Gewalt als Selbstzweck

Erstveröffentlicht: 
04.06.2016

Trotz der letzten Monate und Jahre: Von einer Explosion linker Gewalt kann keine Rede sein. Zu beobachten ist allerdings eine Entpolitisierung der Randalen – was Sorgen bereiten sollte.

 

Von Fabian Christl

 

Für Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) ist klar: Die Gewalttätigkeit der linksradikalen Szene hat «eine neue Dimension» angenommen. Seit zwei Jahren wiederholt er diesen Satz nach jeder Ausschreitung in der Bundesstadt – zuletzt nach den Randalen während des Umzugs im Nachgang zur illegalen Party auf dem Warmbächli-Areal vom vorletzten Wochenende.

 

Um seine These mit Beispielen zu unterlegen, muss Nause nicht lange suchen: Bei den Randalen vor der Reitschule im März wurden elf Polizisten verletzt und auch Feuerwehrleute angegriffen. Nach der Warmbächli-Randale gab es zwar keine Verletzten zu beklagen – solche wurden aber in Kauf genommen: Unbekannte warfen einen faustgrossen Stein in die Scheibe eines Feuerwehrautos. In den letzten Jahren kam es mehrfach vor, dass vorbeifahrende Polizeiautos vom Vorplatz der Reitschule aus mit Steinen oder Flaschen beworfen wurden, was tödliche Folgen für Polizisten und Unbeteiligte haben kann. Und unvergessen sind nach wie vor die Ausschreitungen im Rahmen des Tanz-dich-frei.

 

«Total friedliche Zeiten»

 

Trotz dieser Beispiele: Für Nauses Antipoden, etwa das störrische Kultur- und Politzentrum Reitschule, handelt es sich bei diesen Voten der Empörung in erster Linie um Wahlkampfgedöns. In einem offenen Brief verweisen die Reitschulbetreiber etwa ironisch auf die «total friedlichen Zeiten» von Anti-Wef-Demos vergangener Tage. Tatsächlich sind Ausschreitungen in Bern kein neues Phänomen. Nach der Jahrtausendwende eskalierten globalisierungskritische Demonstrationen regelmässig zu Strassenschlachten. Auch während «antifaschistischer Abendspaziergänge» kam es zu teils heftigen Scharmützeln zwischen Demonstranten und Polizei. Beim verhinderten Umzug von 2006 flogen gar Molotow-Cocktails gegen Polizisten. Und als die SVP 2007 in Bern demonstrieren wollte, wurde die auf dem Bundesplatz bereitstehende Infrastruktur der Veranstalter weitgehend zerstört.

 

Auch im Sicherheitsbericht des Bundesnachrichtendiensts (NDB) – eine in Bezug auf Parteilichkeit unverdächtige Organisation – finden sich keine Hinweise, die auf eine Zunahme linker Gewalt hindeuten würden. Im Gegenteil, die Zahl der vom NDB registrierten linken Gewalttaten sank in den letzten Jahren kontinuierlich. 2006 verzeichnete der Geheimdienst 227 gewaltsame Vorfälle, 2010 deren 104 und im letzten Jahr noch 49. Im Bericht bilanziert der NDB denn auch eine «weiterhin ruhige Lage» in Sachen Linksextremismus.

 

Gewalt genügt sich selbst

 

Beim Vergleich zwischen früheren und aktuellen Ausschreitungen fällt jedoch auf, dass sich der Charakter der Randalen verändert hat. So finden die heutigen Ausschreitungen kaum mehr im Rahmen von politischen Demonstrationen statt, welche von breiten sozialen Bewegungen getragen werden, wie das etwa bei den Anti-WEF-Protesten der Fall war. Die Gewalt von heute reagiert auch nicht mehr direkt auf als martialisch wahrgenommene Polizeiaufgebote und dient nicht einmal mehr vordergründig dem Schutz oder dem Erkämpfen eines linken Projekts wie der Reitschule oder des Zaffaraya. Die zeitgenössischen Ausschreitungen genügen sich selber, sie sind zum Selbstzweck geworden.

 

Dazu beigetragen haben zwei Entwicklungen. Erstens erstarkte innerhalb von Berns linksradikaler Szene eine Strömung, die ein Weltbild vertritt, das umgangssprachlich als nihilistisch bezeichnet werden kann und das Bezüge zum Insurrektionalismus aufweist. Parteien, Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Initiativen und jegliche Form von beständiger Organisation – mögen sie noch so linke Ziele verfolgen – werden abgelehnt. Die einzig legitime Form der politischen Agitation ist die der Gewalt. In den Ausschreitungen, so die Hoffnung, würden sich die Individuen selber ermächtigen und ihren Sehnsüchten nach Ausbruch aus Zwang und Kontrolle freien Lauf lassen.

 

Selbst Linksradikale sind besorgt

 

David Böhner, langjähriger Reitschul-Aktivist und selber Protagonist der linksradikalen Szene, beobachtet das Erstarken dieser Strömung mit Sorge. «Denen ist auch egal, wenn Projekte wie die Reitschule unter ihren Handlungen leiden», sagt er. Gleichzeitig relativiert er: «Der Einfluss dieser Kreise innerhalb der linksradikalen Szene ist relativ klein.»

 

Wolle man die aktuellen Ausschreitungen verstehen, rät er, sollte man den Blick eher auf die daran beteiligten Jugendlichen richten. Denn in letzter Zeit seien vermehrt «frustrierte Jugendliche» in Angriffe auf die Polizei involviert gewesen, die «schlechte Erfahrungen mit aggressiven Polizisten» gemacht hätten. Diese Jugendlichen agierten meist hemmungsloser als jene, welche ihre Taten in einen politischen Kontext stellten. Nicht wenige der Steinwürfe auf fahrende Autos gingen auf deren Kappe, sagt er. «Ich möchte die Handlungen dieser Jugendlichen nicht vollkommen entpolitisieren, glaube aber kaum, dass grosse Überlegungen hinter diesen Aktionen stehen.»

 

Eventartige Ausschreitungen

 

In Reitschulkreisen wird die Frustration dieser Jugendlichen mit einer immer «repressiver agierenden» Polizei erklärt. Einen mindestens ebenso grossen Einfluss dürften aber allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen haben. So wird Bern von Teilen der Jugend als zunehmend steriler, reglementierter und ökonomisierter wahrgenommen. Wenn es untersagt ist, am Bahnhof auf dem Boden zu sitzen, erscheinen Momente des Chaos, wie sie etwa am Tanz-dich-frei zu beobachten waren, durchaus als attraktiv.

 

Daraus resultiert aber noch lange keine ernsthafte Beschäftigung mit gesellschaftlichen Verhältnissen und auch kein Engagement für eine als positiv empfundene Veränderung. Paradoxerweise entsprechen diese eventartigen Ausschreitungen der letzten Zeit in ihrer Oberflächlichkeit deshalb weitgehend der Gesellschaft, gegen die sie sich vermeintlich richten. Und teilweise werden die fehlenden Inhalte tatsächlich mit gesteigerter Brutalität kompensiert. (Der Bund)