der Frauen über ihren Körper (Abtreibung) und der Rechte der LGBT-Community, schärfere Kontrolle über Kommunikationsmittel wie das Internet, Einschränkungen und Steuern beim Konsum von Alkohol und die staatlich geförderte Erweiterung der islamischen Feiertage. All dies trägt zur allgemeinen Unzufriedenheit bei und war schon vor einiger Zeit Gegenstand von Demonstrationen. [6]

Ob die AKP-Regierung letztlich zu Fall gebracht werden kann, hängt u.a. davon ab, ob die bereits begonnenen „Dialog“-Angebote bzw. „Zugeständnisse“ der Regierung ihr Ziel erreichen, die Protestbewegung zu „befrieden“ und also zu schwächen. Staatspräsident Abdullah Gül und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan spielen bereits ihre Karten als „good cop“ und „bad cop“ aus. Während Erdogan – für autoritäre Herrschaft typisch - die üblichen Stammtischtiraden gegen „Marodeure“ und „Terroristen“ auf der Straße ablässt und so die Polizeigewalt der letzten Tage zu rechtfertigen sucht und noch weiter schürt, täuscht Gül „Verständnis“ für die Proteste vor. „Erdogan wackelt mit dem Stock und Gül mit der symbolischen Karotte, doch beide wollen das gleiche: dass die Massen nach Hause gehen und die Straßen verlassen.“ [7]

Eine wichtige Rolle spielt auch das Verhältnis der Aufstandsbewegung zu den KurdInnen. Die Verhandlungen mit der PKK verleiteten Erdogan dazu, sich als „großer Konfliktlöser“ zu inszenieren. Dabei geht aber doch unter, dass seine Sicherheitskräfte für massive Verbrechen bei der Unterdrückung der türkischen Linken und anderer DissidentInnen in den letzten Jahren verantwortlich sind. Der überwiegende Teil der Menschen, die den Gezi Park besetzt haben, verhalten sich solidarisch gegenüber dem Kampf für die Rechte der KurdInnen. Doch anders verhält es sich mit den Massen, die in den vergangenen Tagen die Straßen mit türkischen Nationalfahnen geflutet haben. „Im besten Fall stehen sie kritisch gegenüber Erdogans Instrumentalisierung des kurdischen Friedensprozesses für die Stärkung seines Machterhaltes und im schlechtesten Fall sind sie unverhohlene RassistInnen, die KurdInnen als TerroristInnen betrachten. Trotz dieser Gefahr sind die jüngsten Entwicklungen auf der Straße viel versprechend. AugenzeugInnen berichten davon, dass türkische Flaggen und Fahnen mit Öcalans Portrait neben einander gesichtet wurden oder die Verflechtung von Rufen, die sowohl die Geschwisterlichkeit zwischen beiden Gruppen betonen wie auch die nationale Identität der Türkei feiern.“ [8]

Größenwahnsinnige Gentrifizierung

„Dies ist eine Revolte gegen eine Entwicklung des Aufschwunges, zerstörerische Projekte zur urbanen Erneuerung und die Hyper-Modernisierung der Städte. Der Aufstand in Istanbul zeigt den entgegen gesetzten Pol im fortdauernden Kampf gegen den Kapitalismus und ergänzt die Kämpfe gegen Austerität in den letzten Jahren.“ [9]

Der Anstoß für die Proteste, der geplante Abriss des Gezi Parks am Taksim Platz von Istanbul und der vorgesehene Bau, zunächst eines Einkaufszentrums, dann einer Moschee, passt sich ein in eine allgemeine Tendenz der AKP-Regierung, die Stadt und das ganze Land einer massiven urbanen Umstrukturierung zu unterwerfen. Dazu gehören u.a. die Gentrifizierung von Stadtteilen wie Tarlabaşı, die Errichtung einer dritten Brücke zwischen den beiden Kontinenten - benannt nach Sultan Yavuz Selim, der einen Massenmord an den anatolischen AlewitInnen angerichtet hat - und der Plan, einen dritten Kanal zu eröffnen, der das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbinden soll, um die Containerschifffahrt zu erleichtern. Auch die Nachbarschaft von Taksim ist selbst Ort verschiedener Projekte der Stadtumstrukturierung. [10]

Die türkische Linke erhebt sich…

„In den Straßen von Istanbul entfaltet sich ein Zusammentreffen zwischen der kleinen, aber wachsenden anti-autoritären Linken in der Türkei, die in den vergangenen Jahren diverse Kampagnen von gesellschaftlicher Relevanz organisiert hat, sowie einem großen Anteil der städtischen Bevölkerung, die den kemalistischen Idealen von Modernismus, Säkularismus und Nationalismus verpflichtet sind.“ [11]

Im Rahmen der Taksim Solidaritätsplattform findet ein weites Spektrum von Personen und Gruppen zusammen, um u.a. den Gezi Park zu verteidigen - dazu zählen langjährige AktivistInnen der Gewerkschaften ebenso wie jüngere Antiautoritäre und UmweltschützerInnen mit einem Fokus auf das „Recht auf Stadt“. Schon vor zwei Monaten kamen Pfefferspray und Wasserwerfer zum Einsatz, als KünstlerInnen mit dem türkischen Staat zusammenkrachten, weil dieser das alte Emek-Kino abreißen ließ, um an dessen Stelle ein Einkaufszentrum zu bauen. Ein weiterer Stützpfeiler des breiten Spektrums zum Erhalt des Gezi Parks sind Organisationen zur Unterstützung von MigrantInnen. „Der Kampf zum Schutz des Gezi Parks befand sich nicht im öffentlichen Bewusstsein der Türkei bis die Polizei ihn an zwei Morgen in Folge am 29. und 30.Mai stürmte. Die Empörung über die Brutalität der Polizei war der Funke, der das Feuer im gesamten Land entfachte und den Kampf in einen landesweiten Aufstand gegen die gegenwärtige Regierung verwandelte.“ [12]

Der Taksim Platz hat schon aus historischer Sicht für die türkische Linke einen hohen symbolischen Stellenwert. Am 1.Mai 1977, sechs Jahre nach einem der zahlreichen blutigen Militärputsche in der Türkei, strömten 500.000 ArbeiterInnen und Linke auf den Platz. Es sollte dabei die Erinnerung an drei studentische AktivistInnen hochgehalten werden, die im Zuge des Putsches hingerichtet worden waren. Als auf den umliegenden Dächern postierte paramilitärische Scharfschützen begannen, in die Menge zu feuern, brach Panik aus – 34 Menschen wurden auf dem Platz getötet. Seit 2007 kommt es am 1.Mai wiederholt zu Krawallen, seit damals die türkische Linke versuchte, auf dem Platz des 30.Jahrestages des Massakers von 1977 zu gedenken. Erst seit 2011 lässt die türkische Regierung zu, dass sich die Linke auf dem Taksim Platz versammelt. Unter dem Vorwand, eine Fußgängerzone einrichten zu wollen, will die AKP-Regierung den Platz nun komplett umbauen und große Teile für kommerzielle Zwecke umwidmen. Am 1.Mai dieses Jahres wurde die Demonstration auf dem Taksim Platz wieder untersagt, wobei der Umbau als vermeintliche Rechtfertigung für das Verbot herangezogen wurde. [13]

… und die Arbeiterklasse?

Bislang ist ein Generalstreik, der die AKP-Regierung empfindlich treffen kann, zwar noch nicht absehbar. Es gibt aber Solidarität und relevante Aufrufe sowie Treffen von Einzelgewerkschaften wie der KESK (öffentlicher Sektor) und DISK (Konföderation der progressiven Gewerkschaften). Auch auf den Universitäten und Schulen sowie in den Spitälern rumort es. [14]

Am 4.Juni traten 240.000 in der KESK organisierte Staatsbedienstete in den Streik; die DISK wollte sich am Mittwoch anschließen. Anlass sind die Verhaftung und Gerichtsverfahren gegen 72 GewerkschafterInnen mit windigen Anklagen wegen „Terrorismus“. Die aktuelle Polizeigewalt, mit der die AKP-Regierung die Protestbewegung seit vergangenem Freitag niederschlagen will, ist ein weiterer Grund für den Streik. Unterstützung erfahren Streik und Proteste auch von der ITUC (International Trade Union Confederation). [15]

Quellen:
[1] http://www.counterpunch.org/2013/06/05/istanbul-uprising
[2] http://www.marxist.com/turkey-mass-movement-against-government-needs-gen...
[3] ebenda
[4] ebenda
[5] ebenda
[6] http://www.counterpunch.org/2013/06/05/istanbul-uprising
[7] http://www.marxist.com/turkey-mass-movement-against-government-needs-gen...
[8] http://www.counterpunch.org/2013/06/05/istanbul-uprising
[9] ebenda
[10] ebenda
[11] ebenda
[12] ebenda
[13] ebenda
[14] http://www.marxist.com/turkey-mass-movement-against-government-needs-gen...
[15] http://www.indybay.org/newsitems/2013/06/05/18737997.php

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Gezi Park highlights years of destructive urban development

http://www.ipsnews.net/2013/06/gezi-park-highlights-years-of-destructive...