Polizei im Datenrausch

Erstveröffentlicht: 
23.01.2011

EU-Staaten tauschen Informationen über „Störer“ aus. Gemeint sind politische Protestierer. Ob sie sich überhaupt strafbar gemacht haben, spielt keine Rolle.

 

Am 4. Oktober 2010 feuerte eine US-Drohne an der pakistanisch-afghanischen Grenze eine Rakete ab. Mindestens drei Menschen, allesamt junge Männer, starben bei dem Angriff. Das passiert hier regelmäßig. Einer der Toten war ein Deutscher. Das war ungewöhnlich.

 

Bünyamin E., 20 Jahre alt, soll in einem Terroristencamp trainiert haben; die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ermittelte gegen ihn. Nach seinem Tod ermittelt aber niemand gegen diejenigen, die ihn getötet haben, gegen die US-Soldaten am Steuerpult der ferngelenkten Drohnen und gegen deren Vorgesetzte.

 

Deutsche Behörden tun sich schwer damit, Verbündete im Krieg gegen den Terror zu verfolgen, wenn sie deutsche Staatsbürger töten oder entführen wie im Fall des Hamburger Islamisten Mohammed Zammar im Herbst 2001. Hingegen haben deutsche Behörden keine Bauchschmerzen, wenn sie Personendaten an Sicherheitsorgane anderer Staaten übermitteln, und zwar auch dann nicht, wenn die verdächtigten Menschen bisher nie verurteilt worden sind. Der Fall Bünyamin E. zeigt, was im Extremfall geschehen kann, wenn Daten über vermeintliche Terroristen von fremden Diensten ausgewertet werden: Die US-Armee hat den 20-Jährigen zum Terroristen erklärt und ihn ohne Gerichtsverfahren quasi hingerichtet.

 

In Zukunft werden fremde Sicherheitsbehörden viel häufiger als heute gegen Bürger anderer Staaten vorgehen, ohne das vorher ein unabhängiges Gericht deren Schuld festgestellt hat. Der Rat der Europäischen Union treibt ein Datenaustauschprogramm voran, deren Dimension die bisherige Sicherheitszusammenarbeit der Mitgliedstaaten in den Schatten stellt.

 

Seit der Gründung des Europäischen Polizeiamtes (Europol) am 1. Januar des vergangenen Jahres entsteht in Den Haag ein umfassendes Analysezentrum. Dort werden Personendaten aus den einzelnen EU-Staaten ausgewertet und an Europol-Mitglieder und Drittländer weitergegeben. Ausdrücklich vorgesehen ist, dass bei Europol nicht nur Daten von Verurteilten, sondern auch von Menschen eingespeist werden, die irgendeine Dienststelle in Verdacht hat, sie könnten eine Straftat begehen.

 

In Zeiten der globalisierten organisierten Kriminalität ist das keine schlechte Idee, könnte man meinen. Doch fällt auf, dass die nationalen Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren vor allem Informationen über kritische politische Geister austauschten. Die jüngst öffentlich gewordenen Spitzel-Geschichten aus der Protest-Szene in Großbritannien und Deutschland geben einen nur kleinen Einblick in die Spitzel- und Datentauschaktionen der EU-Staaten.

 

Wer in Europa zivilen Ungehorsam in politischen Dingen zeigt, muss offenbar damit rechnen, dass ausländische Polizei-Behörden sich für ihn interessieren, vor allem, wenn er zu Demonstrationen in andere EU-Staaten reist. Wer Gleise schottert, weil er die Atompolitik ablehnt, Masttieranlagen aufbricht, weil er Käfighaltung ablehnt, oder Autobahnen blockiert, weil er Studiengebühren ablehnt, könnte sich in der Igast-Datei des BKA wiederfinden, Igast wie „International agierende gewaltbereite Störer“. Gesammelt wird alles, was sich über einen potenziellen Demonstranten in Erfahrung bringen lässt. Von besonderem Interesse sind Kommunikationsmittel und Zugehörigkeiten zu verschiedenen Gruppen. So empfiehlt es der EU-Rat in einem Leitfaden.

 

Der lang währende Streit innerhalb der Regierungskoalition in Berlin um die Vorratsdatenspeicherung ist ohne die Strategie von Europol nicht zu verstehen. Mit deutlich weniger Aufwand und Kosten soll es künftig zum Beispiel möglich werden, eine Großveranstaltung der Nato gegen Demonstranten zu „schützen“. Allein aus der elektronischen Kommunikation von Teilnehmern lässt sich ermitteln, wie sie zur Demonstration kommen, wer die wichtigsten Köpfe einer Gruppe sind, zu wem sie Kontakt halten. Das Wiesbadener Bundeskriminalamt hat bereits mehrfach Daten über Demonstranten an andere Staaten übermittelt. Auch soll das BKA Daten zu dem mutmaßlichen Islamisten Bünyamin E. an US-Behörden weitergegeben haben. Im ersten Fall sind womöglich Demonstranten an der Grenze zurückgeschickt worden, im zweiten aber ist ein Mensch getötet worden.

 

Das Mantra der Polizeibehörden lautet stets: „Wer nichts verbrochen hat, hat auch nichts zu befürchten“. Das aber klingt vor diesem Hintergrund geradezu absurd. Die grundrechtliche Unschuldsvermutung wird ausgehebelt, wenn ein Kommunikations- und Bewegungsprofil eines jeden Menschen vorsorglich gespeichert wird. Und wenn allein auf Grundlage dieser Datenauswertungen der Polizeibeamten Strafen vollzogen werten.

 

So sinnvoll es ist, wenn Polizei-Dienststellen verschiedener Staaten zusammenarbeiten, sie dürfen politische Bewegungen nicht kriminalisieren, und sie dürfen nicht, ohne dass unabhängige Gerichte Urteile gefällt haben, sanktionieren.