Die notwendige Hilflosigkeit der Demokrat_innen

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Der folgende Text wurde bei der Antifa-Demo "Was Zuviel ist, ist Zuviel!" (Bericht: http://de.indymedia.org/2012/03/325786.shtml) in Form eines Redebeitrags gehalten. Wir publizieren ihn auf Indymedia, um ihn einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und ihn in Zusammenhang mit anderen Veröffentlichungen von uns zu stellen.

 

Neun Morde aus rassistischen Motiven und ein Mord an einer Polizistin – das ist die Bilanz der bewaffneten Neonazi-Gruppierung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Unsere Solidarität gilt den Opfern und ihren Angehörigen, unser Hass den unmittelbaren TäterInnen, sowie den neonazistischen Strukturen dieses Landes, die diese logistisch, finanziell und ideologisch unterstützten.

 

Auch diejenigen, die in den letzten Jahren mittels rassistisch motivierter Verdächtigungen die Angehörigen der NSU-Opfer zu Täter_innen machten, zeigen sich nun entsetzt über die „Schande für Deutschland“, die Angela Merkel in der Mordserie des NSU sieht. Was bereits im staatlichen Umgang mit den rassistischen Pogromen der 90er Jahre zu beobachten war, nämlich dass Rassismus ausschließlich dann verurteilt wird, wenn das Image Deutschlands als geläuterter, weltoffener Nation gefährdet ist, tritt auch 2012 wieder zutage. Dass das Entsetzen über den Rassismus deutscher Neonazis gerade von Politiker_innen kommt, die zuletzt unter dem Stichwort „Integrationsdebatte“ den als „Migrant_innen“ Stigmatisierten vorschreiben wollten, wie sich echte Deutsche zu benehmen haben, ist an Heuchelei nicht zu überbieten.

 

Neonazis fallen nicht vom Himmel, sie sind – wie alle anderen Menschen auch – Produkte der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie sozialisiert werden. Das notwendige Unvermögen der demokratischen Öffentlichkeit, das Wesen der faschistischen Gewalt zu begreifen, resultiert aus dem ihr immanenten Zwang, sich positiv auf die bestehende Ordnung zu beziehen. Der Zusammenhang von kapitalistischer Gesellschaft und faschistischer Ideologie kann von den Fürsprecher_innen der herrschenden Verhältnisse nicht einmal gedacht, geschweige denn verstanden werden: schlicht weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

 

Es ist kein Zufall, dass ausschließlich die kapitalistische Gesellschaft zu jeder Zeit ihrer Existenz faschistische Ideologie hervorgebracht hat. Die im Kapitalismus systematisch zu reinen Subjekten der Konkurrenz vereinzelten Individuen, tendieren auf individualpsychologischer Ebene zu Ideologien kollektiver Identität. Als mentalem Ausgleich zu einem gesellschaftlichen Alltag, in dem jede_r auf sich allein gestellt ist, sucht sich das moderne Individuum einerseits Autoritäten, andererseits möglichst starke Kollektive; beides um ein gewisses Maß an Sicherheit und Halt in einer ihm feindlich gesinnten Umwelt zu erheischen. Rassismus und Nationalismus erweisen sich somit ebenso wie die Gewalttaten deutscher Neonazis als reaktionärer Kompensationsversuch der bürgerlichen Ohnmacht, die das Elend der Welt, ebenso wie das eigene Unglück in dieser zwar sehen und im Regelfall auch angemessen bewerten kann, als „Privatperson“ allerdings über keine Mittel verfügt, diesen Zustand tatsächlich zu verändern.

 

Die sich verschärfenden materiellen Auseinandersetzungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft lassen uns die Prognose wagen, dass Rassismus und Nationalismus mittelfristig nichts an ihrer aktuellen Aggressivität verlieren werden. Umso wichtiger wird eine konsequent antifaschistische Linke, die alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzt, nicht nur um neonazistische Aktivitäten weitestgehend einzuschränken, sondern auch um der kapitalistischen Gesellschaft und ihren Akteuren den Spiegel der eigenen Verantwortung für Neonazi-Morde und rassistische Übergriffe vorzuhalten. Nur wenn die Vernunft auch gesamtgesellschaftlich siegt, werden Neonazis und ihre Gewalttaten endlich der Vergangenheit angehören. Einer, wie man sich dann erinnern wird, von brutalen materiellen und ideologischen Auseinandersetzungen geprägten, dunklen Vergangenheit.

 

 

/// Siehe auch:

 

Staat und Nazis Hand in Hand? Über Neonazi-Gewalt und ihre gesellschaftlichen Ursachen:

http://ajak.blogsport.eu/2011/12/21/staat-und-nazis-hand-in-hand/

 

Auf dem rechten Auge blind. Interview mit der Internetplattform "Du hast die Macht!":

http://www.duhastdiemacht.de/themen/498-auf-dem-rechten-auge-blind

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Beim lesen eures Textes sind mir einige Punkte aufgefallen, die ich nun folgend kurz benennen will:

 

Neonazis fallen nicht vom Himmel, sie sind – wie alle anderen Menschen auch – Produkte der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie sozialisiert werden.

Mal davon abgesehen, dass man sich mit diesem Satz die Welt zu einfach macht und dass dieser Satz im allerbesten Falle als Vulgärmarxismus bezeichnet werden kann, möchte ich an dieser Stelle ausführen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse insbesondere aus der Art und Weise der ökonomischen materiellen Produktion resultieren. Wenn das selbstverständlich nicht die einzige "Komponente" ist, so ist sie dennoch die wichtigste.

 

Es ist kein Zufall, dass ausschließlich die kapitalistische Gesellschaft zu jeder Zeit ihrer Existenz faschistische Ideologie hervorgebracht hat. Die im Kapitalismus systematisch zu reinen Subjekten der Konkurrenz vereinzelten Individuen, tendieren auf individualpsychologischer Ebene zu Ideologien kollektiver Identität. Als mentalem Ausgleich zu einem gesellschaftlichen Alltag, in dem jede_r auf sich allein gestellt ist, sucht sich das moderne Individuum einerseits Autoritäten, andererseits möglichst starke Kollektive; beides um ein gewisses Maß an Sicherheit und Halt in einer ihm feindlich gesinnten Umwelt zu erheischen. Rassismus und Nationalismus erweisen sich somit ebenso wie die Gewalttaten deutscher Neonazis als reaktionärer Kompensationsversuch der bürgerlichen Ohnmacht, die das Elend der Welt, ebenso wie das eigene Unglück in dieser zwar sehen und im Regelfall auch angemessen bewerten kann, als „Privatperson“ allerdings über keine Mittel verfügt, diesen Zustand tatsächlich zu verändern.

Und diesen Absatz finde ich grauenhaft unwissenschaftlich und ungenau. Ja, es ist richtig, dass der Faschismus bisher nur im Kapitalismus aufgetreten ist und innerhalb dieses Systems, allerdings behandelt ihr in dem Absatz die wesentlichste Frage, die ihr anscheinend nicht verstanden habt, nicht: Was ist der Faschismus?

Und dabei ist es definitiv zu kurz gedacht, alles auf eine "individualpsychologische Ebene" runterzubrechen und ein paar reaktionäre Ideologien (Rassismus, Nationalismus usw.) und deren Funktionsweise aufzuzählen. In der Hinsicht solltet ihr nicht so viel Adorno lesen, sondern eher mal relevante Geschichts- und Faschismusforscher, die auch auf dem linken bzw. marxistischen Bereich anerkannt sind, wie z.B. Pätzold, Kühnl, aber auch z.B. Dimitroff

 

Ein paar Fragen, die die VerfasserInnen ja mal behandeln können:

- Wann und wo und unter welchen Umständen gab es den Faschismus an der Macht?

- Was hatten die Machtsysteme gemeinsam und was sind gemeinsame Wesensmerkmale?

- Was hat das ganze mit der Ökonomie, dem Kapitalismus, zu tun?

- Wer profitierte überwiegend von faschistischen Systemen und wer pushte die faschistischen Bewegungen in die Staatsspitzen?

- Welche Klassen(-fraktionen) haben bzw. hatten in welcher Situation ein Interesse an einem faschistischen System?

 

Wenn ihr diese Fragen z.B. einmal geklärt habt, dann werdet ihr mit sicherheit nicht mehr mit eurer "individualpsychologischen ebene" als erklärung für alles daherkommen, sowas ist peinlich hoch zehn und alles andere als eine wissenschaftliche vorgehensweise. Es gibt viel zu viele sog. Antifa-Gruppen, die noch nichtmal verstanden haben, was der Faschismus überhaupt ist. Auch wenn das eine sehr komplexe und schwierige Frage ist, so kann man sich dennoch bemühen, diese Frage wenigstens versuchen zu beantworten auf eine einigermaßen geschichtlich und marxistische Art und Weise. Mehr als ein verkümmerter Ansatz ist bei diesem Text meiner Meinung nach nciht vorhanden.

Das Problem an der Sache ist nämlich: Hat man das Wesen des Faschismus (als Ideologie, als Bewegung und an der Macht) nicht versucht zu erforschen und es zu verstehen, so ist es auch nicht möglich, wirklich nachhaltige und effiziente Antifa-Arbeit auf mittlere und lange Sicht zu betreiben.

Dass die Aufgabe beim Thema ANTIfaschismus lautet, den Feind mit seiner Theorie und Praxis zu analysieren und dann gezielt und organisiert zu bekämpfen, sollte sich mal etwas mehr verbreiten. Dabei kommt man halt um die Frage nach dem Faschismus nicht umhin.

 

Wenn die VerfasserInnen das kapiert hätten, würden sie nicht sowas schreiben:

Nur wenn die Vernunft auch gesamtgesellschaftlich siegt, werden Neonazis und ihre Gewalttaten endlich der Vergangenheit angehören.

Anstatt einfach zu sagen, dass erst mit der Überwindung des bürgerlich kapitalistischen Systems der Faschismus unmöglich gemacht werden wird.

Das zeigt mir wiederum, dass (mal wieder) keine durchdachte und wissenschaftliche Faschismusanalyse zu Grunde liegt oder die VerfasserInnen einfach unfähig sind, das Kind beim Namen zu nennen. Schade.

 

Noch etwas fällt mir auf: Was hat eigentlich die Überschrift mit eurem Text zu tun?

Vielleicht solltet ihr euch mal nach der Faschismusfrage einfach mal mit der Demokratie-Frage beschäftigen

Noch viel peinlicher finde ich es, der Jugend "Unwissenschaftlichkeit" vorzuwerfen.

 

Die wissenschaftliche Autorität welche vorausgesetzt wird zu akzeptieren und ihr in vorauseilendem Gehorsam dienlich zu sein als anhand es Verlaufes den Geschichte bislang nahm ebenso als zu kurz gegriffen zu begreifen ist doch erstmal ein Näherliegendes. Mag es auch richtig sein Fragen aufzuwerfen, so ist es falsch den Verfasser_Innen Unfähigkeit zu attestieren und ihnen ein vermeintlich selstverständliches Verständnis von marxistischen Zusammenhängen anzukreiden. Meine Empfehlung wäre eher mehr Punkmusik zu hören als weniger Adorno zu lesen, aber wenn ich lese "Wenn ihr ersteinmal ..." (genauso szene-verbiedert und rechthaberisch geworden seid wie die Nieschen-Platzhirsche??), dann fällt es einem eher schwer nicht zu lachen als sich inhaltlich "kritisieren" zu lassen. Die Zeichensetzung (Kommatar) ist fragwürdig, mag sein, aber "Unwissenschaftlichkeit"? Das kann die Jugend ruhig geflissentlich als Klugscheißerei ignorieren. Dahinter steckt nur bloß der Neid auf die Unverbrauchtheit des freien Geistes, der Wille zur Indoktrination.

Abgesehen von dem absurden Vorwurf, der Redebeitrag würde das Wesen des Faschismus (als Ideologie und als Bewegung und an der Macht) nicht ausreichend erklären, was von AJAK vmtl. schon in Anbetracht des begrenzten Umfangs eines Redebeitrags gar nicht abschließend beabsichtigt war, spricht der Kommentar vom 07.03.2012 - 01:57 eher für den Text.

 

Dass Antifa-Gruppen versuchen, gegen das leninistische Faschismusverständnis à la Dimitroff (dessen Unzulänglichkeit sich nicht zuletzt historisch erwiesen hat) sozialpsychologische Erklärungsansätze für Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu finden, stimmt positiv.

 

Thumbs up!

Demokratie ist die Antwort. Auch wenn eine andere als die parlamentarische herrschen sollte.

Auch die Rechten machen Demokraten für alles verantwortlich. Die Linken sollten nicht das selbe tun. Es gibt nichts fataleres als eine Diktatur. Es gibt keine gute Diktatur, es gibt nichts richtiges im Falschen.

 

mit roten, demokratischen Gruss

Der Demokratie-Begriff wie er im Text gebraucht wird, bezeichnet ausschließlich die Staatsform "Demokratie" (ob "parlamentarisch" oder "repräsentativ" ist da zweitrangig). Basisdemokratische Systeme (bspw. Räte-Systeme) sind da denke ich nicht gemeint.

Das hoffe ich auch. Demokratie ist ein Muss, sowohl im Sozialismus/Kommunismus und auch in die Anarchie. Solche ungenauen Formulierungen sind zu vermeiden, sie fördern, auch wenn es weit entfernt liegt, Vorurteile uns als Antidemokraten zu bezeichen. Die Überschrift könnte auch in jeder rechten Hetzschrift stehen. Also in Zukunft genauer ausdrücken ;)