DIE NAZI-JÄGER

Erstveröffentlicht: 
20.05.2017

Sie reisen zu Demos, ermitteln verdeckt und betreiben einen digitalen Pranger: Linke Aktivisten enttarnen Rechtsradikale und sind dabei so fleißig wie lange nicht. Doch die Politik will ihnen das nun erschweren.

 

Die Männer sind vermummt und stürmen brüllend auf mehrere Polizisten zu, die sich ihnen in den Weg gestellt haben. Sie reißen Fahnenstangen hoch, schlagen damit auf die Beamten ein, verletzen fünf von ihnen. Der Mob, der am 1. Mai 2016 im sächsischen Plauen wütet, besteht aus Neonazis und demonstriert für einen "Deutschen Sozialismus".

 

Am Rand des Tumults steht ein Typ mit Seitenscheitel, ausgerüstet mit einer Kamera, die an einem kurzen Metallstativ befestigt ist. Er beobachtet den Angriff der Männer, die er als seine "Kameraden" bezeichnet, und stößt bei der Motivsuche auf eine junge Frau, die den Nazis ihren Mittelfinger zeigt. Der Mann geht ein paar Schritte auf sie zu, fixiert sie. Dann rammt er ihr die spitzen Stativfüße ins Gesicht. Sie taumelt, stürzt bewusstlos zu Boden. Der Angreifer rennt los, weicht den Polizisten aus, versteckt sich in der Masse. Doch nach der Demo geht er zur Polizei und gesteht die Tat – er ahnt, dass man ihn sowieso identifiziert und aufgespürt hätte.

 

Tatsächlich wurden kurz nach seiner Attacke mehrere Videos auf Twitter gepostet, auf denen er gut zu erkennen ist. Außerdem erschien auf der linken Internetplattform Indymedia.org ein Artikel mit Informationen zu dem Stativschläger. Es handle sich um Christian M., hieß es. Er sei schon lange in rechten Gruppen aktiv und 2008 an einem Überfall auf ein linkes Zeltlager beteiligt gewesen. Dabei wurde einem schlafenden Mädchen mit einem Klappspaten ins Gesicht geschlagen. Es war 13 Jahre alt.

 

Dass derlei Verbrechen aufgeklärt und dokumentiert werden, hängt auch damit zusammen, dass deutschlandweit Antifa-Recherchegruppen rechtsradikale Demos, Konzerte und konspirative Schulungen ausforschen und ihre Erkenntnisse anschließend im Internet veröffentlichen. Die Szene spricht von "Outings", und Medien, Polizei und Staatsanwaltschaften greifen gern darauf zurück. Zum Beispiel im Fall von Henriette Reker, der im Oktober 2015 ein Jagdmesser in den Hals gerammt wurde. Die heutige Oberbürgermeisterin von Köln befand sich damals im Wahlkampf, und die Polizei hielt den Angreifer zunächst nur für psychisch gestört, aber nicht für politisch motiviert. Sie änderte ihre Einschätzung allerdings, als die "Antifa Bonn/Rhein-Sieg" Fotos veröffentlichte, die den Mann auf rechtsradikalen Demos zeigen.

 

Die Outings helfen aber nicht nur bei der Aufklärung von Straftaten, sondern könnten auch der Prävention dienen, behauptet der Verfassungsschutz Bayern. Es gebe sogar Fälle, in denen sich Rechtsextreme nach einem Outing durch die Antifa an die Behörden gewandt und an Aussteigerprogrammen teilgenommen hätten. Die "Weiße Wölfe Terrorcrew" beispielsweise stellte ihre Aktivitäten weitgehend ein, nachdem eine Antifa-Gruppe Namen und Fotos von Mitgliedern im Internet veröffentlicht hatte.

 

Wer sind die Mitglieder dieser Recherchegruppen? Wie arbeiten sie? Ist es richtig und wichtig, was sie tun – oder sind sie selbst Kriminelle, die Selbstjustiz üben und damit gegen Gesetze verstoßen?

 

Sebastian Bremer, der eigentlich anders heißt, steht auf einer Brücke in Leipzig, tritt ans Geländer und blickt hinab auf einen Bahnsteig. In der Hand hält er eine Kamera mit 300-Millimeter-Teleobjektiv. Es ist Mitte März, noch ist da unten keiner zu sehen, doch die rechtsradikale Splitterpartei "Die Rechte" hat einen Marsch durch die Stadt geplant. Bremer ist gekommen, um das zu dokumentieren.

 

Die S-Bahn fährt in die Station ein. Neonazis treten auf den Bahnsteig, einer hat ein Eisernes Kreuz auf seine Glatze tätowiert, einen Orden, den zuerst die Preußen, später die Nazis verliehen. "Support your Race" steht auf dem T-Shirt eines anderen. Einige der Rechtsextremen gucken hinauf zu Bremer und grinsen breit. Sie kennen ihn. Er hebt seine Kamera ans Auge, fokussiert, knipst.

 

Bremer wurde schon als Jugendlicher Mitglied einer Antifa-Gruppe in seiner niedersächsischen Heimatstadt. Einige Jahre später, während eines Kirmesbesuchs, griffen mehrere Nazis einen seiner Punker-Kumpels an und brachen ihm die Nase. Im Prozess gegen die Angreifer kam es zu einem Verfahrensfehler. Niemand wurde verurteilt.

 

Also begann Bremer, den Angreifern von früher hinterherzurecherchieren. Einige von ihnen haben mittlerweile eine Art Nazi-Karriere gemacht und bewegten sich im Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), auf dessen Konto mindestens zehn Morde gehen sollen.

 

Der NSU ist für Bremer und viele andere Antifa-Rechercheure Motivation für ihre Arbeit. Als das Nazi-Trio 2011 aufflog, wurde bekannt, dass der Verfassungsschutz Geld an Rechtsradikale aus dem NSU-Umfeld gezahlt hatte. Ein Unterstützer erhielt allein 200000 Mark, weil er als V-Mann aktiv war, er leitete einen Teil des Geldes an das Trio weiter. Bremer erschrak – und verlor das Vertrauen in die staatlichen Ermittlungsbehörden. Seinen Lebensunterhalt verdient er drei Tage in der Woche bei einer kleinen Baufirma, doch die Wochenenden gehören den Nazis. "Insgesamt war ich auf rund hundert rechten Demos, dieses Jahr auf zwanzig." Durchschnittlich 100 Euro gibt er pro Woche für Bahntickets und Mietwagen aus. Mit dem eigenen Auto zu fahren sei zu gefährlich, man könnte ihn verfolgen, und dann käme heraus, wo er wohnt. Noch kennen die Nazis seine Adresse nicht.

 

In Leipzig stellen sich die Demonstranten hinter ihrem Transparent auf und marschieren los. Einer guckt Bremer an und zischt: "Das nächste Mal, wenn wir dich sehen, schmeißen wir dich in die Spree!" Bremers richtiger Name wird auf Demos per Lautsprecher durchgesagt, in E-Mails wird er bedroht. Vor einigen Jahren jagte ihn ein Nazi mit drei Kampfhunden durch die Straßen, doch der Typ und seine Tiere schafften es nicht, ihn zu stellen.

 

An einer Kreuzung bilden die Demonstranten einen Kreis, Reichskriegsflaggen wehen im Wind, einer postiert sich am Lautsprecherwagen, nimmt das Mikro und hält eine Rede.

 

Bremer nähert sich. Ein Mann mit schwarzer Kappe und roter Regenjacke stellt sich ihm in den Weg, streckt die Hand vor die Kamera. Bremer weicht aus und fotografiert: Wer redet? Wer steht am Generator und wer an der Lautsprecheranlage? Er will alles dokumentieren und obendrein strafrechtlich relevante Pulloveraufdrucke, Tätowierungen und Waffen ablichten. Die Bilder wird er nach der Demo ins Internet stellen, sodass andere Antifaschisten, Polizei und Presse darauf zugreifen können.

 

Um in der Nähe der Demo zu fotografieren und nicht weggeschickt zu werden, muss Bremer sich gegenüber der Polizei als Pressevertreter ausweisen. Doch das Ausweisen könnte bald schwieriger werden. Die Innenministerkonferenz hat beschlossen, dass ab 2018 nur noch hauptberufliche Journalisten einen Presseausweis, der auf Demos gültig ist, bekommen. Ziel soll es laut Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius sein, dass sich "Extremisten" nicht mehr unter dem Deckmantel des Journalismus auf Demos oder anderen Veranstaltungen herumtreiben können. Doch ist Bremer ein Extremist?

 

Auf jeden Fall tun Bremer und andere Aktivisten etwas, das juristisch heikel ist: Man darf zum Beispiel nicht einfach Fotos von Menschen samt deren Adressen im Netz veröffentlichen. Doch Bremer hält das, was er tut, für eine Art Notwehr – und ärgert sich, dass die neue Ausweisregelung vielen ehrenamtlichen "Nazi-Jägern" das Handwerk legen würde.

 

Ohne die Fotos, die Bremer und seine Mitstreiter machen, würde auch Sarah die Geschäftsgrundlage entzogen. Sie und ihre Bekannte Pascale, die ebenfalls nicht ihren richtigen Namen veröffentlicht sehen wollen, sitzen an einem Tisch des Chemnitzer Restaurants Schalom und berichten von einer Recherche, die sie seit einiger Zeit beschäftigt. Sie begann im März 2016, als im Stadtteil Sonnenberg plötzlich vermehrt "I love NS"-Aufkleber auftauchten. Außerdem hatten Unbekannte "Nazi-Kiez" und "NS Jetzt!" an Hauswände gesprayt. Etwas später wurde ein Punker-Pärchen durchs Viertel gejagt und verprügelt, zwei Tage später griff eine Gruppe Vermummter mit Knüppeln eine alternative Bar an.

 

Etwa zur gleichen Zeit traf sich die Chemnitzer Antifa, zu der auch Sarah und Pascale zählen, zu einem Jugendkongress. Natürlich waren auch die Vorfälle der vergangenen Wochen ein wichtiges Thema, und einige der Aktivisten entschieden sich, eine Art Ermittlungsteam zu gründen. "Anfangs wollten wir einfach nur wissen, wer diese Leute sind, um ihnen aus dem Weg zu gehen", sagt Sarah. So forschten die Antifa-Ermittlerinnen in sozialen Netzwerken wie Facebook, lasen Kommentare, machten Screenshots und stießen auch auf Fotos von Aktivisten wie Bremer. Schnell wurde ihnen klar: Sie hatten es mit einem "Rechten Plenum" zu tun, das auf dem Sonnenberg eine "national-befreite Zone" durchsetzen wollte. Um das zu unterstreichen, zeigten Mitglieder auf Fotos den Hitlergruß, posierten mit Knüppeln, Zwillen und Sturmmasken.

 

Sarah und Pascale standen allerdings vor dem Problem, dass auch die Nazis auf Facebook und in anderen Netzwerken falsche Namen verwenden. Deshalb glichen sie die Facebook-Fotos mit früheren Outings auf Indymedia.org ab, fragten bei Antifa-Gruppen in anderen Städten nach. Sahen sie auf der Straße einen der Männer oder eine der Frauen, die sie für Nazis hielten, schlichen sie hinterher, um die Wohnadresse herauszufinden. Als Erstes identifizierten sie den gewalttätigen Patrick K., der in Hannover eine blinde Frau zusammengeschlagen haben soll, weil sie Mitglied einer kommunistischen Partei war.

 

Im Mai 2016 entdeckten Sarah und Pascale eine Facebook-Einladung des "Rechten Plenums" für eine Demo-Schulung, auf der das Durchbrechen von Polizeiketten trainiert werden sollte. Unter falschem Namen meldeten sie sich an und bekamen eine Raststätte an der A4 genannt, wo der Schulungsort bekannt gegeben werden sollte. Auf der Raststätte postierten sie sich mit einem Teleobjektiv und fotografierten alle Teilnehmer der Schulung. Jetzt hatten sie Fotos, auf denen man Gesichter erkennen konnte.

 

Bald hatten sie 13 Personen namentlich identifiziert, die zum harten Kern der Gruppe gehören. Sie entschieden, die Informationen im Internet zu veröffentlichen. Sie wussten, dass sie Persönlichkeitsrechte verletzten und eine Straftat begingen. Doch sie glauben, dass damit auch Schlimmes verhindert würde. Laut Zahlen der Amadeu Antonio Stiftung starben in Deutschland zwischen 1990 und 2015 mindestens 179 Menschen durch rechte Gewalt.

Weil sie sich im Recht fühlen, zumindest im moralischen Sinne, machen Pascale und Sarah weiter, und sie wissen mittlerweile, wie sie ihren Gegnern am meisten schaden können: die Arbeitgeber der Plenumsmitglieder herauszufinden.

 

Im November 2016 publizierten sie auf Indymedia.org auf 54 Seiten Namen, Fotos und Wohnadressen; diese Infos gingen auch an die Arbeitgeber der Verdächtigen. In der Recherche zum "Rechten Plenum" war das der Durchbruch: Die Neonazis hörten auf, Graffiti zu sprayen, löschten ihre Website und verkündeten auf Twitter die Auflösung ihrer Gruppe. "Wahrscheinlich weil sie Angst hatten, wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt zu werden", sagt Pascale.

 

Mindestens einer der Geouteten verlor seinen Job, andere zogen aus Chemnitz weg. Der erhoffte Aufschrei der Chemnitzer Zivilgesellschaft blieb jedoch aus. "Manche Menschen sind entsetzt, viele wollen sich nicht positionieren, andere finden halt gut, was die Nazis machen", vermutet Sarah.

 

Einer der Rechten, denen Aktivistinnen wie Sarah und Pascale nachstellen, heißt Arndt Novak. Der 21-Jährige ist Mitglied der Burschenschaft "Danubia" und gehört zur "Identitären Bewegung" in München. Er studiert im vierten Semester an der Ludwig-Maximilians-Universität Politikwissenschaft und schrieb zuletzt eine Hausarbeit über die Auflösung des Nationalstaats in der Europäischen Union. "Dabei habe ich viel Carl Schmitt zitiert", sagt er mit einem Lächeln. Er weiß, dass er damit provozieren kann: Carl Schmitt war ein einflussreicher Jurist während der NS-Zeit.

 

Novak sitzt im Aufenthaltsraum des Burschenschaftshauses. Vor ihm steht eine Flasche Mate, hinter ihm an der Wand hängen zwei gekreuzte Säbel. Über seinem Ohr verläuft eine zehn Zentimeter lange Narbe – ein Schmiss. Novak wurde während seiner ersten Mensur verletzt, der sogenannte "Paukarzt", der meist bei einem Kampf dabei ist, brach den Kampf ab. Es floss zu viel Blut.

 

Novak sagt: "Ich finde es wichtig, dass etwas gegen den großen Austausch getan wird." Er und andere Mitglieder der "Identitären Bewegung" glauben fest daran, dass Deutschland bald ein mehrheitlich muslimisches Land wird – und dass dies politisch gewollt ist. "Deshalb braucht es Widerstand", sagt Novak und meint: die Deportation aller in Deutschland lebenden Migranten.

 

Wegen dieser Ansichten klebten Antifa-Aktivisten im Februar an der Uni zahlreiche Plakate und Aufkleber, darauf: ein Foto von Novak und die Information, dass er an einer Aktion beteiligt war, bei der ein SPD-Mitglied verletzt wurde. Wenig später kündigte ihm der Chef des Marketingunternehmens, bei dem er arbeitete, ohne Angabe von Gründen. Seitdem sorgen sich Novaks Eltern um die berufliche Zukunft ihres Sohnes.

 

Doch es gab auch andere Reaktionen: Alte Freunde, die nichts von seinen rechtsextremen Ansichten wussten, schickten Facebook-Nachrichten. Sie sprachen ihm Mut zu und empörten sich über die Methoden der Antifa. Die Fachschaft Politikwissenschaft schrieb: "Liebe Studierende, aus aktuellem Anlass möchten wir uns als Eure Fachschaftsvertretung ausdrücklich gegen öffentliche Denunzierung von Personen wenden, deren politische Meinung man nicht teilt." Alles in allem habe ihm das Outing wenig geschadet, behauptet Novak – und genauso gehe es vielen seiner Gesinnungsgenossen. "Wir werden immer mehr und unterstützen uns gegenseitig. Damit ich mit meinen politischen Aktivitäten aufhöre, müssen die mich schon umlegen", sagt er martialisch.

 

Mit derlei markigen Sprüchen hält sich Christian M., der in Plauen eine Frau mit einem Stativ angriff, im März 2017 zurück. Wegen seiner Tat ist er vor dem Amtsgericht Plauen gelandet, dort sitzt er nun auf der Anklagebank, hat seine Hände vor dem Bauch gefaltet und guckt auf den Boden, als der Richter zu sprechen beginnt. Der Jurist holt weit aus, gibt zu bedenken, dass die Frau zuvor den Mittelfinger gezeigt habe, und verurteilt den Rechtsradikalen schließlich zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten. Ausgesetzt auf Bewährung.

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Ich finde es gefährlich, dass dieser Artikel das (legale) Fotografieren von Naziaufmärschen in einen Zusammenhang mit Outingaktionen (die öfter gewisse Straftatbestände erfüllen) stellt. Aber dafür scheinen sich die Autoren Raphael Thelen und Thomas Victor, die Autoren des Artikels, nicht zu interessieren. Die machen ihre Sachsen-Artikel und hauen irgendwann wieder in ihre Wohlfühlzone Westdeutschland ab.

 

Und das Lob vom Verfassungsschutz Bayern ist doch blanker Hohn. In ganz Deutschland schwingt der VS munter die Extremismuskeule, auch gegen JournalistInnen und zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich Nazis entgegenstellen oder kritisch berichten. Auch dafür sind die Autoren blind.

 

PS: Der erwähnte "Christian M." ist Christian Müller von "Volksfront Medien", siehe hier: Plauen: Nazi-Schläger ist seit Jahren aktiv