Ein grüner Landtagsabgeordneter hat bei einer parlamentarischen Anfrage zum Thema NSU einige Fragen gestrichen – auf Anraten des Innenministeriums. Die Antworten des SPD-Ministers lassen viele Fragen offen. Die Grünen wollen dennoch keinen Untersuchungsausschuss.
Eine klassische Aufgabe von Parlamentariern ist die Kontrolle der Regierung. So hat es Alexander Salomon gelernt. Und deshalb formulierte der angehende Jurist und Rechtsextremismus-Experte der grünen Landtagsfraktion eine lange Frageliste zum Thema Polizistinnenmord in Heilbronn sowie Rechtsextremismus und NSU in Baden-Württemberg. Wie der Abgeordnete jetzt Kontext berichtete, hat er diese Liste vorab dem vom Koalitionspartner SPD geführten Innenministerium vorgelegt. Auf Bitte des Ministeriums hat er einige Punkte gestrichen. Grund: Er hätte darauf keine Antwort bekommen. "Entweder weil die Akten beim NSU-Prozess in München oder weil sie laut Bundes- oder Landeskriminalamt geheim sind." Ein ungewöhnlicher Vorgang.
Nun will der 27-jährige Abgeordnete aus dem Wahlkreis Karlsruhe II die nächste Sitzung des Innenausschusses am 27. September nutzen, um sich von Innenminister Reinhold Gall (SPD) über weitere NSU- und Rechtsextremismus-Fragen informieren zu lassen – allerdings in nicht öffentlicher Sitzung.
Eine andere Möglichkeit wäre – nach dem Vorbild von Bayern, Thüringen, Sachsen – die Berufung eines eigenen Untersuchungsausschusses. Denn der hat wesentlich mehr Rechte. Doch das steht nach Angaben von Salomon derzeit nicht auf der Tagesordnung. Grund: "Wir haben da eine schwierige Konstellation, da ein Untersuchungsausschuss als Misstrauen gegenüber dem Innenminister verstanden werden könnte." Er bleibe "immer als letztes Mittel", will der Karlsruher Abgeordnete einen U-Ausschuss zum Thema NSU/Rechtsextremismus nicht ausschließen.
Das sieht der Stuttgarter Rechtsextremismus-Experte und Buchautor Stephan Braun (53) anders. Der frühere SPD-Landtagsabgeordnete ist mit den Antworten seines Parteifreunds Reinhold Gall (56) nicht zufrieden: "Der Umfang des 22 Seiten starken Papiers steht diametral im Gegensatz zum Erkenntnisgewinn." Weitere öffentliche Antworten seien zwingend erforderlich.
Im Gegensatz zu den Grünen plädiert Stephan Braun für einen NSU-Untersuchungsausschuss in Stuttgart, empfiehlt aber, den NSU-Abschlussbericht des Deutschen Bundestags abzuwarten, der Anfang September vorliegen wird. "Auch da wird es viele offene Fragen geben, die Baden-Württemberg betreffen", vermutet der Rechtsextremismus-Experte.
Das scharfe Schwert der Abgeordneten schwangen die Regierungsfraktionen schon früher mehr als zögerlich. Grün-Rot wollte vor zwei Jahren nicht einmal die EnBW-Affäre des früheren Ministerpräsidenten Stephan Mappus unter die Lupe nehmen. Angeblich, weil es keine Akten gegeben habe. Es kam dann anders.
NSU-Untersuchungsausschuss für Baden-Württemberg
Ein hiesiger U-Ausschuss könnte auch die Arbeit der Verfassungsschützer im Südwesten seit den 90er-Jahren unter die Lupe nehmen. Denn denen wirft Innenminister Reinhold Gall indirekt vor, vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Mangels Quellen wollen die früheren Präsidenten des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV), Helmut Rannacher, CDU, (bis 2005) und Johannes Schmalzl, FDP, (bis 2007), keinen Zugang zur rechtsextremen Szene gehabt haben. Das Gleiche gilt für die Oberregierungsrätin Bettina Neumann (51), die bis 2011 knapp 18 Jahre LfV-Leiterin des Referats Rechtsextremismus war. Man hätte deshalb die Kontakte zum NSU nicht mitbekommen, beteuerten die drei Führungskräfte.
Reinhold Gall, gelernter Fernmeldetechniker und mittlerweile der fünfte SPD-Innenminister in Baden-Württemberg, widerspricht dem mit aller Deutlichkeit: "Nicht zutreffend sind Äußerungen, dass die Sicherheitsbehörden keine Kenntnisse über Personen, Gruppierungen oder Strukturen der rechtsextremistischen Szene in Baden-Württemberg hatten, die heute in Verbindung mit dem NSU und dessen Umfeld gebracht werden können."
Aufgeklärt werden müsste auch die Rolle des baden-württembergischen Verfassungsschutzes bei der Gründung des Ku-Klux-Klans in Schwäbisch Hall. Ein Beamter der Behörde hat dem Klan 2002 verraten, dass dessen Anführer abgehört werden soll. Der Tippgeber hätte wegen Geheimnisverrats strafrechtlich und disziplinarrechtlich belangt werden können, wurde aber nur in eine andere Behörde versetzt.
Nicht zuletzt deshalb forderten Edith Sitzmann und Uli Sckerl, die Fraktionsvorsitzenden der Landtagsgrünen, vor wenigen Tagen Aufklärung über die Verbindungen zwischen dem Klan und den Schlapphüten in der Taubenheimstraße 85 A in Stuttgart-Bad Cannstatt. Das Landesamt müsse generell auf den Prüfstand gestellt und einer stärkeren parlamentarischen Kontrolle unterzogen werden. Ganz aufgelöst werden, wie es die Grünen einmal gefordert haben, soll der Verfassungsschutz aber nicht.
Dass viele Fragen in Sachen Ku-Klux-Klan noch zu klären sind, beweist auch die neueste Enthüllung des "Haller Tagblatts" über die Verstrickung von zwei Polizisten. Timo H. und Jörg W. hatten beteuert, nichts über die rassistische Ausrichtung des Klans gewusst zu haben. Der Zeitung liegen jedoch dagegen Dokumente vor, die belegen, dass die Beamten "die weiße Rasse" erklärtermaßen verteidigen, schützen und voranbringen wollten. Darauf hätten sie einen Schwur geleistet und dies mit ihrem Blut besiegelt. Zudem hätten sie eine selbst verfasste Abhandlung zu den Themen Rasse, Religion und Politik eingereicht. Nichts davon steht im Gall-Bericht.
Zumindest gegen Jörg K., so das "Haller Tagblatt", seien bis vor Kurzem mehrfach Beschwerden über dessen rassistische Haltung eingegangen. Beide Beamte sind weiter im Dienst. Beide arbeiteten in der gleichen Dienststelle, in der auch die 2007 getötete Polizistin Michèle Kiesewetter tätig war, einer war am Tattag ihr Gruppenführer.
Die Grünen hoffen nun auf den Innenminister. Der solle die Öffentlichkeit in Sachen Rechtsextremismus und NSU "noch mehr informieren als bisher", fordert Alexander Salomon. Er habe schließlich Zugang zu den Akten. Galls Antwort auf den gesäuberten Fragenkatalog sei jedenfalls schon aufschlussreich gewesen, sagt Salomon. Die Stellungnahme habe gezeigt, dass Baden-Württemberg ein reales Naziproblem habe und dass die Berichte des Verfassungsschutzes lückenhaft seien.
Dem Grünen werden die Fragen bei der nicht öffentlichen Sitzung des Innenausschusses am 25. September kaum ausgehen. Fragt sich nur, ob die Öffentlichkeit damit einverstanden ist, dass die Antworten des Innenministers geheim bleiben. Oder ob der öffentliche und innerparteiliche Druck bei SPD und Grünen nicht doch so groß wird, dass die Berufung eines Untersuchungsausschusses unvermeidlich ist.
Kontext hat die Ungereimtheiten und Lücken in Galls Antworten untersucht. Das Ergebnis gibt es hier als PDF-Download.