Prügel und Brandanschläge – Rechtsextreme terrorisieren den Szenebezirk. Die Polizei rät: Rollläden runter. Es geht um nichts weniger als den Kampf um die Straße, sagt die Bürgermeisterin.
Von Sebastian Leber
Donnerstagfrüh, kurz nach zwei, Claudia von Gélieu blickt durch das Fenster ihres Schlafzimmers im ersten Stock und wundert sich über das grelle Flackern. Es ist ihr Auto. Und es brennt.
Ein paar Tage später erinnern bloß noch der Rußfleck in der Einfahrt und zusammengekehrte Schrottteile an den Anschlag. Es sind die Reste von Klimaanlage und Stoßstange, sagt Christian von Gélieu. Sie hätten Glück gehabt, hat ihnen der Sachverständige der Versicherung erklärt. Die Flammen hätten leicht auf das Dämmmaterial des Hauses übergreifen können. Die Gélieus ärgern sich, dass die Polizei in ihrer Pressemitteilung zu dem Vorfall schrieb: „Menschen waren nicht in Gefahr.“ Überhaupt die Polizei. Christian von Gélieu sagt: „Wir fühlen uns allein gelassen.“
Das Reihenhaus des Ehepaars liegt im Süden des Neuköllner Stadtteils Rudow. 400 Meter weiter beginnt Brandenburg. Sie ist Politikwissenschaftlerin, er Richter. Der Anschlag auf ihr Auto ist Teil einer Serie von Übergriffen im Bezirk, die mutmaßlich von Rechtsextremisten begangen wurden. Seit Sommer vergangenen Jahres gab es mehr als 80 Körperverletzungen, Drohungen, eingeschmissene Scheiben. Und immer wieder Brandsätze. Die Koordinierungsstelle der Berliner Register, die rechte Straftaten dokumentiert, sieht eine „extreme Steigerung gegenüber den Vorjahren“ und eine Welle der Einschüchterung, die man in keinem anderen Bezirk finde.
Außenstehenden ist das unbegreiflich: Warum gerade im roten Neukölln? Dem Arbeiter- und Migrantenbezirk, seit 16 Jahren SPD-regiert, Multikulti-Sehnsuchtsort. Man fürchtet hier steigende Mieten, den Gang zum Jobcenter, womöglich kriminelle Familienclans. Aber Rechtsextreme?
Die Polizei riet ihnen, tagsüber die Rollläden unten zu lassen
Tagsüber auf der Straße sieht man sie nicht. Sie haben weder kahlrasierte Schädel noch Springerstiefel. An ihren Tatorten hinterlassen sie keine Bekennerschreiben. Trotzdem glauben Ermittler: Hier geht jemand sehr konzentriert vor.
Die Anschläge treffen Buchhändler, Politiker und Privatpersonen. Was alle eint, ist ihr jahrelanges Engagement gegen rechts. Die Gélieus arbeiten ehrenamtlich in der Galerie Olga Benario, nicht weit vom U-Bahnhof Karl-Marx-Straße. Sie organisieren Ausstellungen über den Nationalsozialismus, über Judenhass, Migration und Menschenrechte. Mehrfach sind die Scheiben der Galerie eingeworfen worden, die Tür wurde beschädigt, es gab Hetze im Internet.
Das hinterlässt Spuren, sagt Claudia von Gélieu. Die Einschüchterung wirke. Vor jeder Ausstellung frage sie sich: Kann ich das Risiko noch verantworten? Vor sich selbst, aber auch vor den Menschen, die in den Wohnungen über den Galerieräumen leben. Die Polizei riet ihnen, tagsüber die Rollläden unten zu lassen. Leider habe das dazu geführt, dass viele in der Straße gar nicht mehr wüssten, dass es die Galerie gibt. „Damit haben die Nazis ihr Ziel ein Stück weit erreicht“, sagt Christian von Gélieu.
Seit dem Brandanschlag auf sein Auto fühlt er sich nachts auf der Straße unwohl. Sie wollen nun eine Garage bauen und eine Überwachungskamera installieren.
Die Polizei habe sich seit dem Anschlag nicht mehr gemeldet. Christian von Gélieu sagt: „Was sind das für Ermittlungen, bei denen nicht mal die Nachbarn befragt werden, ob jemand etwas Ungewöhnliches gesehen hat?“ Einem fiel kurz vor dem Anschlag ein schwarzer SUV auf, der mit laufendem Motor in der Straße stand. Ein anderer wunderte sich über den Mann, der an allen Briefkästen die Namen ablas. Die Polizei sagt dazu, selbstverständlich werde in dem Fall ermittelt, und zwar mit Hochdruck. Das Befragen von Zeugen sei jedoch nur ein kleiner Teil der Ermittlungen – der viel größere bleibe für die Bevölkerung unsichtbar.
Bis 2016 hatte eine spezielle Ermittlungsgruppe die Nazis im Blick
Die Opfer der Anschläge haben verschiedene Theorien, weshalb die rechte Gewalt hier so erstarkt ist. Die eine lautet: Abwesenheit des Staates. Es gab eine Ermittlergruppe, die sogenannte EG Rechtsextremismus, bestehend aus drei Beamten des Polizeiabschnitts 65. Die Männer hatten Überblick über die rechte Szene des Bezirks, statteten Vorbestraften Besuche ab, waren bei Aufmärschen und kannten Plätze wie den Imbiss am U-Bahnhof Rudow, an denen sich Nazis trafen. Ihre Botschaft war: Wir haben euch im Blick.
2016 wurde die EG unter dem damaligen Innensenator Frank Henkel (CDU) eingespart oder, wie es in einer Stellungnahme der Polizei heißt, „organisatorisch modifiziert“ und „zur Erreichung eines effizienten, vernetzten und synergetischen Zusammenwirkens polizeilicher Ressourcen neu ausgerichtet“. Schwerer Fehler, sagen Kritiker. Als der Ermittlungsdruck weg war, hätten sich die Nazis wieder aus der Deckung getraut.
Der zweite mögliche Grund heißt Sebastian T. Ein mehrfach verurteilter Neuköllner Neonazi, der in der Vergangenheit Menschen angriff, einem Polizisten ins Gesicht schlug, ihn später bedrohte. T. musste ins Gefängnis wegen gefährlicher Körperverletzung. Kurz nach seiner Freilassung begann die neue Gewaltserie.
Sebastian T. war mal Chef der Neuköllner NPD. Er zählt aber auch zum Umfeld der sogenannten „Freien Kräfte Berlin Neukölln“, eine Gruppe, die ihren Bezirk von „Vaterlandshassern reinigen“ möchte. Im Internet hat sie Adressen möglicher Anschlagsziele veröffentlicht: von jüdischen Einrichtungen, von Parteien und linken Vereinen. „Damit jeder weiß, wo der Feind wohnt“, steht unter einer Karte. Mirjam Blumenthal von der SPD ist ein solcher. Seit auch ihr Auto brannte, bekommt die Politikerin Polizeischutz.
Carola Scheibe-Köster wurde bedroht und erstattete Anzeige, erfolglos
Das Büro der Neuköllner Grünen ist ebenfalls auf der Karte verzeichnet. Geschäftsführerin Carola Scheibe-Köster wird seit Monaten von anonymen Anrufern beschimpft. Die Stimmen wechseln, auch Frauen sind dabei, sagt sie. Die Unbekannten drohten, dass ihr die Kehle aufgeschlitzt werde oder dass man sie an einem Baum aufhänge. Ein Anrufer wünschte ihr, sie möge „von Neuköllner Kanaken vergewaltigt werden“. Es gibt Tage, an denen die 56-Jährige nicht mehr ans Telefon geht. Auch Carola Scheibe-Köster wurde geraten, tagsüber den Rollladen unten zu lassen. Das will sie auf keinen Fall.
Als sie im Sommer einen Wahlkampfstand plante, stellten die Nazis der „Freien Kräfte Berlin Neukölln“ ihr Foto ins Internet, dazu Ort und Zeitpunkt sowie die Aufforderung, bei „der Volksverräterin Wut rauszulassen“. Neben ihrem Namen der Hashtag „#Todesstrafe“. Carola Scheibe-Köster erstattete Anzeige. Die Polizei weigerte sich, ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen. Begründung: Der rechte Aufruf möge zwar „bedrohlichen Charakter haben, stellt aber keine zwingende Inaussichtstellung eines Verbrechens dar“.
Im Süden Neuköllns, in den Ortsteilen Rudow und Britz, gab es schon vor Jahren rechte Brandanschläge. Neu ist, dass auch der Norden massiv betroffen ist. Treppenhäuser wurden mit „Linke Ratte“ und „Rote Sau“ beschmiert. Ein Mann, der von Nazis mit Baseballschlägern angegriffen wurde, möchte nicht darüber reden. Ein Anschlag auf ein linkes Café schlug nur fehl, weil der Brandsatz von selbst erlosch. Der Laden befindet sich im Erdgeschoss eines Wohnhauses. Betroffene wie die Gélieus oder Carola Scheibe-Köster nennen die Neuköllner Angriffe „Terror“. Die Bürgermeisterin Franziska Giffey von der SPD sagt, man müsse den Nazis entgegentreten. Es gehe hier um nichts weniger als den Kampf um die Straße. In der Bezirksverordnetenversammlung gibt es einen breiten Konsens, dass schnell gehandelt werden muss. Und dann gibt es die AfD.
Mittwochabend im Rathaus. Die rechten Übergriffe stehen auf der Tagesordnung. Die acht Vertreter der AfD essen Schokoeier. Einer sagt, man wisse doch gar nicht, ob die Täter tatsächlich aus dem rechten Spektrum stammen. Das Anzünden von Autos sei bekanntlich eine linke Spezialität! Seine Parteifreundin sagt, sie werde nicht über rechte Gewalt diskutieren, wenn nicht gleichzeitig vor Islamismus gewarnt werde. Als eine Abgeordnete der Linken ans Rednerpult tritt und erzählt, dass auch sie Morddrohungen erhält, lacht der Fraktionschef der AfD laut auf.
Der AfD-Politiker Andreas Wild will Flüchtlinge in der "Heide" unterbringen
Carola Scheibe-Köster, die bedrohte Grüne, verfolgt die Sitzung und ärgert sich. Natürlich dürfe man die AfD nicht mit Neonazis gleichsetzen. Aber beide beeinflussten sich. Die einen veränderten das politische Klima und brächen Tabus, was den anderen nutze. Und noch mehr: „Das Gepoltere der AfD spornt die Nazis an zu zeigen, dass sie die noch wahreren Deutschen sind.“
Als Neuköllner Direktkandidat für den Bundestag wird der AfD-Politiker Andreas Wild kandidieren. Bulliger Typ, zurückgegeltes Haar. Er will Flüchtlinge nicht in Städten, sondern in der „Heide“ unterbringen und ihnen Bauholz, Hämmer und Nägel schenken. Wild tritt bei Pegida auf, spricht von „Umvolkung“ und möchte die erste Strophe des Deutschlandlieds rehabilitieren. Beim Spaziergang über die Sonnenallee sagt er, es sehe aus wie im Orient. Und dass sich das ändern müsse. Dabei lebt Andreas Wild gar nicht in Neukölln, sondern in Steglitz. Egal, sagt er. Neukölln reize ihn als Wahlbezirk, weil es das schlimmste Pflaster der Stadt sei.
Berlins neuer Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat jetzt reagiert. Im Landeskriminalamt rief er eine Ermittlungsgruppe namens „Rechte Straftaten in Neukölln“ ins Leben. Seit Mittwoch ist auch die EG Rechtsextremismus wieder aktiv. Intern heißt es, die Einsparung sei ein Fehler gewesen. Die Pressestelle des Innensenators sagt, man wolle keine Entscheidungen des Amtsvorgängers kommentieren.
Zwei junge Männer machen Fotos von den Demonstranten
Samstagmittag in Alt-Rudow. In einer Einkaufsstraße haben sich 400 Menschen zu einer Kundgebung versammelt, sie wollen zeigen, dass die Betroffenen der Anschlagsserie nicht allein sind. Kleine Kinder drehen an Rasseln, ein Mann hält eine Regenbogenflagge. Auch Claudia und Christian von Gélieu sind gekommen. In einer Baulücke zwischen Handy- und Blumenladen stehen sie auf einer Bühne und berichten, wie sich das anfühlt, plötzlich selbst Opfer zu sein. Christian von Gélieu sagt: „Scheiße, jetzt hat es uns auch erwischt.“ Franziska Giffey, die Bezirksbürgermeisterin, sagt, sie fürchte, man werde sich noch öfter zusammenfinden, um sich gegenseitig Mut zu machen. „Wir kennen alle die Listen.“
Ganz in der Nähe, mit ein paar Metern Abstand zur Kundgebung, stehen zwei junge Männer vor einem Restaurant. Sie machen Fotos von den Demonstranten, dann ziehen sie weiter. Vielleicht sind es neugierige Passanten. Vielleicht werden bald neue Bilder im Internet auftauchen, versehen mit dem Hinweis, Neuköllner Bürgern einen Besuch abzustatten.