Geschlechterverhältnis und revolutionäre Organisierung

Geschlechterverhältnis und revolutionäre Organisierung - Zwei Formulierungen und zwei Anmerkungen

Wir haben uns vorgenommen, uns im Nachgang zu dem „Selber machen“-Kongress, der vom 28. - 30.04.2017 in Berlin stattfand, noch einmal zu einigen Aspekten revolutio­närer Organisierung und Strategie(n) zu äußern. Insgesamt haben wir uns fünf Themen vorgenommen:

 

I. Zur Bedeutung von Theorie und zum Umgang mit unterschiedlichen Theorietraditionen

II. Strukturelemente der gesellschaftlichen Totalität bzw. des gesellschaftlichen Ganzen (post)moderner Gesellschaftsformationen

III. Keine Hegemonie ohne Organisation: Gramsci und Lenin – ein Vergleich

IV. Program First! – Keine Organisierung ohne Programm

V. Gesellschaftliche ‚Fragen’ (Plural!) im neoliberalen ‚Weltsystem’ und Strategien (Plu­ral!), um sie revolutionär zu beantworten.

 

Wir haben jetzt allerdings zu einem Teilaspekt von II. schon so viel geschrieben und werden für die anderen vier Abschnitte jeweils noch einige Zeit benötigen, sodass wir als Appetithappen schon mal unsere – kontroversen – Überlegungen vom Verhältnis von Kapitalismus und Patriarchat vorstellen wollen.

 

Dieser Appetithappen gliedert sich seinerseits in folgende Unterabschnitte:

 

1. Totalität oder Ganzes – hegelianische (holistische) oder althusseristische (strukturalistische) Marxismus-Lesart?


2. Thesen zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht bzw. zur „Verflechtung der Kämpfe“ – ein gescheiterter Einigungsversuch aus dem NaO-Prozess

a) Der Textvorschlag

b) Die Bedenken von systemcrash

c) Die Gegeneinwände von TaP


3. Die Passage zur „Bedeutung unterschiedlicher Unterdrückungsformen“ in den 11 Thesen des Kollektivs Bremen vom Sommer 2016


4. Ein Dialog zwischen systemcrash und TaP über die Formulierungen des Kollektivs Bremen

a) ‚Die gesellschaftliche Totalität geht nicht im Kapitalverhältnis auf’ – aber was heißt das konkret?

b) Antirassismus und Feminismus müssen von Anfang an Bestandteil unserer Kämpfe sein

c) Patriarchat und Rassismus existierten lange bevor sich der Kapitalismus entwickelte

d) Ist allein der Kapitalismus das Übergreifende (Überformende) und sind Rassismus und Patriarchat bloß das passiv Überformte?

e) Leerlauf und Verknüpfung der verschiedenen Kämpfe

f) Die ökonomische Seite von Patriarchat und Rassismus sowie Kontinuität und Brüche in revolutionären Prozessen

g) Ein Vorschlag zur Umformulierung der Passage im Bremer Text zur „Bedeutung unterschiedlicher Unterdrückungsformen“


5. Die politik-praktischen Auswirkungen der vorstehend angesprochenen Differenzen


6. Reichen die heutigen inhaltlichen Gemeinsamkeiten in der revolutionären Linken – hier: insbesondere bzgl. des Verhältnisses der verschiedenen gesellschaftliche Strukturelemente zueinander – für eine gemeinsame Organisationsgründung aus?

 

1. Totalität oder Ganzes – hegelianische (holistische) oder althusseristische (strukturalistische) Marxismus-Lesart?

 

Auch wir beide haben bisher keine gemeinsame Position, wie genau die verschiedenen gesellschaftlichen Strukturelemente bzw. deren Verhältnis zueinander zu analysieren sind; wir sind uns nicht einmal einig, ob von „gesellschaftlicher Totalität“ oder von „ge­sellschaftlichem Ganzen“ zu sprechen ist... ;-)

 

systemcrash: Ich denke schon, dass es eine gesellschaftliche Totalität gibt, diese aber nur in letzter In­stanz. Die Stunde dieser letzten Instanz schlägt aber nie, weil zu viele Faktoren der gesellschaftlichen To­talität „überdeterminiert“ sind. Das Festhalten an einer (annäherungsweisen) Totalitätsvorstellung scheint mir aber nicht nur legitim, sondern sogar notwendig zu sein, um der/den revolutionären Politik(en) eine „überschüssige“, „utopische“ Qualität (im Sinne von Ernst Bloch, dass Denken Überschreiten bedeute) zu verleihen, die der heutigen Linken häufig fehlt.

 

TaP: Mir scheint, wenn wir schon von Überdeterminierung und davon, dass auch die Stunde der Totalität nie schlage, sprechen, dann können wir gut und gerne auf die Vorstellung einer homogenen Totalität ver­zichten und den widersprüchlichen Charakter des gesellschaftlichen Ganzen betonen: „Hegel [denkt] eine Gesellschaft als Totalität […], während Marx sie als ein komplexes, strukturiertes1 Ganzes mit Dominante2 denkt. […]. Wenn ich für Marx die Kategorie des Ganzen derjenigen der Totalität vorgezogen habe, so deshalb, weil im Innern der Totalität eine doppelte Versuchung lauert: diejenige, sie als das aktuelle We­sen zu betrachten, das ausnahmslose alle seine Erscheinungsformen umfaßt, und – was auf das gleiche hinausläuft – diejenige, in ihr wie in einem Kreis oder einer Sphäre – deren Metaphern uns auf Hegel ver­weisen – ein Zentrum auszumachen, das ihr Wesen wäre.“3

 

 

2. Thesen zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht bzw. zur „Verflechtung der Kämpfe“ ein gescheiterter Einigungsversuch aus dem NaO-Prozess

 

Im Rahmen des NaO-Prozesses4 hatten wir zumindest mal versucht, uns auf vier kurze Thesen zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht bzw. zur „Verflechtung der Kämpfe“ zu einigen.

 

a) Der Textvorschlag

 

Zuletzt (nachdem wir verschiedene strittige Fragen ausgeklammert hatten) stand fol­gende Formulierung zur Debatte:

These 1: Die Lohnabhängigen sind die Klasse, für die eine Überwindung des Lohn-Arbeits-Kapital-Verhältnisses (der kapitalistischen Produktionsweise) die meisten Vortei­le bringen würde; auf Grund ihrer zahlmäßigen Größe und ihrer Stellung im modernen Produktionsprozeß ist sie zugleich die Klasse, die über die aussichtsreichsten Möglich­keiten verfügt, eine solche Überwindung durchzusetzen.
These 2: Der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital ist aber nicht das einzige Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis in (post)modernen Gesellschaftsformationen. Patriarchat und Rassismus sind relativ eigenständige, aber heute mit den Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise verflochtene Herrschafts- und Ausbeutungsfor­men; sie können nicht aus dem Kapitalverhältnis abgeleitet werden.
These 3: Der Kampf gegen Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus sind zwar vonein­ander relativ unabhängige Kämpfe und politische Orientierungen. Aufgrund der Verflech­tung dieser Herrschaftsverhältnisse gehen wir aber davon aus, daß die Erfolgsaussich­ten des Kampfes gegen sie steigen, wenn der Kampf gegen sie nicht getrennt voneinander, sondern in wechselseitig solidarischer Bezugnahme geführt wird.
Unser Ziel ist die Überwindung aller Herrschaft und Ausbeutung oder, um eine Formulie­rung des jungen Marx auf die Höhe des alten Marx zu bringen: die Überwindung aller Verhältnisse, in denen nicht ‚der Mensch’ (Kollektivsingular), sondern Menschen (Plural ohne Artikel) ‚erniedrigte, [...] geknechtete, [...] verlassene, [...] verächtliche Wesen’ sind!
These 4: Um eine solche solidarische Bezugnahme der Kämpfe zu ermöglichen, ist ein entschlossener Kampf gegen Rassismus sowie gegen patriachale Strukturen und sexis­tische Verhaltensweisen auch innerhalb der Linken und unter den Lohnabhängigen not­wendig. Dies schließt ein Recht auf autonome Organisierung der in diesen gesellschaft­lichen Verhältnissen (Patriarchat und Rassismus) Beherrschten und Ausgebeuteten ein.
Damit steht unser Ansatz im Gegensatz zu traditionellen Vorstellungen von Einheit der Klasse, die Rassismus und Patriarchat explizit oder implizit zu Nebenwiderspruch erklär­ten und den Kampf gegen diese dem Klasssenkampf unterordnen (woll[t]en).“
http://web.archive.org/web/20120826060640/http://www.nao-prozess.de/blog/nao-essential-debatte-revolutionaeres-subjekt-und-frauenfrage/#comment-3269)

 

b) Die Bedenken von systemcrash

 

Eine Einigung scheiterte damals daran, daß systemcrash es für notwendig hielt, den zweiten Satz von These 3 noch um folgenden Halbsatz zu ergänzen:

„[...] und ihnen damit eine wirklich (systemüberwindende) strategische perspektive zu er­möglichen.“5

systemcrash erläuterte den Sinn dieses Ergänzungswunsches folgendermaßen:

„die systemüberwindene perspektive [entsteht] durch den klassenkampf der arbeiterIn­nenklasse, dem der antirassismus und der antipatriarchale kampf ZUGEORDNET wird. (während du eine GLEICHRANGIGKEIT siehst) da helfen leider keine kompromissfor­meln!“
(http://web.archive.org/web/20120826060640/http://www.nao-prozess.de/blog/nao-essential-debatte-revolutionaeres-subjekt-und-frauenfrage/#comment-3270)

Damit wurde die one system- bzw. Totalitäts-These – wie so häufig – zur These vom Vorrang bzw. grundlegenderen Charakter der Klassenverhältnisse.

 

c) Die Gegeneinwände von TaP

 

aa) Dem konnte TaP wiederum – außer hinsichtlich der Feststellung eines Dissenses – nicht zustimmen6; zumal schon vorher ein anderer strittig gebliebener Satz – wegen Dissenses – weggefallen war7:

„Im Gegensatz zu traditionellen Vorstellungen von Einheit der Klasse erfordert eine Her­stellung der Einheit der Klasse der Lohnabhängigen nicht etwa Mäßigung bei der Aus­tragung interner Widersprüche, sondern maximale sowie gegenüber Männern und Wei­ßen konfliktbereite Entfaltung des feministischen und antirassistischen Kampfes.“
(http://web.archive.org/web/20120826060640/http://www.nao-prozess.de/blog/nao-essential-debatte-revolutionaeres-subjekt-und-frauenfrage/#comment-3169)

 

bb) Im gleichen Sinne ist es TaP auch wichtig zu betonen, dass der Satz,

„Aufgrund der Verflechtung dieser Herrschaftsverhältnisse gehen wir aber davon aus, daß die Erfolgsaussichten des Kampfes gegen sie steigen, wenn der Kampf gegen sie nicht getrennt voneinander, sondern in wechselseitig solidarischer Bezugnahme geführt wird“,

seines/ihres Erachtens nicht bedeutet, dass in einem oder einigen dieser Kämpfe erst auf den Fortgang des Kampfes in einem oder einigen der anderen Kämpfe gewartet werden müsse oder solle.

 

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Aufgrund dieses bisher nicht aufgelösten Dissenses haben wir (weiterhin) große Zwei­fel, ob wir in einer gemeinsamen, politischen Organisation (was etwas anderes ist als eine Gewerkschaft, eine MieterInnenorganisation, ein Diskussionskreis, ein Demo-Bündnis, eine ad hoc-Gruppe zu diesem oder jenen Thema/Konflikt oder ein gelegentli­ches AutorInnenkollektiv) sein könnten – und nicht kleiner werden die Differenzen, wenn wir zusätzlich die Stellungnahme des Kollektivs Bremen vom vergangenen Sommer zu dem gerade diskutierten Problemkreis berücksichtigen.

 

 

3. Die Passage zur „Bedeutung unterschiedlicher Unterdrückungsformen“ in den 11 Thesen des Kollektivs Bremen vom Sommer 2016

 

In den 11 Thesen des Kollektivs Bremen, die im Juli 2016 veröffentlicht wurden, heißt es (sorry für das lange Zitat, aber wir wollen nichts aus seinem Kontext reißen):

„Bevor die Thesen beginnen, möchten wir an dieser Stelle eine kurze Bemerkung zu der Frage nach der Bedeutung unterschiedlicher Unterdrückungsformen voranstellen. Dies schien uns notwendig, da wir in den Thesen häufig vom ‚Kampf gegen den Kapitalismus’ oder ‚dem herrschenden kapitalistischen System’ schreiben, ohne andere Unter­drückungsformen explizit zu benennen. Wenn wir in den elf Thesen insgesamt tatsäch­lich (zu) wenig auf die spezifischen Fragen des Kampfes gegen das Patriarchat oder rassistische Strukturen eingehen, so heißt das nicht, dass wir darin prinzipiell keine Not­wendigkeit sehen oder diese als nachrangig betrachten. Vielmehr teilen wir die Ansicht, dass die gesellschaftliche Totalität nicht im Kapitalverhältnis aufgeht bzw. sich mit der Überwindung des Kapitalverhältnisses nicht alle anderen Unterdrückungsformen von selbst aufheben. Es ist wohl überflüssig, zu betonen, dass Patriarchat und Rassismus (ebenso wie andere Unterdrückungsformen) lange existierten, bevor sich der Kapitalis­mus entwickelt hat. Gleichzeitig befinden wir uns heute in der historischen Phase des Kapitalismus, der als herrschendes Organisationsprinzip der Gesellschaft alle anderen Unterdrückungsformen verbindet, überlagert, verstärkt, verformt bzw. teilweise sogar verringert. Entsprechend sind die (häufig voneinander getrennt geführten) Kämpfe ge­gen die unterschiedlichen Unterdrückungsverhältnisse im kapitalistischen System nur zusammen zu denken und zu führen. Die Geschichte zeigt uns an zahlreichen Beispie­len, dass die Trennung der unterschiedlichen Kämpfe voneinander zum Scheitern verur­teilt ist. So wird der Kampf gegen das Patriarchat ohne antikapitalistische Perspektive vom System verschluckt und läuft zwangsweise ins Leere. Und auf der anderen Seite haben wir in vielen revolutionären Bewegungen der Vergangenheit gesehen, dass Frau­en trotz ihrer Beteiligung an der Revolution in deren Folge letztlich doch wieder an den Herd verbannt wurden. Die Überwindung des patriarchalen Systems ebenso wie rassis­tischer Strukturen und anderer Unterdrückungsformen muss von Beginn an zentraler Bestandteil unseres Kampfes sein und auch innerhalb von unseren eigenen Strukturen thematisiert werden. Vor allem in traditionellen linken Gruppen findet sich die Tendenz, Revolution aus rein ökonomistischer Perspektive zu betrachten. Wenn wir jedoch von Kapitalismus sprechen, dann meinen wir damit nicht nur die ökonomische Seite, son­dern alle Facetten der Ausbeutung und Unterdrückung in der heutigen Gesellschaft. Re­volution begreifen wir in diesem Sinne als einen kontinuierlichen Prozess zur Überwin­dung aller Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen.“

 

 

4. Ein Dialog zwischen systemcrash und TaP über die Formulierungen des Kollektivs Bremen

 

Wir haben zu diesem Zitat im Einzelnen folgende – zum erheblichen Teil unterschiedli­chen – Auffassungen:

 

a) ‚Die gesellschaftliche Totalität geht nicht im Kapitalverhältnis auf’ – aber was heißt das konkret?

 

Kollektiv Bremen: Wir „teilen [...] die Ansicht, dass die gesellschaftliche Totalität nicht im Kapitalverhältnis aufgeht bzw. sich mit der Überwindung des Kapitalverhältnisses nicht alle anderen Unterdrückungsformen von selbst aufheben.“

 

TaP: Das ist immerhin etwas.

 

systemcrash: Grundsätzlich teile ich die Auffassung, dass Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus drei (relativ) unabhängige ‚soziale’ Strukturen sind. Die systemtranszen­dierende Perspektive ergibt sich aber meines Erachtens nur aus dem ‚Antikapitalismus’ (damit sollen aber die anderen politischen Anliegen nicht in ihrer Bedeutung und Be­rechtigung kleiner geredet werden).

 

TaP: Das ist nicht ein Widerspruch in sich? Du sagst einerseits: „Die systemtranszen­dierende Perspektive ergibt sich [...] nur aus dem ‚Antikapitalismus’“, und damit sagst Du – implizit – zugleich: Das, was das System grundlegend ausmacht, (Das, was Krite­rium für Systemüberwindung oder Systembeibehaltung ist), ist der Kapitalismus bzw. Antikapitalismus.

Andererseits sagst Du, dass damit „die anderen politischen Anliegen nicht in ihrer Be­deutung und Berechtigung kleiner rede[n]“ möchtest. Auch wenn Deine Formulierung die Berechtigung von Feminismus und Antirassismus nicht in Frage stellt, so heißt doch nur dem Kapitalismus bzw. Antikapitalismus im beschriebene Sinne grundlegende Be­deutung zuzuschreiben, ihm eine größere Bedeutung als den beiden anderen Struktur­en bzw. Kämpfen zuzuschreiben.

  • Abgesehen von Bedenken gegen den Ausdruck „System“ fände ich einleuchtend zu sagen, ‚das System’ als Ganzes ist erst überwunden, wenn so sowohl Kapita­lismus als auch Rassismus als auch Patriarchat überwunden sind. Dann sind aber Feminismus, Antikapitalismus und Antirassismus gleichermaßen die conditiones sine qua non der ‚System’überwindung (gleichermaßen die Bedin­gungen, ohne die eine ‚System’überwindung nicht gegeben ist) – und der Antika­pitalismus nicht grundlegender oder ‚systemtranszendierender’ als die beiden an­deren Kämpfe bzw. politische Haltungen.

    Wie gesagt: Das wäre – wegen Bedenken gegen den Ausdruck „System“ – nicht meine Begrifflichkeit, aber eine, die ich als schlüssig ansehen würde und die je­denfalls insoweit die Bedeutung von Feminismus und Antirassismus nicht kleinre­det (wie es dann in der weiteren begrifflichen Konkretisierung und bei der politi­schen Praxis aussieht, mag noch mal auf einem anderen Blatt stehen).

  • Oder aber (und das wäre die Begrifflichkeit, die ich vorziehen würde): Wir ver­zichten auf den Ausdruck „System“ und sagen: „Die heutige, hiesige Gesell­schaftsformation (und die heutige ‚Weltgesellschaft’) wird von drei grundlegen­den Strukturen – kapitalistische Klassenverhältnisse, patriarchales Geschlechter­verhältnis und Rassismus – konstituiert. Allein die Überwindung jeder einzelnen dieser drei Strukturen würde schon die Begriffe antikapitalistische (sozialistische), feministische bzw. antirassistische Revolution rechtfertigen, auch wenn solche spezifischen Strukturumwälzungen noch lange nicht der Kommunis­mus wären.“

 

systemcrash: Wenn Du es so definierst, dann halte ich tatsächlich den „Antikapitalis­mus“ (eigentlich ziehe ich den Begriff „Transkapitalismus“ vor) für „grundlegend“ und den antipatriarchalen und antirassistischen Kampf für zugeordnet. (Möglicherweise lie­ße der Begriff „Transkapitalismus“ mehr Spielraum für eine integralere Auffassung der verschiedenen „Strukturelemente“). Grundlegend deshalb, weil nur der Antikapitalismus auch die Eigentumsstruktur der Produktionsverhältnisse (und damit potentiell das Wertgesetz) in Frage stellt. Antipatriar­chalismus und Antirassismus tun dies nicht, zumindest nicht aus ihrer eigenen inneren Logik heraus. Schließlich gibt es ja auch bourgeoise Frauen und bourgeoise Schwarze.

 

TaP: Ja, in einer nicht-patriarchalen und nicht-rassistischen Gesellschaft kann es noch Privateigentum an den Produktionsmitteln, Warentausch, einen Staat etc. geben – und deshalb wäre eine solche Gesellschaft noch nicht kommunistisch.

Ja! Aber trotzdem ist ja – wenn wir von der (Kritik der) Deutschen Ideologie von Marx und Engels8 und der Klassendefinition in Die große Initiative von Lenin9 ausgehen – das (Privat)Eigentum nicht das Grundlegende, sondern nur eine Folge hierarchischer Ar­beitsteilung und der daraus folgenden Aneignung von Produkten fremder Arbeit.

systemcrash: Aber die hierarchische Arbeitsteilung kann doch ohne die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln nicht überwunden werden. Freilich ist das nur eine Bedingung. Im folgenden muss auch der „bürgerliche Rechtshorizont“ (Wertgesetz!) überschritten werden und eine kulturell-bewusst­seinsmäßige Weiterentwicklung stattfinden.

TaP: Ja, schon. Aber, wenn es keine (sozialen) Geschlechter und Rassen mehr gibt, ist es nur noch eine hierarchische Arbeitsteilung nach Klassen, aber nicht mehr nach Geschlechtern und Rassen – was die Sache für diejenigen, die bis dahin nicht nur im Klassen-, sondern auch im Geschlechter- und/oder Ras­senverhältnis die Arschkarte gezogen hatten, die Sache deutlich erleichtert.

systemcrash: Ich verstehe die Logik, aber sei mal ehrlich – für wie realistisch hältst Du es, dass der Rassismus und Sexismus überwunden werden, wenn die völlig ungleiche kapitalistische Weltordnung be­stehen bleiben? Diese Vorstellung ist doch geradezu aberwitzig! Es wird zwangsläufig Spaltungslinien außerhalb des Klassenverhältnisses geben... solange, bis der Kapitalismus überwunden wird. Und erst dann beginnt der ‚richtige’ Kampf...

TaP: Ich halte es diesbzgl. ziemlich vollständig mit Lisa Haller und Silke Chorus10: Zwar sind solche weite­ren Spaltungslinien für die Einzelkapitale, die verstehen sie auszunutzen, nützlich; aber die kapita­listische Produktionsweise als solche ist nicht auf andere Spaltungslinien als die zwischen Produktions­mittel-BesitzerInnen und doppelt-freie LohnarbeiterInnen angewiesen; falls sie doch auf irgendwelche weitere Spaltungslinien angewiesen ist, ist sie jedenfalls nicht darauf angewiesen, dass diese gerade ent­lang von Geschlechterlinien verlaufen.

systemcrash: Angewiesen, aus der Logik des Kapitalverhältnisses heraus, nicht – aber politisch ‚nütz­lich’; zumal ja noch als weiterer Aspekt hinzukommt, dass auch ‚vormoderne’ Bewusstseinsbestandteile (z.B. patriarchale) im ‚kollektiven (Massen)bewusstsein’ entwickelter kapitalistischer Gesellschaften wei­terhin bestand haben (siehe z.B. das Familienbild der Konservativen und Rechtspopulisten). Die ‚be­wusstseinsmäßig-kulturelle Evolution’ hinkt der technisch-ökonomischen immer – leider – hinterher.

 

b) Antirassismus und Feminismus müssen von Anfang an Bestandteil unserer Kämpfe sein

 

Kollektiv Bremen: „Die Überwindung des patriarchalen Systems ebenso wie rassisti­scher Strukturen und anderer Unterdrückungsformen muss von Beginn an zentraler Be­standteil unseres Kampfes sein und auch innerhalb von unseren eigenen Strukturen thematisiert werden.“

 

TaP: Mehr noch als dem bei a) zitierten Satz stimme ich diesem – hier bei b) zitierten – Satz zu, denn er ist eine notwendige Konkretisierung; allerdings fehlt eine weitere not­wendige Konkretisierung: Feministische und antirassistische Kämpfe werden von Frau­enLesben und Schwarzen11 auch nach einer sozialistischen Revolution fortzuführen sein, sofern sie nicht schon vorher zu einem umfassenden antipatriarchalen bzw. anti­rassistischen Erfolg geführt haben werden, und sie sind nicht – als Nebeneffekt einer eventuellen sozialistischen Revolution – automatisch erledigt.

 

systemcrash: Ich stimme zwar grundsätzlich zu; aber durch diesen Kampf darf die Klasseneinheit nicht gefährdert werden. Insofern schließe ich mich Bronsteyn an, der in einem Kommentar in meinem Blog schrieb:

„Partnerschaft der Geschlechter und Gleichberechtigung aller sexuellen Orientierungen und Ausrichtungen, Gender-Identitäten usw. Vom Standpunkt der Linie der klassenorien­tierten Arbeiterbewegung aus gesehen ist strategisch die Herbeiführung weitestmögli­cher Klasseneinheit anzustreben, im Sinne von ‚Danketsu’ (fester Zusammenhalt, Soli­darität, füreinander einstehen). Jede Diskriminierung innerhalb der Klassen, ob aufgrund Geschlecht, Hautfarbe, Religion o.ä., ist von daher unerbittlich zu bekämpfen. Dies gilt insbesondere für alle Benachteiligungen, die Frauen hinnehmen müssen. Deren Aufhe­bung ist Aufgabe der Frauen UND Männer der Klasse. ‚Geschlechterkampf’ innerhalb der Klasse, der über die Bekämpfung von Diskriminierung hinausgeht, ist dagegen von Übel. 70 - 80 % aller Frauen gehören dem Proletariat an. Über 50 % des Proletariats sind Frauen, der Rest Männer. ‚Geschlechterkampf’, der mit der Linie der ‚Klassenspal­tung’ zwischen Frauen und Männern das Danketsu der Klasse verhindern oder wenigs­tens behindern will, ist daher – sorry – reaktionär. Aber genau solche Positionen werden vertreten, wenn auch nicht sehr offen. Seltsamerweise sind es vor allem biologische Männer, die sich dafür stark machen.“
(Kommentar von Bronsteyn: https://systemcrash.wordpress.com/2012/08/20/nao-essential-debatte-revolutionares-subjekt-und-fraunefrage/#comment-2604; Tippfehler stillschweigend korrigiert)12

 

c) Patriarchat und Rassismus existierten lange bevor sich der Kapitalismus entwickelte

 

Kollektiv Bremen: „Es ist wohl überflüssig, zu betonen, dass Patriarchat und Rassis­mus (ebenso wie andere Unterdrückungsformen) lange existierten, bevor sich der Kapi­talismus entwickelt hat.“

 

  • Was den Rassismus anbelangt, möchten wir beide übereinstimmend die Frage aufwerfen, was diesen genau definiert bzw. inwieweit dieser mit vormoderner Xe­nophobie zusammenfällt. Aber selbst wenn Rassismus nicht älter als die Herr­schaft der kapitalistischen Produktionsweise sein sollte, so hieße dies nicht not­wendigerweise, dass die Letztere die Ursache des Ersteren ist (chrologische Abfolge allein bedeutet noch keine Kausalität).

     

  • Was dagegen das Patriarchat anbelangt, so scheint uns beiden die wichtige Kon­troverse zwischen (mainstream-)Marxismus und Feminismus weniger zu sein, ob das Patriarchat älter ist als der Kapitalismus (das dürften auch die meisten main­stream-MarxistInnen nicht bestreiten), sondern ob das Patriarchat (1.) noch exis­tiert und ob es (2.) nicht nur älter als der Kapitalismus, sondern auch älter als jede Form der Klassenherrschaft ist.

    TaP ist der Überzeugung: (1.) Wir leben weiterhin in einer patriarchalen Gesell­schaft, und auch die linke Szene ist kein „Freiraum“ außerhalb des Patriarchats. (2.) Die überwiegenden Indizien und Argumente sprechen dafür, daß das Patriar­chat älter ist als jede Klassenherrschaft. (3.) Selbst wenn die Chronologie an­dersherum gewesen sein sollte, habe ich noch kein überzeugendes Argument für die mainstream-marxistische These gehört oder gelesen, daß die Klassenver­hältnisse bzw. das Privateigentum die Ursache des Patriarchats seien. (Es fehlt dem marxistischen – von Friedrich Engels herrührenden13 – Erklärungsansatz an einer schlüssigen Benennung des Kausalitätsmechanismus, der angeblich be­wirkt, dass Privateigentum bzw. Vererbung zu Patriarchat führt. Es fehlt eine Er­klärung, warum das zu vererbende Privateigentum männliches Eigentum wurde und bleiben sollte. Diese ‚Männlichkeit’ des Privateigentums ist vielmehr nur durch dem Privateigentum vorgängige patriarchale Strukturen zu erklären.) (4.) Deshalb sehe ich auch keinen Grund, warum es nicht möglich sein sollte – bei entsprechender Entwicklung feministischer Kämpfe –, das Patriarchat auch schon vor etwaiger Überwindung der Kapitalismus zu überwinden; und falls dies gelingen sollte, wäre daran nichts Illegitimes.

    systemcrash teilt die Punkte (1.) bis (3.); möchte aber zu (4.) folgende Anmer­kung machen: Eine „Frauenbefreiung“, ohne den Kapitalismus zu überwinden, kann ich zwar nicht theoretisch ausschließen, halte ich aber als strategische Ori­entierung für abwegig (ist in der letzten Konsequenz eigentlich eine Variante von „(femi)radikalem Liberalismus“).14

 

d) Ist allein der Kapitalismus das Übergreifende (Überformende) und sind Rassismus und Patriarchat bloß das passiv Überformte?

 

Kollektiv Bremen: Wir „befinden [...] uns heute in der historischen Phase des Kapitalis­mus, der als herrschendes Organisationsprinzip der Gesellschaft alle anderen Unter­drückungsformen verbindet, überlagert, verstärkt, verformt bzw. teilweise sogar verrin­gert.“

 

  • TaP: Ja, dem „bzw. teilweise sogar verringertstimme ich auf alle Fälle zu. Das macht diese ‚Verringerungen’ – im Gegensatz zur Litanei von Angriffen auf ver­meintlich (neo)liberale Feministinnen und vermeintlich feministischem Neolibera­lismus – nicht Illegitim.

    systemcrash: Ich stimme ebenfalls zu.

     

  • TaP: Aber nicht nur der Kapitalismus, sondern auch Patriarchat und Rassismus überformen ihrerseits alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse (den Kapitalis­mus eingeschlossen): Die gesellschaftliche Lage einer schwarzen Kapitalistin ist eine andere als die eines weißen Kapitalisten (z.B.: sexuelle und rassistische Gewalt und Belästigungen; stereotype Rollen- und Verhaltenserwartungen; un­terschiedliche Machtpositionen in informellen Netzwerken und Verbänden des Kapitals) und die einer schwarzen Lohnabhängigen ist anders als die eines wei­ßen Lohnabhängigen – und diese Unterschiede sind (im Unterschied zum Mehr­wert und der Kapitalakkumulation) nicht aus dem freien und gleichen Waren­tausch zu erklären.

    systemcrash: Keine Einwände.

     

  • TaP: Folglich haben wir es auch nicht mit nur einem, sondern mit drei Grundwi­dersprüchen zu tun.15

    systemcrash: Ich halte es dagegen für treffender von einem Grundwiderspruch und mindestens zwei zentralen (soziostrukturellen)Überformungen’ zu spre­chen. Der Unterschied zwischen beiden Auffassung liegt darin, dass es nur eine systemtranszendierende Strategie geben kann (statt einer Zerfaserung [und möglichen Entsolidarisierung] der Kämpfe in drei).

     

  • TaP: Wenn dagegen erst einmal von der These ausgegangen wird, daß es allein der Kapitalismus sei, der alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse überforme, dann scheint es mir kein großes Wunder zu sein, daß „häufig vom ‚Kampf gegen den Kapitalismus’ oder ‚dem herrschenden kapitalistischen System’ [ge]schr[ie]ben [wird,] ohne andere Unterdrückungsformen explizit zu benennen“.

    Die Entsolidarisierung und Zerfaserung findet also nicht durch die Betonung der Gleichgewichtigkeit aller drei Strukturen und Kämpfe statt, sondern durch die Priorisierung des Antikapitalismus – und sei es in Form der These, dass er das Grundlegendere sei.

    systemcrash: Es ist falsch, immer nur den Kapitalismus als alleinige Ursache al­ler Probleme zu benennen und die anderen „Herrschaftsstrukturen“ ungenannt zu lassen. Entscheidend ist aber in strategischer Hinsicht, alle Kämpfe in eine antikapitalistische Perspektive einzubetten.

  • TaP: Schließlich halte ich wenig von dem Ausdruck „Unterdrückung“.16 Ich ziehe vor, von „Herrschaft und Ausbeutung“ zu sprechen – und zwar sowohl in Bezug auf class als auch race als auch gender. Denn zum einen sind auch Patriarchat und Rassismus (und nicht nur die Klassenverhältnisse) auch materiell (und auch ökonomisch) und nicht nur psychologisch oder ideologisch (soviel zur Notwen­digkeit der Erwähnung des Begriffs „Ausbeutung“); und zum anderen schließt Herrschaft „‚zwar Unterdrückung ein[...], aber [reduziert] sich nicht auf Unter­drückung [...], sondern [beinhaltet] immer auch ‚Angebote’, Hegemonie, Subjekti­vierung/Identifizierungsangebote (z.B. früher als gute Hausfrau und Mutter; heute eher als toughe ‚Managerin’, die Familie und Beruf unter einen Hut bringt; früher eher als guter Arbeiter und heute eher als guteR SelbstunternehmerIn usw.) [...].’ Die Überwindung von – in dieser Weise funktionierender – Herrschaft ist weitaus komplexer als die ‚Befreiung’ von schlichter ‚Unterdrückung’.“17

    systemcrash: Ich habe keine Problem damit, in Bezug auf alle drei Verhältnisse von ‚Herrschaft und Ausbeutung’ zu sprechen, halte aber auch den Begriff ‚Unter­drückung’ für unproblematisch, wenn er für alle drei Verhältnisse konkretisiert wird.

e) Leerlauf und Verknüpfung der verschiedenen Kämpfe

 

Kollektiv Bremen:Die Geschichte zeigt uns an zahlreichen Beispielen, dass die Tren­nung der unterschiedlichen Kämpfe voneinander zum Scheitern verurteilt ist. So wird der Kampf gegen das Patriarchat ohne antikapitalistische Perspektive vom System ver­schluckt und läuft zwangsweise ins Leere. Und auf der anderen Seite haben wir in vie­len revolutionären Bewegungen der Vergangenheit gesehen, dass Frauen trotz ihrer Beteiligung an der Revolution in deren Folge letztlich doch wieder an den Herd ver­bannt wurden.“

 

TaP: Hier werden zwei unterschiedliche Kausalitäten bzw. Ebenen vermengt:

 

  • Zutreffend ist, dass „in vielen revolutionären Bewegungen der Vergangenheit [...] Frauen trotz ihrer Beteiligung an der Revolution in deren Folge letztlich doch wie­der an den Herd verbannt wurden.“ Hierbei handelt es sich allerdings um die Unterordnung von Fraueninteressen unter Klasseninteressen oder unter Interes­sen an „nationaler Befreiung“.

     

  • Der Satz, „der Kampf gegen das Patriarchat ohne antikapitalistische Perspektivewerde „vom System verschluckt und laufe „zwangsweise ins Leere“, beinhaltet dagegen eine ganz andere These: Hier geht es nicht um die Unterordnung von Klasseninteressen oder Interessen an „nationaler Befreiung“ unter Fraueninter­essen, sondern hier wird behauptet, der „Kampf gegen das Patriarchat“ könne auch als Kampf gegen das Patriarchat ohne „antikapitalistische Perspektive“ nicht erfolgreich sein.18 Dafür wird aber kein Argument vorgebracht.

 

systemcrash: Ich stimme zu, dass die drei Sätze zwei Ebenen vermengen, aber trotz­dem stimme ich – im Sinne des bereits Gesagten („Eine ‚Frauenbefreiung’ ohne den Kapitalismus zu überwinden, kann ich zwar nicht theoretisch ausschließen, halte ich aber als strategische Orientierung für abwegig.’“) auch dem Satz zu, „wird der Kampf gegen das Patriarchat ohne antikapitalistische Perspektive vom System verschluckt und läuft zwangsweise ins Leere“. Allerdings bezieht sich das „Leere“ auschließlich auf die „Systemüberwindung“. Reformatorische Verbesserungen (innerhalb des Kapitalis­mus) im frauenspezifischen Interesse sind natürlich denkbar und möglich.

 

f) Die ökonomische Seite von Patriarchat und Rassismus sowie Kontinuität und Brüche in revolutionären Prozessen

 

Kollektiv Bremen:Wenn wir jedoch von Kapitalismus sprechen, dann meinen wir da­mit nicht nur die ökonomische Seite, sondern alle Facetten der Ausbeutung und Unter­drückung in der heutigen Gesellschaft. Revolution begreifen wir in diesem Sinne als einen kontinuierlichen Prozess zur Überwindung aller Ausbeutungs- und Unter­drückungsmechanismen.“

 

TaP: Auch die letzten beiden Sätze des angeführten, langen Zitates lassen es m.E. an der gebotenen Präzision und Schärfe fehlen, denn:

 

  • Nicht nur die Klassenverhältnisse, sondern auch Rassismus und Patriarchat sind – z.B. in Form von geschlechtshierarchischer und rassistischer Arbeitsteilung – ökonomisch.

systemcrash: Ich stimme dem Hinweise von TaP zu.

 

Und:

 

  • TaP: Es mag sein, daß es – in einem relativ kurzen Zeitraum – zu einem revolu­tionären Prozeß kommt, in dem – in einer Abfolge verschiedener Maßnahmen – Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat überwunden werden.

  • TaP: Aber auf alle Fälle wird es sich dabei nicht um einen „kontinuierlichen Pro­zess“ (meine Hv.) handeln, sondern es werden mehrere Brüche mit den Behar­rungsinteressen von KapitalistInnen, Weißen und Männern notwendig sein. Denn die drei genannten gesellschaftlichen Gruppen haben materielle Vorteile von dem jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnis, in dem sie auf der herrschenden und ausbeutenden Seite stehen, und nicht nur ‚Vorurteile’, die sich durch gutzure­den überwinden lassen.

    systemcrash: Ich bin der Auffassung, dass die Überwindung des „Patriarchats“ eher eine Frage der Bewusstseinsevolution und eines (langfristigen) „kulturrevo­lutionären“ Prozess ist, denn mit einem „Geschlechterverhältnis“ kann man nicht „brechen“, es kann nur (historisch) evolvieren.

    Und wenn man tiefer über diese Frage nachdenkt, können auch letztlich Männer nicht wirklich ein Interesse an der subalternen gesellschaftlichen Stellung von Frauen haben (selbst wenn es tatsächlich auch ökonomische Vorteile geben soll­te). Wer auf die Inferiorität der Frauen angewiesen ist, hat eher ein Problem mit seinem eigenen Selbstwertgefühl. Die Arbeitsteilung im Bereich reproduktiver Tä­tigkeiten pari-pari anzugleichen, wird allerdings ein hartes Stück „kultur(r)evolu­tionärer“ Bildungsarbeit erforderlich machen.19

  • TaP: Es mag aber auch sein, daß mehrere Jahrzehnte (oder noch mehr) zwi­schen diesen verschiedenen revolutionären Brüchen liegen werden, so dass nicht mehr von einem revolutionären Prozess gesprochen werden kann, sondern von mehreren revolutionären Prozessen gesprochen werden muss. So realisierte der ‚Real’sozialismus bestenfalls die avanciertesten Forderungen sog. ‚bürgerli­chen’ Frauenbewegung(en), aber brach nicht mit dem Patriarchat. Die ge­schlechtshierarchische Verteilung der Reproduktionsarbeit blieb – auch konzep­tionell – von deren „Vergesellschaftung“ (die in Wirklichkeit bloß deren Verlage­rung von einzelnen Frauen auf mehrere Frauen war) unangetastet; die Politbüros kommunistischer Parteien waren schon zu Lenins Zeiten Männer-Domänen und blieben es danach. Der Erfolg Stalins im Männer-Machtkampf um die Nachfolge Lenins brachte auch im Bereich von Geschlecht(ern) und Sexualität ein roll back gegenüber begrenzten frauen-freundlichen Errungenschaften der Revolutionszeit.

    Es hätte also für eine Überwindung des Patriarchats – nach dem Bruch mit der Herrschaft des Kapitals – eines weiteren Bruchs (in dem Falle: mit der Herrschaft der Männer) bedurft, den es allein schon deshalb 1917 ff. nicht geben konnte, weil nicht nur der Marxismus, sondern auch die Frauenbewegungen noch nicht auf dem Stand der theoretischen Einsichten und strategischen Schlussfolgerun­gen war, die sich der Feminismus ab Mitte/Ende der 1960er erarbeitete.

    systemcrash: Ich stimme zu – nur dass es kein „Bruch“ ist, sondern ein kultur(r)evolutionärer Prozess.

 

g) Ein Vorschlag zur Umformulierung der Passage im Bremer Text zur „Bedeutung un­terschiedlicher Unterdrückungsformen“

 

aa) Nach alledem würde TaP vorschlagen, das in Abschnitt 3. angeführte Zitat des Kol­lektivs Bremen wie folgt umzuformulieren:

„Ein Text, der beansprucht, nicht nur antikapitalistisch, sondern im umfassenden Sinne revolutionär zu sein, also auf die Überwindung jeder Herrschaft und Ausbeutung zu zie­len, müßte damit beginnen, die Struktur der hiesigen, heutigen Gesellschaftsformation als kapitalistische und patriarchale und rassistische zu bestimmen (und nicht „Kapitalis­mus“ oder „kapitalistisches System“ als Namen für ‚das Ganze’ verwenden) und nach dem Stand der antikapitalischen, feministischen und antirassistischen Kämpfe fragen. Statt dessen beginnt das Papier des Kollektivs Bremen mit den Sätzen: ‚Neben einer stillen Ohnmacht, die viele von uns derzeit vor dem Hintergrund der sich rasant ver­schärfenden Angriffe des kapitalistischen Systems und der fehlenden Stärke linker Be­wegungen befällt, nehmen wir in den letzten Jahren aber auch hoffnungsvoll eine neue Suchbewegung unter Linken und Linksradikalen wahr. Die Frage nach einer möglichen tatsächlichen Alternative zum Kapitalismus wird wieder stärker diskutiert – oder die Dis­kussion darüber zumindest stärker eingefordert – ebenso wie die Diskussion über die Frage, mit welchen konkreten Mitteln und Methoden eine tatsächliche Überwindung des kapitalistischen Systems denkbar sein könnte.’ (meine Hv.).
Wenn das Zitierte der Ausgangspunkt ist, dann ist kein Wunder, dass auch im weiteren Verlauf der Thesen häufig vom ‚Kampf gegen den Kapitalismus’ oder ‚dem herrschen­den kapitalistischen System’ die Rede ist, ohne sog. ‚andere Unterdrückungsformen’ ex­plizit zu benennen. Es mag dann zwar nicht in der subjektiven Absicht liegen, die spezifi­schen Fragen des Kampfes gegen das Patriarchat oder gegen rassistische Strukturen als nachrangig zu betrachten. Dies ist aber die notwendige theoretische Folge der ein­seitigen These, dass wir uns heute in der historischen Phase des Kapitalismus befinden, der als herrschendes Organisationsprinzip der Gesellschaft alle anderen Unter­drückungsformen verbinde, überlagere, verstärke, verforme bzw. teilweise sogar verrin­gere, ohne zu thematisieren, dass
  • nicht nur der Kapitalismus das Aktive und nicht nur Rassismus und Patriarchat das Passiv-Überlagerte sind,
sondern
  • auch Patriarchat und Rassismus ihrerseits aktiv die kapitalistische Produktionsweise überformen und z.B. im Falle von sexistischer und rassistischer Lohndiskriminierung und Arbeitsteilung modifizieren.
Entgegen einem vorschnellen Zusammendenken der verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen, das – jedenfalls de facto – immer wieder zu einer Unterordnung von feminis­tischen und antirassistischen Kämpfen unter antikapitalistischen Kämpfe führt, sind des­halb die verschiedenen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zunächst einmal in ihrer Spezifik – und das heißt auch: hinsichtlich der jeweils spezifischen gesellschaftli­chen Gruppen, die sich in ihnen gegenüberstehen – zu analysieren und ernstzunehmen.
Auch historisch kam es – aufgrund männlicher Beharrungsinteressen und eines falschen theoretischen Rahmens – immer wieder vor, dass doch wieder vorrangig Frau­en – trotz ihrer Beteiligung an Revolutionen – in deren Folge für Kinder, Küche und Klo­schüsseln zuständig erklärt wurden und zuständig blieben.
Dies erlaubt aber nicht den – Pseudo-Umkehr- – Schluss, dass der Kampf gegen das Patriarchat ohne antikapitalistische Perspektive vom System verschluckt werde und zwangsweise ins Leere laufe. Letztere These ist vielmehr nur eine weitere Variante der Unterordnung feministischer Kämpfe unter antikapitalistische Kämpfe. Im Gegensatz zu einer solchen Unterordnung muss die Überwindung von Patriarchat und Rassismus und aller Formen von Diskriminierung von Beginn an zentraler Bestand­teil unseres Kampfes sein und auch innerhalb von unseren eigenen Strukturen themati­siert werden, und sie wird auch nicht (als Nebeneffekt) durch eine antikapitalistische Re­volution erledigt sein, sondern erfordert einen eigenständigen Bruch mit den Strukturen von Patriarchat und Rassismus und dem Interesse von Männern und Weißen an deren Aufrechterhaltung.
Zwar müssen kommunistische Kämpfe feministisch, antirassistisch und antikapitalistisch sein; aber:
  • feministische Kämpfe müssen als feministische genauso wenig antikapitalistisch sein, wie antikapitalistische als antikapitalistische feministisch sein müssen;
  • und das Entsprechende gilt auch in Bezug antirassistische Kämpfe.
Oder anders gesagt: Es kann für den Kommunismus nur in dem Maße beansprucht wer­den das Integrale der verschiedenen revolutionären Kämpfe zu sein, wie der Antikapita­lismus nicht mehr als das Grundlegende, sondern nur als eines von mehreren Elemente des Kommunismus angesehen wird.“

 

bb) systemcrash: Was konkret die Formulierung des Kollektivs Bremen zum Verhältnis von Kapitalismus und anderen Unterdrückungsformen anbelangt, habe ich mit den For­mulierungen im Bremer Text keine grundsätzlichen Probleme und halte sie – nach Maß­gabe meiner vorstehenden Anmerkungen – für zutreffender als den Umformulierungs­vorschlag von TaP. Nur, sind die Bremer Formulierungen recht abstrakt, und es werden auch gar keine konkreten ‚taktischen Rückschlüsse’ daraus gezogen, sodass mir diese Aussage auch nicht besonders schwerfällt. :)

Auch mit dem Umformulierungsvorschlag von TaP habe ich allerdings keine großen Probleme; es ist dort vor allem die – in der Schlusspassage implizierte – Aufsplitterung dessen, was konkrete politische Subjekte sagen, in das, was sie als Feministinnen, als AntikapitalistInnen und als AntirassistInnen sagen, die ich nicht überzeugend finde.

Ich finde: Antikapitalistinnen sollten Feminismus und Antirassismus mitdenken – und vice versa; auch wenn ich weiß, dass die Realität oft anders aussieht.

 

cc) TaP: Mir scheint das – die Realität – ist das, was dieses – sich erst einmal schön anhörende – Integralitätspostulat fragwürdig macht: Es sind eben nicht alle Antikapitalis­tInnen feministisch und antirassistisch; und falls doch, dann in aller Regel nur so, dass dieser Anspruch nach Maßgabe der marxistischen These vom Grundwiderspruch „Kapi­talismus“ zurechtgestutzt wird.

Dagegen ordnen Feministinnen und Antirassistinnen den Antikapitalismus deutlich seltener dem Feminismus und Antirassismus unter – dies allerdings heutzutage oftmals auch nicht, weil sie von drei antagonistischen Grundwidersprüchen ausgehen würden, sondern weil das Analysieren und Bekämpfen von gesellschaftlichen Strukturen durch das Beschreiben und Beklagen einer Pluralität von „sozialen Ungleichheiten“ und „Un­gerechtigkeiten“ ersetzt wurde, was einfach – allzu einfach! – macht, analytische Ursa­che-Wirkungs-Postulate und strategische Prioritätensetzungen zu vermeiden.

Nun stimme ich zwar dennoch zu, dass KommunistInnen und AnarchistInnen, wenn sie ihr Ziel einer Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung ernstnehmen, sowohl femi­nistisch als auch antirassistisch als antikapitalistisch sein müssen.

Dies heißt aber nicht, dass jede Feministin – aus einem analytisch begründeten Zusam­menhang – auch Antikapitalistin und Antirassistin sein muss und auch nicht dass alle AntirassistInnen – aus einem analytisch begründeten Zusammenhang – auch Feminis­tinnen sein müssen – und das Entsprechende auch noch einmal in Bezug auf die Anti­kapitalistInnen. Es mag eine (egoistische – oder was auch immer) moralische Fehlhal­tung sein, sich nur gegen eines (oder nur zwei) der in Rede stehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zu wenden; aber dies beschädigt nicht die analytisch-strategi­sche Integrität des ‚Nur-Feminismus’, des ‚Nur-Antikapitalismus’ und des ‚Nur-Antiras­sismus’.

Warum insistiere ich an diesem Punkt so dermaßen penetrant? Weil es eine umfassen­de, strukturelle Gesellschaftsanalyse und -theorie bisher nicht gibt – auch wenn es in Form feministischer Intersektionalitäts-Studien Ansätze in diese Richtung gibt – aber oftmals um den Preis das Strukturelle zugunsten des Individuellen, das Analytische zu­gunsten des Beschreibenden und eine revolutionäre Haltung zugunsten von Reformis­mus zu vernachlässigen20. Die nach vorne weisende Abhilfe bzgl. der zuletzt genannten Mängel liegt aber nicht darin, nun wieder zur hegel-marxistischen „Totalität“ mit dem ei­nem ‚Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit’ bzw. der ‚kapitalistischen Warenlo­gik’ als „Wesen“ oder „Zentrum“ zurückzukehren;

sondern darin – gem. dem leninschen Motto „Lieber weniger, aber besser“ (LW 33, 474) – zunächst einmal realistisch zur Kenntnis zu nehmen, dass Marxismus, Feminismus und Antirassismus begrenzte Theorien für spezifische Gegenstände sind21 und dass das Integralitätspostulat jedenfalls hier und heute sowohl eine theoretische Überforde­rung darstellt als auch politisch schadet, weil es in der Praxis dazu führt, – analytisch – die Spezifik der verschiedenen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse (ihre spezifi­schen Ursachen, Funktionsmechanismen und gegenüberstehenden gesellschaftlichen Gruppen) zu vernachlässigen und – strategisch – zum marxistischen ‚Unterordnungs-Denken’ zurückzukehren oder es – unbeleckt von 50 Jahren theoretischer und politi­scher, antirassistischer und feministischer Arbeit – schlicht beizubehalten.

 

 

5. Die politik-praktischen Auswirkungen der vorstehend angesprochenen Dif­ferenzen

 

Bleibt die Frage nach den politik-praktischen Auswirkungen der vorstehend angesproc­henen Differenzen:

 

a) systemcrash formuliert dazu folgende optimistische Hypothese:

 

Egal, ob man (wie TaP) von drei Subjekten und Strategien ausgeht oder (wie system­crash) von einem Subjekt und (mindestens) zwei zugeordneten (was auch auf Bündnis­politik verweist22), so dürfte zumindest feststehen, dass auch die Mehrheiten der PoC und Frauen lohnabhängig sind und daher die konkrete taktische Orientierung im „Alltag“ vielleicht gar nicht sooo sehr different sein muss.23

 

b) TaP ist diesbzgl. ein ganzes Stück skeptischer:

 

  • Um zunächst bei der Taktik zu bleiben: Auch wenn aus beiden analytisch-theore­tischen Überzeugungen für konkrete Situationen nicht nur jeweils eine mögliche Taktik folgt,

    – so scheint mir doch auf der Grundlage meines analytisch-theoretischen Aus­gangspunktes naheliegender zu sein, zum Beispiel

    ++ zusätzlich zu FrauenLesben-Strukturen innerhalb von antikapitalistischen Zu­sammenhängen auch (klassenübergreifende) FrauenLesben-Strukturen neben antikapitalistischen Zusammenhängen für notwendig zu halten

    und

    ++ am 8. März eine FrauenLesben- (mit oder ohne Sternchen) und nicht eine ge­schlechtergemischte Demo für richtig zu halten,

    – während mit dem gegenteiligen analytisch-theoretischen Ausgangspunkt wohl naheliegender sein dürfte,

    ++ maximal FrauenLesben-Strukturen innerhalb von antikapitalistischen Zusam­menhängen für sinnvoll zu halten

    und

    ++ und für den 8. März eine geschlechter-gemischte Demo für richtig zu halten.

 

  • Und noch vor der Taktik, schon bei der Formulierung von Zielen und Forderun­gen:

    ++ Nehmen wir das linke Feindbild „Aufsichtsrats-Quotierung“: Zwar besteht m.E. kein Anlass für Feministinnen, die zugleich Antikapitalistinnen sind, eine Kampa­gne speziell für die Quotierung von Aufsichtsräten zu machen; aber es be­steht auch kein Grund, eine solche Quotierung abzulehnen, solange es über­haupt Aufsichtsräte gibt, und es ist richtig, für harte Quotierung auf allen Qualifikations- und Bezahlungsstufen (Aufsichtsräte und Unternehmensvorstän­de eingeschlossen, solange es solche gibt) zu kämpfen.

    ++ Feministinnen, die auch Antikapitalistinnen oder auch nur Sozialreformerinnen sind, fordern die Abschaffung der §§ 218 - 219b StGB und die Krankenkassenfi­nanzierung auch von solchen Abbrüchen, die nicht unter die medizinische oder kriminologische Indikation fallen24. Dies heißt aber nicht, daß eine Abschaffung der strafrechtlichen Regelungen ohne Änderung der Finanzierungsregelungen abzulehnen oder für egal zu halten, weil sie ‚nicht antikapitalistisch bzw. sozial­staatlich genug’ wäre.

 

  • Und noch vor Taktiken und auch vor Forderungen scheint mir das Problem zu bestehen, dass für viele Männer schwierig zu sein scheint, auch nur die Dring­lichkeit des Problems nachzuvollziehen (und zwar sowohl auf der Ebene des analytischen Stellenwertes als auch des konkreten Funktionierens des Patriar­chats). Nur so erklären sich m.E. – immer wieder zu lesende und zu hörende – Formulierungen, die den Wert bestimmter konkreter feministischer Reformforde­rungen und auch der Überwindung des Patriarchats als Ganzes, ohne gleichzei­tig oder vorherige Überwindung des Kapitalismus, bestreiten.

    ++ Für Frauen ist das Patriarchat nicht ein weiteres ‚Thema, mit dem man sich mal beschäftigen kann, wenn in Sachen Antikapitalismus nichts Dringendes an­steht’, sondern etwas mit dem sie sich – sei es feministisch-bewußt oder alltags-pragmatisch – tagtäglich herumschlagen müssen; und entsprechend wichtig sind Erleichterungen auf diesem Gebiet und wäre eine vollständige Überwindung des Patriarchats (auch ohne gleichzeitige oder vorherige Überwindung des Kapitalis­mus!).

    ++ Und hinzukommt: Auch wenn in den imperialistischen Metropolen in den ver­gangenen Jahrzehnten die letzten Reste von rechtlicher Ungleichheit der Ge­schlechter weitgehend beseitigt (und das patriarchale Geschlechterverhältnis in­soweit in seiner Funktionsweise an das kapitalistische Klassenverhältnis angenä­hert) wurde, enthält das Geschlechterverhältnis – nicht nur in Bezug auf sexuelle/sexualisierte Gewalt – weiterhin eine erhebliche Komponente persona­ler Herrschaft, während kapitalistische Herrschaft und Ausbeutung weitgehend versachtlicht – via Markt und Staat – funktionieren:

    Jedenfalls in Großbetrieben bekommen die meisten Lohnabhängigen die für sie ‚zuständigen’ KapitalistInnen nie zu Gesicht und die andere KapitalistInnen ma­chen sich ohnehin nur im Wege der Konkurrenz zwischen den Einzelkapitalen bemerkbar. Wenn auch nicht so stark wie das kapitalistische Klassenverhältnis geht auch Rassismus mit einem hohen Maß an Segregation einher. Dagegen spielt sich das patriarchale Geschlechterverhältnis – außer für separatistische Lesben – auch in der eigenen Wohnung und im eigenen Bett ab – einer von mehreren Gründen für die feministische Parole, daß das Private politisch sei.

 

  • Das grundlegende Problem zeigt sich – neben verschiedenen kleineren Proble­men25 – m.E. auch in dem von systemcrash in FN 22 angeführten ak- und dem darin enthaltenen Gramsci-Zitat: Ich stimme zwar vollständig zu, daß sich Bünd­nisse (mit ReformistInnen in nicht-revolutionären Zeiten) und eine (langfristig) „revolutionäre Politik des ‚Bruchs’“ nicht ausschließen. Aber das Zitat enthält schon vor jedem Argument eine Vorab-Verengung der zu diskutierenden Fragen, wenn dort allein von „einer Klasse, die die Erneuerung anstrebt,“ und von den „Schützengräben und Befestigungsanlagen der herrschenden Klasse“ (meine Hv.) die Rede ist.

 

systemcrash: Ich antworte mit einem Zitat aus unserem gemeinsamen Text „Den Klas­sen-Begriff diskutieren!“ vom Januar diesen Jahres:

„‚die ‚systemüberwindene perspektive’ [entsteht] durch den klassenkampf der arbeiterIn­nenklasse, dem der antirassismus und der antipatriarchale kampf ZUGEORDNET wird’ […] Bei dieser Formulierung [von systemcrash] ist zu berücksichtigen, dass die ArbeiterInnenklasse im oben definierten Sinne bei weitem nicht nur aus weißen Männern, sondern mehrheitlich aus direkt und indirekt lohnabhängigen Frauen sowie – im globalen Maßstab – weit überwiegend aus Schwarzen besteht. Als Kehrseite der glei­chen Medaille ist bei der abweichenden Formulierungen von DGS (drei potentiell revolu­tionäre Subjekte: Lohnabhängige, Frauen, Schwarze) zu berücksichtigen, dass die Mehrheit der Frauen und Schwarzen ihrerseits lohnabhängig ist. Die verbleibende theo­retische Differenz ist also so gering, dass sie dem Finden einer gemeinsamen politi­schen Linie in konkreten Kämpfen nicht entgegenstehen sollte.“ (https://linksunten.indymedia.org/de/node/163936)

 

 

6. Reichen die heutigen inhaltlichen Gemeinsamkeiten in der revolutionären Linken – hier: insbesondere bzgl. des Verhältnisses der verschiedenen gesell­schaftliche Strukturelemente zueinander – für eine gemeinsame Organisati­onsgründung aus?

 

Auch wenn systemcrash TaP wegen Differenzen zum Geschlechterverhältnis schon mehrfach die politische Freundschaft kündigte, halten wir es – mittlerweile – dennoch für denkbar, dass sich die hier besprochenen politischen Differenzen in einem Bündnis (oder „Block“) revolutionärer Gruppen jedenfalls zeitweilig umschiffen ließen, weil sich ein solches Bündnis (bzw. ein solcher „Block“) auf Positionierungen und politische Pra­xis zu unstrittigen Fragen beschränken könnte, und es in strittigen ‚Bereichen’ bei den Positionierungen und der politischen Praxis der verschiedenen beteiligten revolutio­nären Gruppen bleiben könnte.

Freilich stößt auch diese Methode an Grenzen und ist unter dem Gesichtspunkt antipa­triarchaler und antirassistischer Kämpfe eine größere Zumutung als unter dem Ge­sichtspunkt antikapitalistischer Kämpfe. Denn letztlich widerspricht die Methode des Ausklammerns der These, dass nicht nur die Klassenverhältnisse, sondern auch Patri­archat und Rassismus keine bloßen Teilbereiche, sondern grundlegende Strukturen sind, die die gesamte Gesellschaft mitprägen.

Noch weniger kommt die Methode des Ausklammerns für eine revolutionäre, politische Organisation in Frage; eine revolutionäre Organisation kann schlecht offen lassen, ob sie von einem Grundwiderspruch (einer gesellschaftlichen Grundstruktur) und folglich einem potentiell revolutionären Subjekt oder drei Grundwidersprüchen und folglich drei potentiell revolutionären Subjekten (je eines für jeden Grundwiderspruch) ausgeht.

Schon ein Bündnis und zumal eine Organisation kommt schnell an die Grenze der Handlungsfähigkeit, wenn ein Teil des Bündnisses bzw. der Organisation drei revolutio­näre Subjekte, die an drei Frontlinien kämpfen, zu formieren versucht, und ein anderer Teil stetig danach trachtet, zwei dieser potentiell revolutionären Subjekte entlang der Klassengrenzen zu spalten.

Eine revolutionäre Organisation wird sich also spätestens bei Gründung entscheiden müssen:

 

  • Gibt es klassenübergreifende Interessen von Frauen und klassenübergreifende Interessen von Schwarzen, ist es sinnvoll sie (weiter)zuentwickeln und legitim, zu versuchen, diese gegenüber Männern und Weißen durchzusetzen?

  • Geht es es um Selbsttätigkeit von FrauenLesben und Schwarzen oder 4/5-Pater­nalismus26 der Lohnabhängigen für Frauen und Schwarze?

Die Antwort von systemcrash auf die zuletzt gestellte Frage lautet: Es geht nicht um ein ent- oder -weder, sondern um ein sowohl als auch, da Frauen und Schwarze sowohl als Schwarze und Frauen ‚vorgeprägt’ sind als auch gleichzeitig als Lohnabhängige. Zwischen beiden ‚Vorprägungen’ besteht keine chinesische Mauer, sondern ein – wenn schon kein theoretisch-historisch-logischer –, so doch zumindest ein lebensweltlicher (und damit wahrhaft integraler) Zusammenhang.

 

Die Antwort von TaP auf diese Frage ergibt sich aus anderen Stellen dieses Textes, die an dieser Stelle nur um den kurzen Hinweis ergänzt werden soll, dass zwar die meisten, aber nicht alle Frauen und Schwarzen lohnabhängig sind, aber auch die Schwarzen und Frauen, die nicht lohnabhängig sind, negativ von Rassismus und Patriarchat betrof­fen sind – und sich dagegen wehren können sollen.

 

Die Fußnoten zu diesem Artikel, die zum Teil die Kontroversen aus dem Haupttext fortführen, findet sich in der .pdf-Version des Artikels.

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in einem interview mit der amerikanischen feministin Nancy Frase auf klasse gegen klasse heisst es: 

 

"Etwas, was uns sehr beeinflusst hat beim Schreiben der Erklärung, die auch in The Guardian erschien, war die Sprache der Argentinier*innen. Sie hatten ein fantastisches, integrale[s] und strukturelles Verständnis dessen, was die Gewalt an Frauen ausmacht. Sie beschuldigen nicht einfach die „schlechten Typen“. Und wir haben dies als Perspektive genommen, um die Gewalt an Frauen als etwas zu nehmen, dass sich an die 99 Prozent der Frauen richten könnte. Ich glaube, wir haben viel voneinander zu lernen. Niemand hat eine vollständige Vision. Und es ist sehr bewegend die gegenseitige Unterstützung zu sehen. Eines der Dinge, die durch die Demonstrationen entstand sind die Gruppen, die sich in den verschiedenen Teilen des Landes organisieren und ihre Aktionen aufnehmen und dann die Videos untereinander teilen. Dadurch erkennen wir, dass etwas passiert und dass wir Teil von etwas viel größerem sind...
Ich möchte noch eine letzte Sache sagen. Meiner Meinung nach ist die strukturelle Basis der Unterordnung der Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft [hier müsste es besser "bürgerliche gesellschaft" heissen, da die bürgerliche gesellschaftlich sich nicht auf das kapitalverhältnis reduziert, auch wenn der kapitalismus möglicherweise die "dominante" produktionsweise darstellt. vergl: 
https://systemcrash.wordpress.com/2016/02/08/trend-vortrag-gechlecht-und-klasse/ ] die Spaltung zwischen wirtschaftlicher Produktion und sozialer Reproduktion. Diese Spaltung gab es nie vorher in der Geschichte. Diese Aktivitäten waren immer an einem Ort verbunden. Ich glaube, dass die Form dieser Spaltung sich in der Geschichte des Kapitalismus bedeutend verändert hat, im Verlaufe verschiedener Akkumulationsregime. Trotzdem ist es die grundlegende Achse und ich würde sagen, dass jede feministische Politik, die sich ausschließlich auf einen der beiden Pole stützt, ohne die Überlappungen und tiefen Verbindungen zu betrachten, nicht die Emanzipation der Frauen erreichen kann." https://www.klassegegenklasse.org/nancy-fraser-es-ist-moeglich-einen-radikalen-feminismus-mit-klarem-profil-aufzubauen/

ich stimme diesen aussagen 100%ig zu; allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die trennung von produktion und reprodktion wirklich so hermetisch ist, wie Fraser behauptet. und das mit der "grundlegenden achse" scheint mir auch etwas oberflächlich zu sein (es ist bestenfalls eine erscheinungsform); die "grundlegende achse" scheint mir eher das "wertgesetz" (materialisiert als "wertform") zu sein.

ob allerdings die trennung der reproduktion in "weiblicher" und "männlicher wertsphäre" in einer "herrschaftslosen" gesellschaft überwunden sein wird - diese frage kann ich beim besten willen nicht beantworten. ich neige allerdings dazu, zu sagen, das dies NICHT der fall sein wird. vergl: https://systemcrash.wordpress.com/2012/12/09/materialzusammenstellung-zu...

eine überarbeitete fassung meines blog-artikels ist auch bei scharf links gespiegelt:

 

http://www.scharf-links.de/51.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=60798&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=589b0c6589