Auf eine Demo zu gehen kann für Frauen in Ägypten lebensgefährlich sein - sexuelle Gewalt ist auf dem Tahrir-Platz inzwischen an der Tagesordnung. Soraya Bahgat, 29, will das nicht länger hinnehmen: Sie bildet Bodyguards aus, die die Frauen beschützen.
Sie spürte die Hände überall: unter ihrem T-Shirt, am BH. Grobe, gierige Männerhände. Sie rissen am Bund der Jeans, eine Hand bohrte sich zwischen ihre Beine. "Zugleich spürte ich, wie von hinten jemand mit einem harten Stock versuchte, meine Hose zu durchstoßen", sagt Dina Jakob, 29, eine zierliche Frau mit schulterlangen dunklen Haaren. "Es war die Hölle. Ich konnte nichts machen." Was dann geschah, kommt Dina im Nachhinein wie die Szene aus einem Traum vor. "Es wurde gelb, und ich sah das Gesicht eines Mannes. Er sagte: Du bist in Sicherheit." Eine Menschenkette hatte sich um sie gebildet. Ein Schutzwall aus gelben Westen. Dina klammerte sich an dem Mann fest. "Die Leute mit den Westen brachten mich durch die Menge zu einem Auto. Aber die Angreifer versuchten, mich wieder herauszuzerren. Irgendwie gelang es, mich fortzubringen." Drei Tage musste sie im Krankenhaus bleiben. Das war im Dezember. Danach hat sich Dina, von Beruf Tanzlehrerin und Fremdenführerin, nicht zu Hause verkrochen. Für sie war es selbstverständlich, dass sie die unterstützt, die sie gerettet haben. Deshalb ist sie jetzt hier, in einem Hinterhof in der Kairoer Innenstadt. Zusammen mit einer Gruppe junger Leute in gelben Westen mit dem Logo der "Tahrir-Bodyguards" bereitet sie sich auf ihren Einsatz bei der nächsten Demonstration vor.
"Dass ich gerettet wurde, habe ich ihr zu verdanken", sagt Dina und deutet auf die schlanke Frau mit langen braunen Haaren neben ihr: Soraya Bahgat. Die 29-Jährige ist die Gründerin der Bürgerwehrtruppe, sie trommelt die Freiwilligen zusammen und organisiert ihre Einsätze. Heute soll eine Demonstration in der Innenstadt stattfinden, ein Protest gegen die Gewalt gegen Frauen. Und natürlich sind die Bodyguards da. Immer wieder sind in den letzten Monaten Demonstrantinnen angegriffen worden. "Sie wollen uns von der Straße vertreiben. Wir sollen voller Angst zu Hause bleiben. Aber das lassen wir nicht zu", sagt Soraya Bahgat. Sie verbringt ihre gesamte Freizeit bei den Tahrir-Bodyguards. Die direkte Konfrontation mit den Belästigern ist zwar Männersache, aber Soraya und die anderen weiblichen Bodyguards halten mit Menschenketten die Belästiger davon ab, überhaupt zuzuschlagen.
Sie stehen dafür, dass ägyptische Frauen sich nichts mehr gefallen lassen. Frauendemonstrationen wie die heute sind besonders heikel: Denn die neue islamistische Regierung, die nach dem Sturz Mubaraks an die Macht kam, will die Frauen stärker aus der Öffentlichkeit verdrängen. Nach der Revolution ist die gesetzliche Frauenquote von 12 Prozent im Parlament abgeschafft worden. Und auch das bisherige Recht der Frau auf Scheidung wird diskutiert.
120 Mitglieder haben die Bodyguards inzwischen, bei jedem Treffen kommen weitere Freiwillige hinzu. Ihnen erklärt Soraya das oberste Prinzip der Organisation: "Es ist wichtiger, die Frauen zu retten, als die Täter zu fangen."
Dann teilt sie die Teams ein, gibt jedem eine Weste und einen Helm. Die Grundausrüstung hat sie mit ihrem eigenen Geld finanziert, unlängst eine erste Spenderparty organisiert, um Geld für weitere Westen und Helme zu beschaffen. Dafür hatte sie Freunde und Bekannte in eine Disco eingeladen. Am Ende hat sie 1000 Euro Spendengelder eingesammelt.
Soraya Bahgat hat zuvor nie in einer politischen Gruppe mitgearbeitet. Während der Revolution vor zwei Jahren musste sie zu Hause bleiben, ihre Mutter ließ sie nicht gehen, aus Angst, ihr könne in den Tagen der Gewalt etwas zustoßen. Erst am 11. Februar 2011, an dem Tag, an dem Ex-Präsident Hosni Mubarak gestürzt wurde, ging sie mit ihrem Freund zum Tahrir. "Er schlang die Arme um mich, damit mich niemand berühren konnte", sagt sie. Es war die Nacht, in der die Revolution kippte. Zuvor war der Tahrir-Platz ein Ort, an dem Frauen in Sicherheit waren. Sexuelle Belästigung - sonst alltäglich am Nil - gab es bei den Revolutionären nicht. Aber am Tag des Mubarak-Sturzes wurde Lara Logan, Reporterin eines US-Senders, das erste Opfer. Eine Gruppe von Männern stürzte sich auf sie, zerriss ihre Kleider. Eine halbe Stunde lang wurde sie mitten auf dem Platz misshandelt. Um sie herum feierten eine Million Ägypter den Sieg über die Diktatur. Als Lara Logan über die Übergriffe berichtete, glaubte ihr zunächst niemand. Erst später, als es immer häufiger zu Massenattacken kam, war klar, dass sie nicht gelogen hatte.
Soraya Bahgat ist das, was man in Ägypten "Bint Nas" nennt, eine Tochter aus gutem Hause. Sie ist top ausgebildet und beruflich sehr erfolgreich. Als Chefin der Personalabteilung einer internationalen Baufirma ist sie für 450 Mitarbeiter zuständig. Nebenbei macht sie noch einen Master in Politikwissenschaften an der Amerikanischen Universität in Kairo. "Ich habe mich nie als Aktivistin gesehen. Na ja, das hat sich jetzt geändert", sagt sie. Auslöser war eine Panikattacke. Im November 2012, als Hunderttausende gegen Präsident Mohammed Mursi und die regierende Muslimbruderschaft auf die Straßen gingen, wollte sie endlich auch dabei sein.
Sie hatte sich auf die Demonstration vorbereitet und extra eine Tasche mit Wechselklamotten ins Büro mitgenommen. "Turnschuhe, ein weites Sweatshirt und eine alte Jeans. Ich wusste ja, dass es auf dem Tahrir-Platz Angriffe auf Frauen gab." Aber als sie aufbrechen wollte, hatte sie plötzlich ein mulmiges Gefühl. Erst ein paar Tage zuvor waren zwei Frauen auf dem Weg zu einer Demonstration attackiert und eine von beiden auch vergewaltigt worden.
Sie überlegte, wer sie begleiten könnte, aber ihr fiel niemand ein; von ihrem Freund hatte sie sich getrennt. Ihrer Mutter hatte sie vorsorglich verschwiegen, dass sie demonstrieren gehen wollte - wie viele unverheiratete Frauen in Ägypten lebt Soraya mit ihr und ihrer Großmutter zusammen, und in Ägypten hält sich eine Frau auch mit 29 noch daran, was ihre Mutter sagt. Zumindest meistens. "Je länger ich darüber nachdachte, desto größer wurde meine Angst. Ich bekam richtig Panik", sagt sie.
Zugleich ärgerte sie sich über sich selber. Dann kam ihr die Idee: "Ich wünschte mir einen Bodyguard, einen Tahrir-Bodyguard." Der Name war geboren, und wenige Minuten später hatte Soraya schon einen Twitter-Account eingerichtet. Noch am gleichen Tag folgten ihr 3000 Frauen und viele Männer.
Schon bei der nächsten Demonstration, zwei Tage später, waren die Bodyguards im Einsatz. Sie hatten sich über Twitter verabredet und wurden von Jugendlichen der Doustour-Partei von Oppositionspolitiker Mohammed el-Baradei unterstützt: Sie bauten Aussichtstürme am Rand des Platzes, um die Menschenmenge überblicken zu können.
Von oben sieht ein Übergriff wie ein kochender Rand aus, der sich um ein Zentrum dreht. Man könnte es für eine Schlägerei halten. Aber hier weiß man, dass sich im Zentrum eine Frau befindet", sagt der Angestellte Mark Bishara, 37, ein großer Mann mit blondem Bart und grünen Augen. Er gehörte zu den ersten Bodyguards, die sich bei Soraya meldeten. "Wenn wir so etwas sehen, geht ein Team hin. Man muss so schnell wie möglich zu der Frau gelangen. Wie ein Messer durch eine Torte schneiden." Auf seinem Rücken trägt Mark auch heute seinen Not-Rucksack. Darin eine Flasche Wasser, eine Gesichtsmaske gegen Tränengas und ein Bettlaken. "Ich habe schon mehrfach Frauen gerettet, die nur noch ihre Unterhose anhatten oder sogar noch weniger."
Er drückt den gelben Helm in die Stirn, reckt sich. Was passiert da vorn? Eine Gruppe von Männern kommt aus einer Seitenstraße auf den Demonstrationszug zu. Mark sieht sich nach seinem Team um. Auch Dina und Soraya sind alarmiert. "Wenn es zu heiß wird, ziehen sich unsere Bodyguard-Frauen eher zurück. Wir wollen nicht, dass wir selbst auch noch gerettet werden müssen", sagt Soraya. Finster schaut sie der Gruppe Männer entgegen. Aber die rufen: "Mursi, hau ab! Wir kämpfen für die Rechte der Frau." Falscher Alarm. Die Männer sind auf der Seite der Frauen. Mark knufft Dina in die Seite.
Und wer steckt hinter den Angriffen? "Sie sind organisiert. Man kann Menschen ansehen, wenn sie bezahlt werden, um anderen Leid zuzufügen", sagt Dina. Wer sie geschickt hat, dazu will sie nichts sagen. "Aber wer könnte denn ein Interesse haben, dass wir aufhören, gegen die Regierung der Muslimbrüder zu demonstrieren?", fragt sie zurück. Auch Mark vermutet die Regierung, genauer gesagt die Staatssicherheit, hinter den Angriffen: "Ich habe viele gesehen. Es gibt immer einen inneren Kern von Angreifern, die organisiert sind. Dazu kommen dann Mitmacher", sagt er.
Tatsächlich setzte die Staatssicherheit schon vor der Revolution sexuelle Belästigung ein, um die Frauen fernzuhalten. Sexismus gehört in Ägypten schon lange zum Alltag. Soraya glaubt, dass nicht alle Täter auf dem Tahrir-Platz staatlich gesteuert sind. "Viele sind ganz normale junge Männer. Sie fühlen sich toll, wenn sie Frauen erniedrigen können. Es geht immer auch um Macht. Wenn wir etwas gegen sexuelle Angriffe tun wollen, müssen wir das Bild der Frauen in den Köpfen ändern, sonst werden uns die Jungs weiter belästigen", sagt sie.
Frauenorganisationen bemühen sich schon lange, auf das Thema aufmerksam zu machen. Doch bisher traut sich kaum eine Frau, die Täter anzuzeigen. Zu groß ist die Angst vor sozialer Ächtung.
Die Demo ist vorbei, der harte Kern von acht Freunden hat sich in einem Café versammelt. Sie planen ihre nächsten Aktionen. Inzwischen bieten die Tahrir-Bodyguards auch Selbstverteidigungskurse an. Jeden Donnerstag versammeln sie sich in einem Fitness-Studio. Der Trainer mit den muskulösen Oberarmen geht von Frau zu Frau, zeigt ihr, wie sie sich aus einer Umklammerung befreien kann. "Wir werden nicht aufgeben. Wir ägyptischen Frauen sind zäh. Wir haben eine Revolution gemacht, da werden wir doch wohl mit so ein paar Männern fertig werden", sagt Dina. Soraya relativiert: "Wir haben einen langen Kampf vor uns. Wir kämpfen gegen ein Monster. Noch ist es nicht besiegt."
Eigene Medien...
Statt der Brigitte wäre es vielleicht sinnvoll, eigene Medien zum Thema anzuführen. Mehr gibt es z.B. hier, und zwar bereits seit März 2013:
http://www.anarchismus.at/blog-anarchismus/7447-black-bloc-in-aegypten
http://www.anarchismus.at/blog-anarchismus/7467-black-bloc-in-aegypten-t...
Kairo, Tahrir-Platz: Street Harassment und sexuelle Gewalt
Neben dem Black Bloc wird derzeit noch ein weiteres Thema der ägyptischen Revolution international diskutiert - Übergriffe und Street Harassment während Demonstrationen und Protestversammlungen oder in deren Umfeld. Zahlreiche Frauen mussten massive sexuelle Gewalt bis hin zu Massenvergewaltigungen erleben.
Aktivistinnen berichten von großen Männergruppen, die Frauen brutal attackieren. Dabei werden die organisierten Vergewaltigungen im Zentrum von Kairo immer häufer. Alleine am 25. Jänner 2013, dem ersten Tag der neuen Massenproteste, wurden 25 Betroffene gezählt - von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.
Sexuelle Belästigung und häusliche Gewalt sind in Ägypten weitverbreitete gesellschaftliche Probleme. Gegen die Gewalt in der Umgebung des Tahrir-Platzes regt sich inzwischen jedoch Widerstand. Gruppen wie "Operation Anti-Sexual Harassment" und "Tahrir Bodyguard" organisieren Patrouillen von Freiwilligen, klären über die Gewalt auf und versuchen, Frauen vor Angriffen zu schützen. Am Tahrir-Platz selbst wurden Türme errichtet, über die die Menschenmenge von oben zu überblicken ist, damit bei Angriffen auf Frauen eingegriffen werden kann. Auch hier sind die jugendlichen AktivistInnen des Black Bloc aktiv, wie auf youtube-Videos zu sehen ist - etwa, wie sie eine attackierte Journalistin in Sicherheit bringen.
"Was am Tahrir-Platz passiert, ist politisch, und das Hauptziel ist der Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Raum. Die Gewalt soll eine klare Botschaft senden, dass Frauen hier nicht willkommen sind. (...) Sie glauben, das wird verhindern, dass Frauen zum Tahrir-Platz gehen. (...) Aber nichts wird uns davon abhalten, die Straßen gehören uns wie sie allen gehören. Das ist unser Land und wir werden zu sexueller Gewalt nicht schweigen - nicht zu der, die wir jeden Tag erleben, nicht zu der am Tahrir-Platz." (Videointerview mit einer Aktivistin, Eigenübersetzung)