Afghanistan kapert NGO-Mitarbeiter in Laskar Gah

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Seit dem 10. April sind neun Mitarbeiter der italienischen Hilfsorganisation Emergency in der Hand des afghanischen Geheimdienstes (Afghan National Directorate of Security). Im Zuge einer Isaf-gestützten Operation wurden sie nach einem unter dubiosen Umständen erfolgten Fund von Sprengstoff und Waffen in einem Lagerraum des Krankenhauses der italienischen Ärzteorganisation im Städchen Laskar Gah in der südafghanischen Provinz Helmand gefangen genommen. Bis heute wurde keine formale Anschuldigung erhoben. 

Es ist von einem terroristischen Komplott die Rede, was bisher aber lediglich auf Behauptungen - etwa des Provinzgouverneurs - beruht. Diesen sollen speziell die drei Italiener töten wollen. Einem von ihnen wird unterstellt, für die Unterstützung eines Anschlags in zwei Phasen eine halbe Million Dollar angenommen zu haben. In einer ersten Phase sei ein Selbstmordattentat mit möglichst vielen Verletzten an einem öffentlichen Ort gewesen. Der Gouverneur sei anschließend durch einen weiteren Selbstmordanschlag bei einem Besuch der Verletzten im Krankenhaus von Emergency zu töten gewesen. Weiterhin kursieren Gerüchte, dass man den Ärzten der Organisation vorwirft, bei verletzten afghanischen Soldaten unnötige Amputationen vorgenommen zu haben. Dies steht in klarem Widerspruch zu den unzweifelhaften ethischen Grundsätzen der Organisation, die zudem explizit für eine medizinische Versorgung ersten Ranges einsteht.

 

Die italienische Ärzteorganisation ist international bekannt und für ihre medizinischen Leistungen hoch geschätzt. Keine andere ausländische Organisation genießt in Afghanistan so viel Ansehen. Die Emergency-Teams haben seit Aufnahme ihrer Arbeit in Afghanistan im Jahr 1999 über 2,6 Millionen Menschen behandelt. Angesichts von einer Bevölkerung von 25 Millionen Menschen wurde demnach in etwa jeder zehnte Afghane in Einrichtungen der italienischen Hilfsorganisation behandelt. Ihr Selbsverständnis hat ihnen trotz des Ansehens in der afghanischen Bevölkerung im Kreise aller militärisch bzw- kämpferisch Konfliktbeteiligten gewichtige Feinde beschert. Emergency stört alle: die afghanische Regierung, die amerikanischen und britischen Streitkräfte, die Taliban und nicht zuletzt den afghanischen Sicherheits- bzw. Geheimdienst NSD. Der Leiter des NDS Amrullah Saleh gilt als erzfeind Emergency. Exakt vor zwei Jahren warf er den Leuten von Emergency vor, dass sie Terroristenhelfer oder gar selbst Terroristen seien, weil sie auf absolute Unabhängigkeit bestehen und jeden Verletzten, der eingeliefert wird, ohne zu fragen behandeln.

 

Die übergroße Mehrheit der von Emergency behandelten Kriegsversehrten besteht aus zivilen Opfern des seit Jahren andauernden Krieges. Emergency verweigert aber auch keinem der Kontrahenten in den kriegerischen Auseinandersetzungen, einschließlich der Taliban, medizinische Hilfe. Dass Emergency unverdrossen die Gräuel des Krieges - ganz Gleich, welche Seite sie begeht - dokumentiert und sich strikt weigert, bei der Gewährleistung medizinischer Hilfe in "Gute" und "Böse" zu differenzieren, gilt als der wahre Beweggrund für den Angriff auf die italienische Hilfsorganisation. Selbst ein italienischer General, der schon KFOR- Kommandant im Kosovo und Generalstabsleiter des Südosteuropäischen Nato-Verbunds war, mutmaßte in einem für Peacereporter, einem Emergency-nahen Informationsdienst, sehr offen eine zu besagten Zwecken ausgeheckte Inszenerung hinter dem angeblichen Waffenfund im Krankenhaus der Hilfsorganisation. In Italien erwachte nach den Ereignissen vom 10. April mit ungeahnter Kraft der Teil der Bevölkerung, der seit jeher gegen die Beteiligung Italiens an den Krieg in Afghanistan und in weiten Teilen die Existenz der Organisation, die im Namen der Unabhängigkeit von Spenden lebt und wegen seiner Beteiligung an den Kriegshandlungen kein Geld vom italienischen Stat will. Im laufe der vergangenen sechs Tage (Stand: 16.4.2010 15 Uhr) unterschrieben trotz der Schwierigkeit, die Website der Organisation, deren Server nicht in der Lage war, die Masse der Aufrufe zu bewältigen, 340000 Personen eine Petition, die nichts besagt als: "Ich bin auf der Seite von Emergency". In der weitestgehend talibanfreien und daher durch Kriegshandlungen weniger geschundenen Provinz Panjshir, in der Emergency ein Kinderkrankenhaus betreibt, erfuhren einfach Bewohner der ärmlichen Region, in der hauptsächlich einfache Bauern und Kleinstviehzüchter leben von der Petition, als sie sich erkundigten, ob sie was tun könnten. Innerhalb von vier Tagen brachten sie knapp 6000 Unterchriften. Viele davon waren Fingerabdrücke - die meisten Bewohner der Provinz sind Analfabeten.

 

Unter dem Motto: "Ich bin auf der Seite von Emergency" wird am Samstag, den 17. April eine Kundgebung stattfinden. Der ursprünglich geplante Ort der Veranstaltung, die berühmte Piazza Navona, wurde aufgrund des Andrangs zur Piazza San Giovanni, die Hunderttausende aufnehmen kann, verlegt. Die Teilnehmer wollen die sofortige Freilassung der gefangenen Emergency-Leute und die Gewährleistung ihrer Rechte fordern. Die Durchsuchung erfolgte offenbar ohne Mandat, unter höchst dubiosen Umständen und mit Unterstützung von Isaf-Kräften - ganz gleich, ob die Isaf dies dementiert. Nach dem der iralienische Botschafter Claudio Glaentzer am 11. April die Gefangenen kurze Zeit sprechen konte, wurden ihm weitere Besuche verboten. Ein Gesandter des italienischen Außenministers Franco Frattini traf heute die angeblich am 15. April dorthin verlegten italienischen Gefangenen für kurze Zeit in Kabul. Ihr genauer Aufenthalsort ist ungeachtet dessen weiterhin unbekannt, wie auch der Aufenthaltsort der afghanischen Emergency-Temmitglieder. Von einer offiziellen Strafanzeige ist nichts bekannt. Die von Emergency nominierten Anwalte - drei der besten in Afghanistan, durften noch kein einziges Mal die Gefangenen Sprechen. Ebensowenig erhielten die Angehörigen Nachrichten über Zustand und Verbleib der Betroffenen. Seit heute (16.4.) haben sie durch den Besuch des Gesandten des italienischen Außenministers lediglich die Gewissheit, dass sie am Leben und, wenn auch seelisch offenbar sehr mitgenommen, körperlich wohl unversehrt sind. Der Sprecher von Amnesty International Italien mahnte den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi an, dringend die Gewährleistung der Sicherheit und die Wahrung der Rechte der gefangenen Emergency-Angehörigen durchzusetzte. Er wies ausdrücklich darauf hin, dass Amnesty zahlreiche Anzeigen über Folterhandlungen durch den afghanischen Sicherheitsdienst vorliegen. In Rom ist aufgrund der dramatischen Tatsachen mit Sicherheit von einer massenhaften Beteiligung an der Kundgebung zugunsten der gefangenen Emergency Mitarbeiter auszugehen. Die Lage ist allem gesellschaftlichen Druck in Italien zum Trotz allerdings weiterhin sehr bedenklich.

 

Der Emergency-Informationsdienst Peacereporter hat heute ein Video veröffentlicht, das Statements eines der nominierten Anwälte dokumentiert:

 

http://it.peacereporter.net/videogallery/video/12128

 

Ebenfalls ist das Video abrufbar, das die Durchsuchung des Krankenhauses, die Anwesenheit von Isaf-Angehörigen und die italienischen gefangenen zeigt:

 

http://it.peacereporter.net/videogallery/video/12119

 

Das geenterte und später polizeilich besetzte Krankenhaus in Laskar Gah ist inzwischen endgültig gerschlossen. Eine Bildergalerie aus der Zeit vor dem Angriff ist hier einzusehen:

 

http://multimedia.quotidianonet.ilsole24ore.com/?media=15105&tipo=photo&id=468209&cat_principale_page=1&canale=0&canale_page=1

 

die website vom emergency:

 

http://www.emergency.it/

 

Abschließend wird in deutscher Übersetzung der Brief des Gründers der Organisation Gino Strada dokumentiert.

 

*

 

Der Brief

 

Wir behandeln alle. Im Angesicht der Grausamkeiten des Krieges werden wir niemals schweigen.

 

Von Gino Strada

 

Lieber Direktor,

 

direkt oder mit Komplizenschaft von jemanden, der dort arbeitet, werden einige Waffen in ein Krankenhaus eingeschleust, dann wir der Startschuss für die Operation gegeben... Britische und afghanische Truppen umstellen das chirurgische Zentrum von Emergency in Laskar Gah, dass gehen sie mit gezogenen Maschinengewehren hinein und gehen dort hin, wo sie wissen, dass sie die Waffen finden werden. Soweit es uns bekannt ist, wurde kein anderer Ort durchsucht. Man geht schnurstracks zu einem Lageraum, es ist nicht einmal nötig, die mehreren Hundert Kartons auf den Regalen zu untersuchen, die beiden, in denen die Waffen liegen, stehen - was für eine Überraschung! - schon auf dem Fußboden der Räumlichkeit bereit. Eine Kamera und die Sache ist erledigt.

 

Man verhaftet drei Italiener - einen Chirurgen, einen Krankenpfleger und einen Logistiker, die einzigen in jenem Augenblick im Krankenhaus anwesenden Internationalen - und sechs Afghanen und man wirft sie in die Zellen der Sicherheitsdienste, deren Verletzungen der Menschenrechte von Amnesty International und Human Rights Watch bereits gut dokumentiert wurden.

 

Auch die Wohnungen von Emergency werden umstellt und durchsucht. Den Fünf anwesenden Personen - unter ihnen vier Italiener - wird das verlassen der eigenen Wohnungen untersagt. Das Krankenhaus wird militärisch besetzt.

 

Die Vorwürfe: "Sie bereiteten eine Verschwörung vor, um den Gouverneur zu töten, sie haben sogar eine halbe Million Dollar genommen, um den Anschlag durchzuführen". Der jenige, der das sagt, ist werder ein Richter, noch die Polizei. Es ist einfach der Sprecher des Gouverneurs selbst.

 

Nicht einmal eine Demenzkranker könnte einem solchen Vorwurf Glauben schenken. Warum um alles in der Welt sollten sie es tun? Der Großteil der Raketen und der Bomben in Laskar Gah hat den Palast des Gouverneurs zum Ziel. Wer wäre so blöd, eine halbe Million für einen Anschlag zu bezahlen, wen es jeden Tag Leute gibt, die versuchen, einen solchen umsonst durchzuführen?

 

Diese Inszenierung ist zum Scheitern verurteilt, der Komplizenschaft von wenigen, mittelmäßigen Personen - was für eine Schande für unser Land! - die versuchen, sie beim Versuch, Emergency, seine Arbeit und sein Personal zu diskreditieren, durch Unterstellungen und Verleumdungen aufrecht zu erhalten.

 

Warum startet man einen Angriff, warum erklärt man einem Krankenhaus en Krieg? Emergency und sein Krankenhaus werden beschuldigt, auch die Taliban, den Feind, zu behandeln. Aber haben sie, die Politiker aller Couleur, nicht jahrelang gezetert, dass Italien ib einer Friedensmission in Afghanistan ist? Kann man bei einer Friedensmission Feinde haben?

 

Jedenfalls ist der Vorwurf wahr. Noch vel mehr: wir alle von Emergenzy legen ein volles Geständnis ab. Ein echtes Geständnis, diesmal. Nicht wie das "Schockgeständnis" des Emergency-Personals, das in den Schlagzeilen unseren heimischen Journalismus gelandet ist.

 

Wir behandeln auch die Taliban. Jawohl. Und wir halten uns dabei an die ethischen Grundsätze des ärztlichen Berufes, und wir beachten die internationalen Konventionen auf dem Gebiet der Versorgung von Verletzten. Wir behandeln sie zuallererst aufgrund unseren moralischen Geweisens, als menschliche Wesen, die sich weigern, zu töten oder andere menschliche Wesen sterben zu lassen. Wir behandeln die Taliban, wie wir die Mujaheddin, die Polizisten und die afghanischen Soldaten, die Sunniten, die Schiiten, die Weißen und die Schwarzen, die Männer und die Frauen behandeln und behandelt haben. Wir behandeln vor Allem die afghanischen Zivilisten, die die große Mehrheit der Opfer jenen Krieges darstellen. Wir behandeln jene, die es brauchen und wir glauben, dass derjenige, der einen solchen Bedarf hat das Recht hat, behandelt zu werden.

 

Wir glauben, dass auch der grausamste der Terroristen Menschenrechte hat - jene, die ihm wegen der alleinigen Tatsache, dass er geboren ist, zustehen - und dass diese Rechte geachtet gehören. Behandelt zu werden ist ein Grundrecht, das in den wichtigsten Dokumenten der sozialen Kultur, so man will, der "Politik", des vergangenen Jahrhunderts verbrieft ist. Und wir von Emergency beachten es. Wir erklären uns mit Stolz für "schuldig".

 

Wir behandeln alle. In Afghanistan haben wir es nillionenfach getan. Im krankenhaus von Laskar Gah haben wir es sechsundsechzigtausend Mal getan. Ohne dass wir im Angesicht eines Verletzten in unserer Erste-Hilfe-stelle gefragt hätten: "Bist du auf der Seite Karzais oder Mullah Omars?". Schon gar nicht haben wir dies die extrem vielen Kinder gefragt, die wir in diesen Jahren von minen, Bomben, Raketen und Kugeln verletzt gesehen haben. 2009 waren 41% der im Krankenhaus in Laskar Gah eingelieferten Verletzten weniger als 14 Jahre alt. Kinder. Wir haben deren Geschichten erzählt und deren Gesichter gezeigt. Die echten Bilder des Krieges und seiner Wahrheit.

 

"Emergency betreibt Politik", lautet der andere Vorwurf, den die Politiker merkwürdigerweise gegen uns richten. In Wahrheit möchten sie nur, dass wir den Mund halten, dass wir jene gemarterten Gesichter und Körper zeigen. "Behandelt sie und Schluss, macht keine Politik". Wer das behauptet hat eine sehr ungehobelte Vorstellung von Politik.

 

Nein, wir weigern uns, zu schweigen und jene Bilder zu verstcken. Seit geraumer Zeit führt die Nato das durch, was sie als "die wichtigste miltärische Kampagne seit Jahrzehnten" bezeichnet: das erste Opfer ist die Information. Die Journalisten, die derzeit die Bürger in der Welt über das, was derzeit in der Region Helmand geschieht sind extrem selten. Die echten Journalisten sind unbequem, wie das Krankenhaus von Emergency, das lange Zeit der einzige westliche "Zeuge" gewesen ist, der die "Kriegsgräuel" hat sehen können". Wir werden nicht schweigen.

 

Emergency hat eine hohe Vorstellung von Politik, sie denkt Politik als den Versuch, einen Weg zusammen zu sein und Gemeinschaft zu sein zu finden. Einen Weg, um unter Wahrung unterschiedlichen Seins zusammen zu leben, und zu vermeiden, uns gegenseitig umzubringen. Emergency steckt in diesem Versuch drin. Wir glauben, dass der Gebrauch von Gewalt per se weitere Gewalt generiert. Wir glauben, dass nur gravierend unzulängliche Gehirne den Krieg lieben, herbeisehnen und anpreisen können. Wir glauben nicht an den Krieg als Instrument, es ist grauenhaft und monströs dumm zu glauben, dass es funktionieren könnte. Erinnern wir uns an den "Krieg, um alle Kriege zu beenden" vom amerikanischen Präsidenten Wilson? Das war 1916. Wie kann man glauben, dass man den Kriegen ein Ende setzen kann, wenn man sie weiter führt? Der letzte Krieg wird, wenn überhaupt, ein bereits geendeter sein und nicht einer, der noch im Gange ist.

 

Die Antwort von Emergency ist einfach. Wir haben von Albert Einstein gelernt, dass man Krieg nicht verschönern kann, dass es nicht möglich ist, ihn weniger brutal zu machen: "Krieg kann mann nicht humanisieren, Krieg kan man nur abschaffen". In unserer Vorstellung von Politik und in unserem Gewissen als Bürger ist für Krieg kein Platz. Wir haben ihn aus unserem mentalen Horizont auageschlossen. Wir verstoßen den Krieg und wir wünschten seine Abschaffung, so wie die Sklaverei abgeschafft wurde.

 

Utopie? Nein. Wir sind überzeugt, dass die Abschaffung des Krieges ein zu verwirklichendes politisches Projekt ist, und das mit hoher Dringlichkeit. Deswegen können wir im Angesicht des Krieges - jeden Krieges - nicht schweigen. Wir sind schuldig des Vorschlagens eines solchen Projektes.

 

So, wir haben Euch die Antworten gegeben. Und jetzt? Ein Mann aus Pistoia definierte die Arbeit von Emergency so: "Olivenzweig im Mund und Pfeffer i Arsch". Jetzt ist Zeit, dass die, die "zuständig" sind, so arbeiten, und "unsere Jungs" da raus holen. Sie können es tun, gut und zügig. Wir werden sie am samstag daran erinnern, ab halb zwei auf der Piazza Navona in Rom.

 

 Originaltext: http://www.repubblica.it/esteri/2010/04/15/news/lettera_gino_strada-3358...

 

 

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