Das Kollektiv Autistici/Inventati und dessen rechtlicher Vertreter Verein Investici bestehen aus Personen, die sich als Ziel gesetzt haben, Kommunikationsdienste für Einzelpersonen, Vereine, informelle Gruppen und Bewegungen zu verwalten und zu entwickeln sowie die Meinungsfreiheit und die Privatsphäre zu schützen.
Die Geschichte, von der wir erzählen, spielt sich zwischen dem 9.Dezember 2008 und dem 30. März 2009 in Avezzano (Abruzzen, Italien) ab. Eine Beschwerde ist Anlass für eine Ermittlung, denn angeblich wird Gianluca Jannone, Anführer der neofaschistischen Gruppe „Casa Pound“, und Ercole Marchionni, Gründer von „Casa Pound Avezzano“, gedroht und diffamiert. Es werden mehrere Taten vorgehalten, zum Beispiel einige Graffiti, rote Farbe auf Hausklingel und einige Texte auf Indymedia Abruzzo und orsa.noblogs.org, in denen gefordert wird, den Neofaschisten den Gebrauch von öffentlichen Plätzen zu verbieten.Darauf folgt der Strafantrag seitens der Neofaschisten und Staatsanwalt Stefano Gallo, zusammen mit dem Kommissar von Avezzano und die Postpolizei von Mailand beginnen die Ermittlungen.
Im August 2009 wird der Verein Investici (und somit das Kollektiv Autistici/Inventati) als in Kenntnis gesetzte Person vorgeladen und es wird den anwesenden Beamten erklärt, dass die betriebenen Server keine IP- sowie Log-Daten registrieren und keinerlei Informationen über die Identität von orsa @ canaglie . net bestehen. Die Staatsanwaltschaft erteilt ein internationales Rechtshilfeersuchen (wegen Drohungen!!!) an Norwegen, Holland und Schweiz. Es geht darum, an die Daten heranzukommen, die die Polizei von unserem legalen Vertreter nicht bekommen hat, wohl nicht weil wir uns weigern, sondern weil diese Dateien gar nicht existieren.
In November 2010 folgt die norwegische Polizei dem Rechtshilfeersuchen: sie besucht unseren Netzwerkbetreiber und verlangt, alle Festplatten unseren Servers zu kopieren, dessen Inhalt weitestgehend verschlüsselt ist. Zwei Stunden nach der Beschlagnahme haben wir unsere Dienste auf anderen Servern übertragen und aktiviert. In circa 24 Stunden war die Funktionalität unserer gesamten Infrastruktur wie vor der Beschlagnahme wieder hergestellt. In diesem Fall hat unser Plan R* als Anti-Zensur-Mechanismus ausreichend funktioniert.
Einige Bemerkungen zu den Vorfällen:
Wir denken, es sind mehrere Interpretationen des Geschehens möglich, die verschiedene Aspekte der italienischen Gesellschaft durchleuchten.
In primis die Beziehungen zwischen Neofaschismus und Institutionen. Neulich gab es eine Serie von Freisprüchen bei den Prozessen zum Bombenanschlag in Piazza della Loggia (Brescia). Zu mehreren Zeiten gab es enge Verbindungen zwischen dem italienischen Neofaschismus und staatlichen Apparaten. In historischer Hinsicht gibt es viele Elemente, die faschistische Gruppen für den Bombenanschlag in Brescia verantwortlich machen. Was aber dabei viel offensichtlicher wird, sind das Schweigen und die viele Vertuschungsversuche seitens des Staates, die bis heute eine Aufklärung der Ereignisse verhindert haben. 30 Jahren nach dem Anschlag ist es leider nicht mehr möglich, irgendeine Wahrheit über das Geschehen aufzudecken. Das Schutzmechanismus der 70er Jahren hat einwandfrei funktioniert.
Diese Verhaltensweise ist typisch für die italienische Geschichte und findet sich selbst bei aktuellen und weit weniger relevanten Ereignisse wieder, die trotz allem nicht weniger schmerzhaft sind. Die Mörder von Dax (ein Vater und seine zwei Söhne), die die Tat sogar zugegeben haben, wurden zu lächerlichen Strafen verurteilt, in Vergleich zu denen, zu den vier AntifaschistInnen verurteilt worden sind, weil sie einem Naziskin eine Jacke entwendet haben (je vier Jahren Haft).
In einer Zeit in der sich alle Staatsanwaltschaften in Italien über Geld- und Personalmangel beschweren, scheint uns unfassbar, dass eine Klage wegen banalen Straftaten, wie vage Drohungen, so viele Staatskräfte bewegt und drei internationale Rechtshilfeersuchen nach sich zieht. Das Ziel davon ist, Informationen zu bekommen, die es jedoch nicht gibt oder ohne jeglicher Ermittlungsrelevanz sind. Wir können es nur nachvollziehen, wenn wir der Stimme von „Casa Pound“ die Bedeutung verliehen, die sie innerhalb den italienischen Institutionen hat, und ihr mehr Einfluss auf die Behörden beimessen, als einer „normalen“ politischen losen Gruppierung zustehen würde.
Da
wir als Zeugen vorgeladen wurden und deswegen auch zu
wahrheitsgemäßen Antworten gezwungen waren, haben wir explizit
darauf hingewiesen, dass wir keinerlei Informationen über unsere
UserInnen besitzen oder überhaupt an sie herankommen können. Die
erfolgte Beschlagnahme
weist darauf hin,
dass uns nicht geglaubt wurde.
Wir verstehen nicht, welche gerichtliche Grundlage es ermöglicht hat, die Privatsphäre von mehr als 2000 Personen zu verletzen, um letztendlich den Beweis zu haben, dass es keinerlei Daten zu einem einzelnen und unbekannten Individuum gibt. Die Ermittlung läuft gegen ein einzelnes E-Mail-Postfach, und die Behörden verlangen von uns jetzt [November 2010] Logs bis zum Jahre 2008, aber selbst damals gab es keine. Einige der Antworten könnten wir in dem Text des Rechtshilfeersuchen finden. Hier ist der Originaltext, von den italienischen Beamten verfasst:
„to obtain the file of log, and IP-access, for consultation, registration, change of password and updating relative to the mailbox ORSA @ CANAGLIE . NET (SHE-BEAR @ SCOUNDREL . NET) in the time span 2008–12-09 to 2009–12-09.”
Die Staatsanwaltschaft hat die Beschlagnahme gefordert, ist jedoch nicht in der Lage zu verstehen, dass es lächerlich und vor allem völlig nutzlos ist, die E-Mail-Adresse auf Englisch zu übersetzen [orsa @ canaglie . net heißt wortwörtlich übersetzt baerin@schurken.net, auf Englisch eben she-bear@scoundrel.net]. Ehrlich gesagt scheint uns eine solche Inkompetenz, dass die italienische Post- und Kommunikationspolizei als solche völlig ungeeignet, besonders wenn es wie in diesem Fall um digitale Kommunikation geht.
Zusammenfassend: die gesamte Operation scheint mehr der politischen Vergeltung und Abschreckung gegen Autistici/Inventati zu dienen, als konkret mit den Ermittlungen zusammen zu hängen. Wir können keine Informationen zu unseren UserInnen liefern, weil wir sie nicht hatten, nicht haben und niemals haben werden. Diese Repressalie stellt jedoch eine Gefahr für die 2000 UserInnen dar, die den beschlagnahmten Server nutzten. Auf gleicher Weise wurden die eingereichten Klagen so überbewertet, dass ein solches Vorgehen erst überhaupt möglich machten. Die Ausgangssituation war ja eine kleine lokale Auseinandersetzung, die jedoch drei internationale Rechtshilfeersuchen zur Folge hatte. Nach dem selben Schema kann ein Streit unter Nachbarn ein internationaler Vorfall werden. All dies macht keinen Sinn, aber in dieser gesamten Angelegenheit gibt es wohl sehr wenig, was sinnvoll erscheint.
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