Libanon: Die Zerstörung des Flüchtlingslagers Nahr al-Bared und ihre Folgen

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Vor eineinhalb Jahren wurde das palästinensische Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Norden Libanons fast vollständig zerstört. Wir versuchen im Folgenden, die Zeit nach dem Krieg zu dokumentieren und gehen dabei auf die gegenwärtige Situation und den geplanten Wiederaufbau sowie auf soziale, ökonomische und politische Aspekte ein.



Inhalt: Gegenwärtige Situation | Entwicklung hin zum Krieg | Ökonomische Misere | Politische Implikationen | Wiederaufbau | Baracken vs. Luxushotel | Politischer Aktivismus | Zahlreiche offene Fragen | Offener Brief | Ergænzungen

Gegenwärtige Situation

Das palästinensische Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Norden Libanons war von Mai bis September 2007 Schauplatz eines Kriegs zwischen der libanesischen Armee und der islamistischen Gruppe Fatah al-Islam. Über 500 Menschen starben, darunter 169 Soldaten, 287 Kämpfer der Fatah al-Islam und 47 ZivilistInnen. Fast das gesamte Camp wurde in diesem Krieg zerstört . Die mehr als 30.000 BewohnerInnen Nahr al-Bareds mussten fliehen. Viele kamen in anderen Flüchtlingslagern unter, vor allem im benachbarten Beddawi-Camp.

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Erst mehrere Wochen nach dem Ende des Kriegs erlaubte die libanesische Armee den ersten Flüchtlingen, in die Außenbezirke Nahr al-Bareds, das sogenannte „neue Camp“ zurückzukehren. Die libanesische Armee hatte dort systematisch fast alle der nicht durch Beschuss und Bombardierungen unbewohnbar gemachten Häuser geplündert und angezündet. Der durch die Kriegszerstörungen unbewohnbare alte Kern Nahr al-Bareds, das „alte Camp“, blieb weiterhin durch die libanesische Armee abgeriegelt und ist bis heute für die ehemaligen BewohnerInnen nicht zugänglich. Auch das neue Camp wird von den libanesischen Sicherheitskräften kontrolliert, das Camp ist von Checkpoints umgeben und kann nur mit einer schriftlichen Erlaubnis der für den nördlichen Libanon zuständigen Armeekommandantur betreten werden.


Entwicklung hin zum Krieg


Nahr al-Bared Camp liegt im Norden Libanons, zwischen der Stadt Trablous (Tripoli) und der syrischen Grenze. Das alte Camp wird durch das Meer und einen Fluss begrenzt, welcher Nahr al-Bared („der kalte Fluss“) den Namen gibt. Um das alte Camp herum zieht sich das neue Camp. Nahr al-Bared Camp wurde 1949 gegründet, seine BewohnerInnen flohen 1948 fast alle aus Dörfern des nördlichen Palästina.
Das Camp stand bis zum Krieg 2007 wie alle Flüchtlingslager im Libanon unter Verwaltung der palästinensischen politischen Parteien und Organisationen. Die libanesische Armee betrat das Camp entsprechend des Kairo-Abkommens von 1969 nicht. Bis zum Abzug der syrischen Armee und Geheimdienste 2005 aus dem Libanon wurde das Camp von diesen stark beeinflusst, was nach ihrem Abzug zusammen mit der Schwäche und den internen Problemen der etablierten palästinensischen Parteien zu einem Machtvakuum führte, das von der Fatah al-Islam ausgenutzten wurde.
Diverse islamistische, teils von al-Qaida inspirierte sunnitische Gruppen versuchen in den letzten Jahren, sich in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon zu etablieren.
Ihre Mitglieder kommen aus vielen verschiedenen Ländern und sie sehen die Camps vermutlich als sicheren Rückzugsort und als Operations- und Trainingsbasis für in den Irak reisende Militante an. Eine weitere Interpretation ist, dass die islamistischen Gruppierungen Libanon als neues Gebiet für die Ausweitung ihres Jihad entdeckt haben.



In Nahr al-Bared wurde vor und während des Kriegs zwischen Israel und der Hizballah im Sommer 2006 die Präsenz bewaffneter nicht-palästinensischer Islamisten bemerkt. In der Folge errichtete die libanesischen Armee rund um das Camp Checkpoints. Die Islamisten konnten Nahr al-Bared trotzdem ungehindert betreten und große Mengen Waffen und Munition ins Camp bringen. Sie gaben sich zuerst als Mitglieder der palästinensischen Fatah al-Intifada aus, einer syrisch finanzierten Abspaltung der Fatah im Libanon. Im November 2006 distanzierten sie sich von Fatah al-Intifada und gaben sich den Namen Fatah al-Islam. Nach anfänglicher Uneinigkeit zwischen den Partein wurde Fatah al-Islam daraufhin vom Popular Committee, dem für politische Fragen zuständigen Komitee bestehend aus Vertretern der Parteien aufgefordert, Nahr al-Bared zu verlassen. Zu diesem Zeitpunkt war Fatah al-Islam militärisch jedoch schon zu stark und konnte nicht mehr zum Verlassen des Camps gezwungen werden.

Der Krieg selbst wurde durch einen Bankraub ausgelöst. Fatah al-Islam wurde, wie wohl die meisten islamistischen Gruppen im Libanon, von außerhalb finanziert. Im Fall der Fatah al-Islam gehen die Spekulierungen über die Geldgeber in verschiedene Richtungen: einerseits wurde Syrien genannt, andererseits die pro-westliche, von Saudi Arabien und den USA unterstützte libanesische Regierung und Sa'ad Hariri, die Interesse am Aufbau einer der schiitischen Hizballah feindlich gegenüberstehenden sunnitischen Miliz haben. Die regelmäßigen Zahlungen blieben im Mai 2007 aus, woraufhin Fatah al-Islam beschloss, sich das Geld mit Gewalt zu holen. Die libanesischen Sicherheitskräfte reagierten mit Verhaftungen und Razzien, woraufhin Fatah al-Islam einen Stützpunkt der Armee außerhalb Nahr al-Bareds angriff und mehrere Soldaten tötete. Die Armee begann daraufhin mit dem Beschuss Nahr al-Bareds.


Ökonomische Misere


Abu Khalil sitzt in seinem kleinen Schreibwarenladen an der ehemaligen Hauptstraße Nahr al-Bareds und blättert in einem Heft, in dem seine täglichen Ein- und Auskünfte notiert sind. Er beklagt das geringe Kundenvolumen und erklärt, dass vor dem Krieg nicht bloß die PalästinenserInnen aus dem Camp in seinem Laden einkauften, sondern dass damals viele LibanesInnen aus der ganzen nördlichen Region Akkar zu seiner Kundschaft zählten: „Einst hatte ich 100.000 potentielle Kunden, jetzt bloß noch jene 13.000, die wieder in Nahr al-Bared wohnen. Jetzt werde ich belagert. Die libanesische Armee sollte den Menschen erlauben, das Camp frei zu betreten und zu verlassen.“


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Das Flüchtlingslager war ein lebendiges ökonomisches Zentrum an der Hauptverkehrsachse zwischen der Stadt Trablous (Tripoli) und der syrischen Grenze. Nidal, ein führendes Mitglied einer politischen Partei im Camp erläutert, es sei bekannt gewesen, dass man in Nahr al-Bared auf Kredit einkaufen konnte. „Libanesische Läden funktionieren nicht auf diese Art. Desweiteren waren die Dinge hier billiger und die Verkäufer importierten ihre Ware direkt aus dem Ausland“, betont er. Im Unterschied zu anderen palästinensischen Camps im Libanon war Nahr al-Bared für eine lange Zeit ohne Restriktionen zugänglich. Erst einige Monate vor dem Krieg wurden um das Camps herum Checkpoints errichtet.


Politische Implikationen


Die Überzeugung, dass die Zerstörung der florierenden Ökonomie Nahr al-Bareds das Hauptziel des libanesischen Staats im Krieg gegen Fatah al-Islam war, ist unter den Flüchtlingen im Camp weit verbreitet. Nidal warnt jedoch davor, wirtschaftliche Faktoren zu überschätzen und meint: „Vielleicht stellten diese teilweise einen Antrieb für die Zerstörung dar, aber sicherlich gab es weitere wichtige Gründe: politische Gründe. Diese sind verknüpft mit dem Rückkehrrecht der Palästina-Flüchtlinge und mit dessen Gegenteil, der permanenten Ansiedlung der Flüchtlinge in Libanon.“ Er erinnert an die Worte des libanesischen Ministerpräsidenten Fouad Siniora, der im Frühling bekräftigte, Nahr al-Bared würde einst zum Vorbild für andere Flüchtlingslager im Libanon werden. „Dem libanesischen Staat bietet sich die Gelegenheit, seine Autorität auf das Camp auszuweiten“, so Siniora bei einer Pressekonferenz.



Nidal ist sich – im Gegensatz zu vielen anderen EinwohnerInnen Nahr al-Bareds – sicher, dass das Camp wieder aufgebaut werden wird. Für ihn liegt der eigentliche politische Knackpunkt anderswo: „Wer wird das künftige Camp verwalten?“, fragt er. „Das Volkskomitee von Nahr al-Bared oder die libanesischen Behörden durch die Internal Security Forces?“ Er fürchtet, die Umsetzung von Sinioras Plan werde die palästinensische Selbstverwaltung in den Flüchtlingslagern untergraben und das Camp langfristig unter libanesische Kontrolle bringen. Seit dem Kairo-Abkommen von 1969 sind die von der UNRWA anerkannten palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon unter ausschließlicher Aufsicht und Verwaltung von Komitees aus palästinensischen Organisationen und politischen Parteien. Eine Abkehr von diesem Abkommen durch die libanesische Regierung entspräche einem historisch bedeutsamen Einschnitt.

Die aktuellen Entwicklungen stützen Nidals Analyse. Am 16. Januar 2009 bewilligte das libanesische Kabinett die Pläne des Verteidigungsministeriums, an der Küste im neuen Camp Nahr al-Bareds eine Militärbasis für die libanesischen Marine zu bauen. Schon im Herbst 2007 kursierten in Nahr al-Bared Gerüchte, wonach die libanesische Armee im Camp einen neuen Marine-Stützpunkt zu errichten plane. Eine Woche nach dem Regierungsentscheid publizierten die beiden libanesischen Zeitungen as-Safir und al-Akhbar einen offenen Brief von EinwohnerInnen Nahr al-Bareds. In diesem erstaunlich deutlich und direkt gehaltenen Schreiben protestieren die Flüchtlinge gegen die Baupläne des Verteidigungsministeriums. Sie setzen diese in direkten Zusammenhang mit der Zerstörung und Plünderung des Camps und üben starke Kritik an der Regierung. Sie wenden sich in dem offenen Brief auch gegen die Absichten des libanesischen Staates, eine den ISF unterstellte „community police“ in Nahr al-Bared zu rekrutieren und einzusetzen.


Wiederaufbau


Trotz den Zusagen verantwortlicher libanesischer Politiker, das Camp wieder aufzubauen, äußern viele Flüchtlinge aus dem alten Teil Nahr al-Bareds Skepsis über deren Erfüllung. Abu Khalil beschwert sich, dass ihnen schon viele leere Versprechungen gemacht wurden: „Sie sagten, dass sie mit den Aufräumarbeiten Anfang September beginnen würden. Dann am 15. September, dann am 20. September. Nun sagen sie, man würde nach Ende des Ramadan damit beginnen. Weiß Gott, wie lange es nach dem Ramadan wieder dauern soll!“

Der ursprüngliche Plan der libanesischen Regierung und der UN-Hilfsorganisation für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) setzte den 15. August 2008 als Startdatum für den gestaffelten Wiederaufbau -Prozess fest. Allerdings tauchten bis Anfang Oktober keine Baumaschinen im alten Camp auf. Die EinwohnerInnen Nahr al-Bareds wurden Woche für Woche mit allerlei fadenscheinigen Ausreden vertröstet. Einmal hieß es, es seien noch nicht genügend Baumaschinen verfügbar, ein anderes mal sagte die Armee, man müsse den Abbrucharbeitern noch Kurse im Umgang mit Blindgängern erteilen. Am 10. Oktober schließlich – mehr als ein Jahr nach dem Ende der Kampfhandlungen im Camp – trafen die ersten Bagger ein und begannen, Schneisen für den Zugang von Lastwagen frei zu machen.

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Nach Angaben des für Libanon zuständigen UNRWA-Direktors Salvatore Lombardo gegenüber der englischsprachigen libanesischen Tageszeitung Daily Star sind 60-70 Prozent der Kosten für die Aufräumarbeiten bislang gedeckt. Andere UNRWA-Quellen sprechen von rund 50 Prozent. Von den benötigten 445 Millionen US$ für den Wiederaufbau des gesamten alten Camps sind bislang bloß rund 10 Prozent eingegangen. Allerdings, so Lombardo, sei gerade die Finanzierung des Wiederaufbaus prioritär, da dessen Verzögerung bedeute, dass mehr Geld für die Unterstützung der Flüchtlinge ausgegeben werden müsse.


Baracken vs. Luxushotel


Der eindrücklichste Fahrzeugpark Nordlibanons befindet sich gegenwärtig beim noblen Hotel Quality Inn in Trablous. Diese Luxusherberge ist gegenwärtig die Operationsbasis der UNRWA und vieler Hilfsorganisationen und NGOs, das billigste Angebot ist für knapp 90 US$ pro Nacht zu haben. Die Flüchtlinge indes residieren in anderen, weniger teuren Unterkünften. Von jenen knapp 15.000 Personen, welche mittlerweile wieder in Nahr al-Bared leben, sind mehr als 400 Familien in sogenannten „temporary shelters“, also temporären Wohneinheiten untergebracht. Was in der NGO-Sprache noch einigermaßen freundlich klingt, wird in der Umgangssprache der Flüchtlinge zu „baraksat“, also Baracken.

Gegenwärtig sind drei Barackensiedlungen, Plot 23, Plot 674 und Plot 774 bereits bewohnt. Die Betonkonstruktionen auf Plot 23 am südlichen Ende des Flüchtlingslagers wurden im Oktober 2007 von 104 Familien bezogen, da diese die staatlichen Schulen, in denen sie während des Krieges unterkamen, verlassen mussten. Anfang März 2008 wurden BewohnerInnen von diversen Schulen im Beddawi Camp in die für 220 Familien ausgelegten 300 Stahl-Container auf Plot 674 am nördlichen Rand Nahr al-Bareds verlegt. Einen Monat später, im April 2008, wurden schließlich die für 105 Familien gebauten Betonhäuser auf Plot 774 auf dem Hügel am südlichen Ende des Camps bezogen. Zwei weitere Siedlungen auf den Plots 385 und 755 sollten bis Anfang 2009 fertiggestellt sein.

Die meisten der bislang errichteten Baracken genügen mit einer Wohnfläche von rund 18 m² für maximal fünf Personen gerade noch den internationalen Minimal-Standards für „short term shelters“, welche 3.5 m² „covered floor area“ pro Person vorschreiben. Offiziell geht die UNRWA in ihren Berichten aber von der Grundannahme aus, dass die Nahr al-Bared Flüchtlinge für weitere zwei bis vier Jahre „displaced“ und dementsprechend in temporären Unterkünften wohnhaft bleiben werden. Damit ist die Wohnsituation diese Flüchtlinge also keineswegs als kurzfristiges Phänomen zu betrachten, sondern als relativ dauerhaftes. Bezüglich der Barackensiedlung auf Plot 674, welche allgemein als die Übelste von allen klassifiziert wird, anerkannte die UNRWA immerhin deren Mängel und versprach Verbesserungen.

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Rund die Hälfte der 5449 registrierten Familien aus Nahr al-Bared Camp, die im Flüchtlingslager selbst, in oder beim nahen Beddawi Camp oder andernorts in Mietwohnungen oder Garagen leben, nehmen Mietzuschüsse in Anspruch. Bis Ende Oktober erhielten die betroffenen Familien pauschal 200 US$ monatlich. Wegen der kläglichen Spendenfreudigkeit der Geberstaaten, so die Begründung der UNRWA, wurde der Betrag ab Anfang November auf 150 US$ pro Familie gekürzt.

Entsprechend der miserablen Wohnsituation und den Verzögerungen beim Wiederaufbau verlieren viele Flüchtlinge zunehmend ihre Geduld. Ein Bewohner eines Containers auf Plot 674 ärgert sich über seinen Wohncontainer und sagt: „Sie haben uns bloß hierher gebracht um uns ruhig zu stellen. Deshalb gibt es die Baracken und die Lebensmittel-Pakete. Aber wir bestehen darauf, sobald wie möglich ins alte Camp zurückzukehren.“
Der Zusammenhang zwischer humanitärer Hilfe und politischer Passivität wird von vielen BewohnerInnen Nahr al-Bared betont. Eine junge Frau spricht die interne Vetternwirtschaft und Korruption an, welche sich aufgrund der Invasion durch die Hilfsorganisationen massiv verschärft hat und alte Gräben wieder aufbrechen ließ: „Sie stehlen mehr als sie dir geben, wirklich!“ Sie bezeichnet die Hilfspakete als „Schmerzmittel, damit die Leute den Mund halten.“ Ein junger Sozialarbeiter beschreibt das gegenwärtige System folgendermaßen: „Wir geben dir Essen und Trinken, aber schweige. Wir geben dir Geld, aber schweige.“ Er fügt an, dass die Flüchtlinge aufgrund ihrer desolaten Lage das Schweigen vorzögen.


Politischer Aktivismus


Protest äußerst sich in Nahr al-Bared momentan meist auf individueller Basis. Auf kollektiver Ebene beschränkt er vor allem auf Kundgebungen vor der Baracke des zuständigen UNRWA-Koordinators. Thema dabei sind weniger die Rückkehr ins alte Camp oder das Verhalten der libanesischen Armee, sondern Mängel in der humanitären Hilfe. Die tiefe Frustration vieler Leute entlädt sich punktuell. Am 1. Oktober 2008 zum Beispiel, am ersten Feiertag zu Ramadan-Ende, durchbrachen hunderte PalästinenserInnen einen Armee-Checkpoint um die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen zu besuchen. Die libanesische Armee plante, die Leute bloß in kleinen Gruppen und nach rigoroser Kontrolle in den arg beschädigten alten Friedhof am südlichen Ende des alten Camps einzulassen. Die Flüchtlinge jedoch begannen die Soldaten zu beschimpfen und bahnten sich schließlich ihren Weg.

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EinwohnerInnen Nahr al-Bareds sprechen bereits jetzt bloß mit einer gewissen Vorsicht über politische Themen oder Entwicklungen im Camp. Viele fürchten sich vor den Spionen und Kollaborateuren, die für die libanesischen Geheimdienste arbeiten. Deren zunehmende Rekrutierung führt zu Uneinigkeit und gegenseitigem Misstrauen im Camp. In manchen Fällen wurden Bezíehungen zum Geheimdienst als Druckmittel in internen Konflikten verwendet. Das Prinzip „Teile und herrsche“ findet also auch in Nahr al-Bared Anwendung. Es scheint, als ob die Solidarität zwischen den EinwohnerInnen des Camps von Anfang an durch verschiedene geheimdienstliche Methoden untergraben werden soll. Nicht zuletzt kann so natürlich auch kollektiver politischer Arbeit der Flüchtlinge vorgebeugt werden. Dies mit gutem Grund, denn es gibt viele Bereiche, in welchen politische Betätigung und Aktivismus dringend notwendig wären.


Zahlreiche offene Fragen


Die vollständige Zerstörung des Flüchtlingslagers und die anschließende systematische Plünderung und Brandstiftung durch die libanesische Armee werden weder von libanesischen Medien oder NGOs noch von den betroffenen Flüchtlingen öffentlich thematisiert. Auch die andauernde Inhaftierung und die Haftbedingungen Dutzender PalästinenserInnen aus Nahr al-Bared sind kein Thema. Bis jetzt hat niemand die Verantwortung für die Plünderung und Brandstiftung übernommen. Weder die libanesische Regierung noch deren Armee haben erklärt, wieso wegen ein paar Hundert Militanten von Fatah al-Islam ein Flüchtlingslager mit mehr als 30.000 EinwohnerInnen völlig zerstört wurde. Nach wie vor fehlt es an einer glaubhaften Begründung für die andauernde Besetzung des Flüchtlingslagers durch die Armee und die völlige Abriegelung des alten Camps.

Es bleibt auch unklar, wer Fatah al-Islam finanziert und bewaffnet hat. Vom syrischen Staatsfernsehen im November 2008 ausgestrahlte „Geständnisse“ von inhaftierten, angeblich der Fatah al-Islam zugehörigen Kämpfern legen nahe, dass das Future Movement des libanesischen Mehrheitsführers Hariri die Gruppe finanziert hat ( 1 | 2 | 3 ). Die Angeschuldigten ihrerseits ließen durch ihre Zeitung al-Mustaqbal umgehend verlauten, der syrische Geheimdienst hätte Fatah al-Islam kreiert, bewaffnet und trainiert. Beide Quellen sind in ihrer Beweisführung alles andere als glaubwürdig, doch würde es nicht überraschen, wenn entweder Hariris Bande oder der syrische Geheimdienst hinter Fatah al-Islam stecken würde.

Die Klärung genannter Fragen könnte über die politischen Hintergründe und Auswirkungen der Zerstörung des Camps Aufschluss geben und Indizien dafür liefern, wie der libanesische Staat mit den restlichen 400.000 palästinensischen Flüchtlingen im Land in Zukunft umzugehen plant. Doch es scheint nicht, dass die libanesische Regierung, die Armee oder einzelne Parteien Interesse an einer Aufklärung der Geschehnisse haben.

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Offener Brief


Offener Brief von EinwohnerInnen Nahr al-Bareds, veröffentlicht am 23.Januar 2009


Ehrenwerter Ministerpräsident Fuad Siniora,
Ehrenwerte Minister,

Wir, die Bevölkerung Nahr al-Bareds, wollen unseren Protest gegen den Entscheid des Ministerrats vom 16. Januar 2009 zum Ausdruck bringen, in welchem der Bau einer Marinebasis am Strand Nahr al-Bareds beschlossen wurde. Wir protestieren auch gegen die frühere Entscheidung zum Bau einer Militärbasis in der Nähe des Camps.

Ist euch nicht bekannt, dass das Gebiet, in welchem die Militärbasis gebaut werden soll, nahe an den Gundschulen und weiterführenden Schulen der UNRWA liegt? Und dass dieses Stück Land Wohngebiet ist und dort früher ein Fußballplatz war, dass es der einzige Platz im Camp und der Umgebung war, wo Leute Sport treiben konnten und dass das Gebiet dicht besiedelt ist?

Wisst ihr auch nicht, dass auf dem für die Marinebasis vorgesehenen Stück Land zwei Säle für Hochzeiten standen, welche durch den Krieg zwischen der Armee und Fatah al-Islam zerstört wurden? Und dass diese viel bedeuteten, nicht nur für EinwohnerInnen Nahr al-Bareds, sondern auch für unsere Nachbarn aus Muhammara, Bhannin, al-Abdi und der Akkar-Ebene? Diese Hochzeitssäle waren wichtige Orte und Symbole des Zusammenlebens zwischen uns und unseren Nachbarn.

Könnt ihr uns erklären, warum wir nach der Zerstörung unserer Häuser und dem Verlust unseres Eigentums in einem Krieg, mit dem wir nichts zu tun hatten, mit einer Militärbasis belohnt werden?

Ist es das Ziel des Wiederaufbaus des Camps, einen Ort des Feierns, der Freude und des würdigens Lebens gegen Marine- und Militärbasen zu tauschen?

Könnt ihr uns, den Bewohnern des zerstörten Nahr al-Bared Camps, erklären, warum unsere Rückkehr in das Camp auf bestimmte Gebiete beschränkt und nur mit Autorisierung durch die libanesische Armee möglich ist? Und warum wir das, was von unseren Häusern und unserem Eigentum übrig blieb, zerstört, geplündert und angezündet vorfanden?

Trotz all den leeren Versprechen über die Rückkehr des Gesetzes nach Nahr al-Bared sehen wir nicht, dass die Militärs, welche zur Zeit der Plünderung und Brandstiftungen das Camp kontrollierten, angeklagt oder zur Rechenschaft gezogen werden. Sicherheit wurde und wird nicht durch die beiden Militärbasen und durch Büros der Armee und der ISF (Internal Security Forces) erreicht, in Abwesenheit von Transparenz und Respekt vor den Gesetzen und den Rechten der Bevölkerung.

Während und nach des Kriegs habt ihr verlangt, dass wir Verantwortung übernehmen und unseren Teil beitragen. Wir haben unsere Häuser verlassen, damit die Armee ihre Pflicht tun konnte. Jetzt fragen wir uns, wieso unser Camp durch Mauern aus Beton und Stacheldraht eingegegrenzt ist? Wieso können wir das Camp nur durch Checkpoints und mit Erlaubnis des libanesischen Armeegeheimdienstes betreten oder verlassen? Und wieso dürfen die Medien das Camp nicht betreten?

Minister und Ministerpräsident, wisst ihr nicht, dass durch die Einkesselung der größte Teil unserer Wirtschaft zum Erliegen gekommen ist? Und dass die Beziehungen und Kontakte zu unseren libanesischen Nachbarn, die als Beispiel für gutes Zusammenleben galten, zerstört wurden? Käufer und Verkäufer aus der libanesischen Nachbarschaft kommen wegen der Erniedrigungen und den langen Wartezeiten an den Checkpoints und in den Büros der Geheimdienste, wo sie die Erlaubnisse beantragen müssen, kaum noch ins Camp. Die ohnehin schwache wirtschaftliche Hilfe der Geberländern ist nutzlos, da fast das gesamte wirtschaftliche Leben durch komplizierte Sicherheitsmaßnahmen gelähmt wird.

Minister und Ministerpräsident, wisst ihr nicht, dass es auch 17 Monate nach dem Ende des Kriegs immer noch keinen Plan und keine Anstrengungen für den Wiederaufbau der 300 zerstörten Gebäude im „neuen Camp“ gibt, was an den ungerechten Gesetzen liegt, welche es Palästinenser verbietet, Land oder Gebäude zu besitzen? Und wisst ihr nicht, dass wir bis heute nicht in unsere Häuser am Rand des „alten Camps“ zurückkehren dürfen?

Wir, die Bewohner des zerstörten Nahr al-Bared Camps, möchten auch ausdrücklich gegen das Projekt der libanesischen Regierung protestieren, dass für 5 Millionen Dollar im Rahmen des Wiederaufbaus eine den ISF unterstellte „Gemeindepolizei“ gebildet werden soll. Dies wurde ohne unser Einverständnis geplant und entschieden, was den Vereinbarungen der Konferenz in Wien widerspricht.

Herr Ministerpräsident, Minister, ihr seid gegen die Blockade und gegen den Krieg in Gaza. Wieso unterstützen sie nicht das selbe Volk im Libanon, in dem ihr uns ein würdiges Leben ohne militärische Einschränkungen ermöglicht und das Recht auf Arbeit, auf Eigentum und auf Vererbung von Vermögen zugesteht?

Wir nahmen an, wir seien Partner und weigerten uns, an Verschwörungstheorien zu glauben, wonach das Camp zerstört wurde, um eine Militär- und Marinebasis zu bauen. Aber uns bleibt im Moment nichts anderes, als die inhumane und entwürdigende Realität unseres täglichen Lebens festzustellen.

Nachdem wir euch unsere Situation erklärt und euch über die untragbare Realität informiert haben, gehen wir jetzt davon aus, dass ihr unsere Lage kennt.

Deswegen erwarten wir von euch, dass ihr die Situation des Camps überdenkt, dass ihr die Militärpräsenz abzieht, die Stacheldrähte und Checkpoints entfernt und das Erlaubnissystem für uns und unsere Nachbarn abschafft. Wir erwarten, dass ihr uns die Rückkehr zu einem normalen, zivilen Leben ermöglichen werdet.

Wir bitten euch, alle seit Kriegsende getroffenen Entscheidungen betreffend Nahr al-Bared und der palästinensischen Bevölkerung zu überdenken. Wir verlangen höflich, dass die beiden Militärbasen weit weg von palästinensischen und libanesischen Schulen und Wohngebieten gebaut werden.

EinwohnerInnen des Flüchtlingslagers Nahr al-Bared



Ergænzungen

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Nur eine Woche nachdem sich EinwohnerInnen Nahr al-Bareds mit ihrem Protestbrief an die Öffentlichkeit und die libanesische Regierung wandte, erreichte auch den Botschafter des Libanesisch-Palästinensischen Dialogkommittes (LPDC), Khalil Makkawi unerfreuliche Post. Rund zwei Dutzend lokale und internationale Hilfsorganisationen, die im Wiederaufbau Nahr al-Bareds und in der Versorgung der Flüchtlinge betätigt sind, weisen Makkawi in einem Brief darauf hin, dass sie zunehmend Probleme hätten, überhaupt ins Camp hineinzugelangen. In der Tat haben seit Mitte Dezember zahlreiche MitarbeiterInnen von NGO's ihre Bewilligungen entweder gar nicht oder nur mit massiver Verspätung erhalten. Die Organisationen fordern daher vom LPDC die Offenlegung der neuen Prozeduren für den Zugang zu Nahr al-Bared, eine Erklärung für die Änderungen und Informationen darüber, ob das LPDC Interesse daran bekunde, mit den NGO's über einen Abbau der Einlassrestriktionen zu verhandeln. Immerhin kommen die NGO's am Ende des Briefes auf die generelle Abschottung des Camps und die damit einhergehenden "signifikanten Hindernisse" für die EinwohnerInnen zu sprechen: "Der beste Weg, um eine schnelle und stabile ökonomische Erholung für die palästinensische Bevölkerung und auch die umliegenden libanesischen Gemeinden zu gewährleisten, führt über die Gewährung eines normalen Wirtschaftsflusses, die Bewegungsfreiheit von EinwohnerInnen und (palästinensischen wie libanesischen) BesucherInnen sowie über den bedingungslosen Zugang für die Angestellten aller humanitären Organisationen (...)." Unterzeichnet wurde der Klagebrief auch von namhaften Organisationen wie Premiere Urgence oder den libanesischen Sektionen von Islamic Relief und World Vision.

Woher stammen die Bilder? Ohne Hinweis könnte man meinen, sie stammen aus Gaza. Da hats gut eingeschlagen, aber Israel wars diesmal nicht, deswegen gab s auch keinen Zwergenaufstand der arabischen Community. Und von den Linken hat sich keiner groß betrofren gefühlt, da muß schon Israel wieder zuschlagen.