„Uff de’ schwäb’sche Eisebahne…“

Erstveröffentlicht: 
19.01.2011

Die Proteste gegen Stuttgart 21 als Spielwiese der Gegensouveränität


In Stuttgart wird ein Bahnhof gebaut. Der schäbige, alte Kopfbahnhof, der die Durchreisenden dazu zwang, länger als eigentlich nötig in der Spießermetropole Nummer 1 zu verweilen und kostbare Lebenszeit für mehr als einen Blick auf ein trostloses Beispiel antimoderner Architektur zu opfern, wird endlich abgerissen. Doch was machen die Schwaben und ihr möchtegernschwäbischer Anhang? Sie protestieren dagegen. Nicht, dass ihnen ihre Stadt so gut gefällt ist der Grund dafür, dass sie völlig aus dem Häuschen sind, wenn endlich mal jemand städtebauliche Maßnahmen ergreift, denn man sieht diesen verzückt dreinschauenden Gesichtern auch aus größter Entfernung noch die erbärmlich bornierte Existenz an, die sie hochtrabend „Leben“ nennen. Nein, im Zentrum der aufwallenden Heimatliebe steht die Gemeinschaft, die verkorkste, weil wahnhaft-projektive Version gesellschaftlichen Miteinanders, das die Kleinbürger und Laubenpieper nur in der Form zweckfreier Konkurrenz ihrer Schützenvereine kennen. Niemand glaube, diesen Frührentnern und Spätpubertierenden ginge es auch nur irgend um ihr eigenes Wohl oder das ihrer Mitmenschen. Allzu tief sitzt die quasi angeborene Neidbeißerei, der Hass auf den Konkurrenten, das Ressentiment gegen den, der das Bessere will. Der „soziale Protest“, der momentan zu beobachten ist, hat rein gar nichts mit einer rational nachvollziehbaren Kritik zu tun, sondern ist die bloß quantitative Ausweitung des dauernden Nörgelns der Fahrradväter, Hausfrauen und ihrer leider gar nicht so politikverdrossenen Kinder, die ihr eigenes Unvermögen auf die scheinbar feindselige Außenwelt projizieren. Sie sehnen sich nach einer Gemeinschaft, innerhalb derer die Konkurrenz still gestellt ist, weil sie sich umso aggressiver nach außen, gegen den gemeinsamen Feind richten kann. Die Demonstrationen sind, entgegen der begeisterten Interpretation der Linken, eine schlechte Überwindung des drögen Alltags, die pathologische Aktualisierung des kindlichen Dranges, endlich einmal mitspielen zu dürfen. Was da „verhindert“ werden soll, ist jede nur denkbare Veränderung der provinziellen Tristesse, weil man zwar unzufrieden ist, das aber immer noch besser findet als die Nötigung, sich ständig entscheiden zu müssen. Alles soll seinen gewohnten Gang gehen, nur bitteschön ohne die „Bonzen aus Berlin“, die „Heuschrecken“ und anderes Ungeziefer [1], deren durch Profitmaximierung motivierte Unternehmungen den scheinbar herrschenden „sozialen Frieden“ nebenbei auf ein höheres, zivilisierteres Niveau heben könnte, sodass die Gesellschaft an die Stelle der Gemeinschaft träte.

Gegen die Herrschaft des Mobs

Nicht eine einzige Person wird durch den Bau des neuen Bahnhofes absichtlich verletzt werden, keiner wird deshalb verhungern oder erfrieren (im Gegenteil), und niemand droht darum die Abschiebung oder Verhaftung. Und doch behaupten die Protestierenden, es gehe um nichts weniger als um die „Zerstörung der Stadt“ (www.kopfbahnhof-21.de). Wo der wahnwitzige Kult um die Heimat so stark ist, dass jede Veränderung, ja sogar jede Verschönerung zur „Zerstörung“ erklärt wird, während man sich um die physisch und psychisch durch den Gang der kapitalistischen Logik Zerstörten, die auch in Stuttgart allgegenwärtig sind, nicht im Geringsten schert, da ist „sozialer Protest“ nur ein anderes Wort für irregewordene Raserei. Der Bahnhof wird zur heiligen Stätte, die Steine selbst zum Symbol des Widerstands gegen ein fetischisiertes Abbild des Kapitalismus, der alles niederreiße und nichts als neue Wunden hinterlasse, die nie wieder verheilten.

Gegen diesen „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) der Banken und Konzerne helfe nur die geballte Wut des Volkes, ein Aufstand der Anständigen, die sich nicht mehr durch das korrumpierte Staatspersonal repräsentiert fühlen. Die in der Form Demokratie als Tendenz angelegte Herrschaft des Mobs wird in Stuttgart als wirksame Arznei gegen volks- und umweltschädliche Potentaten empfohlen. Die Zauberformel der Stunde heißt, in Ermangelung eines Volkstribuns Hitlerschen Typus, mit dem sich die Massen fraglos identifizieren könnten, „Volksbefragung“. [2] Die Ausschaltung des Parlaments und des rationalen, weil kalkulierbaren Rechts zugunsten der obskuren und willkürlichen Beschlüsse eines sich ebenso spontan wie vorhersehbar bildenden Plebiszits der Öko-, Friedens- und Sozialaktivisten läuft auf nichts weniger als eine postmoderne Version der Volksgemeinschaft hinaus. Die Geister, welche durch die von den Politologen geforderte „Demokratisierung“ hervorgerufen wurden, tauchen nun an den verschiedensten Stellen auf. Immer öfter wird in letzter Zeit gefordert, dass „Konsequenzen“ gezogen werden müssten. So wurde in Duisburg versucht, den Oberbürgermeister aus dem Amt zu entfernen, und in Baden-Württemberg, die Wahl vorzuziehen, um den Ministerpräsidenten loszuwerden. Auch der Protest gegen S21 ist nicht ohne Vorläufer, allein in München sind die Bewegungen gegen den Transrapid, gegen eine Trambahn im Englischen Garten und gegen Hochhäuser in der Innenstadt zu nennen – und sie alle haben sich durchgesetzt. Dabei fällt auf, dass gerade diejenigen Projekte, die auch in einer zukünftigen freien Gesellschaft noch nützlich wären, am härtesten bekämpft werden. Der Protest gegen S21 und der Hass auf das Großprojekt „befreite Gesellschaft“ gehören zusammen, weil beiden – dem einen im beschränkten Rahmen instrumenteller Vernunft, dem anderen in Form der Abschaffung existentieller Sorgen – Rationalität eignet. So sehr der Zukunftsbahnhof in Stuttgart gebaut wird, weil Kapital und Staat sich dadurch eine Steigerung der Profitrate versprechen, so sehr handelt es sich doch um ein durchaus brauchbares und, nicht zu vergessen, ästhetisch ansehnliches Bauwerk, das gefälligst allen zugänglich gemacht werden sollte, die in der auf Warentausch basierenden Gesellschaft mangels Geld noch weitgehend von seiner Nutzung ausgeschlossen wären. Mobilität ist, anders als hässliche und schlechte Bahnhöfe, ein Wert für sich, der nicht nur verteidigt, sondern ausgedehnt und verallgemeinert werden muss. Ohne Mobilität keine Weltgesellschaft – so einfach ist das.

Die Zwickmühle – ein paar Ratschläge für’s Kapital

Angesichts des Stuttgarter Szenarios ist der bürgerliche Staat in eine Zwickmühle geraten, denn einerseits stützt er seine Legitimität auf die Fiktion der „Volkssouveränität“, nach der das Regierungspersonal nur den Volkswillen repräsentiert, andererseits aber widerspräche es jeder volkswirtschaftlichen Logik, das Projekt Stuttgart 21 nur wegen ein paar hunderttausend Protestierenden abzublasen. Doch gerade wenn die Interessen des bourgeois (Bahnchef Grube) und die Sehnsüchte der citoyens (die Protestbewegung) auseinander zu fallen drohen, ist der Staat als ideeller Gesamtkapitalist gefragt. Sogar Lenin wusste, dass die Existenzgrundlage des Staates der soziale Widerspruch und seine Aufgabe die Befriedung dieser Widersprüche ist. Der Staat steht damit, anders als Lenin glaubte, über Kapital und Arbeit, bourgeois und citoyen, Grube und Schwabe gleichermaßen. Seine Aufgabe ist es, die verfeindeten Parteien zu einem „sozialverträglichen“ Kompromiss zu bringen. Weil das „Volk“ eine vom Staat zur Geltung gebrachte Abstraktion ist, insofern nur diejenigen Willensbekundungen akzeptiert werden, die der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung nützen, ist es äußerst ärgerlich, wenn eine nicht zu ignorierende Masse von Staatsbürgern eine Forderung stellt, die dem Sinn der Demokratie – die möglichst reibungslose Mehrwertakkumulation – entgegensteht. Dann muss „integriert“ und „versöhnt“ werden. Dafür hat der Staat, der ja selber eine mit Gewaltmitteln ausgestattete Realabstraktion ist, Heiner Geißler und die Grünen. Ein „Widerstand“, der auf die Ausschaltung der parlamentarischen Ordnung zielt, passt auch ihnen nicht, schließlich ist deren Funktionieren ihr Lebenselixier. Daher dürfte es die richtige Strategie für das Kapital sein, auf die Grünen zu setzen und zu hoffen, dass es ihnen gelingt, nach außen durch die üblichen Maßnahmen (Holz aus heimischer Wirtschaft, Aufforstung, Nachhaltigkeit aller Art, fachgerechte Entsorgung des Bauschutts, Recycling, Umsiedlung der Kaulquappen etc.) zu befrieden und das Projekt im Kern durchzusetzen. Zur Not kann der beliebte Bahnhof steinchenweise abgebaut und in Form eines Museums dem Bürger später wieder zugänglich gemacht werden. Doch all das wird Zeit kosten.

Bundeskanzlerin Merkel und Vizekanzler Westerwelle warnen völlig zu Recht vor einer „Lähmung des Landes“ und davor, dass der (zugegeben abstrakte) Wohlstand so nicht zu halten ist, wenn sie anfingen, Projekte wie Stuttgart 21 wegen 200 Bäumen und der schwäbischen Sentimentalität einzustellen. Doch ihr Verweis auf das Gemeinwohl wirkt hilflos. Sie scheinen machtlos gegen eine Bewegung zu sein, die doch ihre Wertvorstellungen teilen sollte. Denn bei Stuttgart 21 handelt es sich genau um jene zivilgesellschaftlichen Bewegungen, welche von den Soziologen unter dem Namen Sozialkapital als Wohlstandsindikator für die modernen Demokratien angesehen werden. Gerade weil sie keine homogene Lobby bilden, die nur ihre Interessen auf Kosten der Gemeinschaft durchsetzen wollen, gerade weil sie keine extremistische Splittergruppe sind, weil sie dem Gerede vom bürgerschaftlichen Engagement einmal etwas Farbe geben, darf man sie nicht mit Wasserwerfern abräumen. Doch zugleich ist jeder Tag, an dem nicht gebaut wird, ein verlorener Tag. Das ist der Grund, warum ein verständiger Politiker das fordern muss, was die Faz (11.10.2010) auf ihrer Titelseite trotzig von sich gibt: Nicht ein Baustopp, sondern ein Proteststopp ist vernünftig. Dem schließen wir uns an.

1) Ausgenommen echtes Ungeziefer; das will man „retten“.

2) Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab jüngst, dass sich jeder vierte nach einer „starken Partei“ sehnt, die die „Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“. Jeder zehnte macht es noch offener und bekennt sich gleich dazu, er wünsche sich einen „Führer“. Vgl. Die Welt vom 17.10.2010.

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Dieser Text ist ein Meisterwerk! Ein Meisterwerk der Verdrehung. Wer es kritisieren will fragt sich: Wo soll mensch ansetzten? Bei soviel geistiger Verdrehung und Windung bleibt wohl kaum ein Punkt zum Ansetzten.

Leute die gegen eine autoritäre Politik auf die Straße gehen würden sicherlich einen neuen Hittler wollen. Klar ist ja logisch.

Was eine Verschönerung der Stadt ist und was eine Zerstörung wird nach den Antideutschen nicht mehr Gegenstand subjektiven Geschmacks, sondern von ihnen objektiv festgelegt. Dann ist es ja auch kein Problem mehr wenn eine verschönerung mit Polizeigewalt gegen duie Ewig-gestrigen durchgesetzt wird.

Und dazu noch durchgehend diese ekelerregende Rhetorik.

Das ist einfach nur peinlich!