Ägypten: Massaker und Ausnahmezustand - Ein Bericht und Stellungnahmen

Massaker und Ausnahmezustand

Ohne Zweifel gab es einige kleine Gruppen von Islamisten in den Protestcamps in Kairo, die mit scharfen Waffen ausgerüstet waren (darunter auch Schnellfeuergewehre) und diese auch gegen die anrückenden Bullen einsetzten, dies ist auch ausreichend dokumentiert. Das Massaker, das die Bullen an den unbewaffneten Teilnehmer der islamistischen sit ins angerichtet haben, ist jedoch nicht dem bewaffneten Widerstand geschuldet. Es gibt zahlreiche Berichte von unabhängigen Beobachtern über die Grausamkeit der Bullen, einer davon stammt von Matthais Sailer, den er auf seinem blog veröffentlicht hat:

 

"Dutzende Mannschaftstransporter und Radpanzer haben die Zufahrtstrassen zum größten Protestcamp der Islamisten abgeriegelt. Die Offiziere verweisen auf die Gefahr und lassen niemanden durch. Journalisten werden durchsucht und abgewiesen. Mit regungsloser Miene sagt ein Soldat,  die Demonstranten würden im Camp ihre Zelte anzünden und sich gegenseitig erschießen, um die Sicherheitskräfte in ein schlechtes Licht zu rücken. Die absurde Bemerkung wirkt zynisch, wenn man bedenkt, dass Militär und Polizei das Camp angegriffen haben.

Einige hundert Meter entfernt haben sich tausende Islamisten an einem zentralen Verkehrsknotenpunkt unter einer auf Betonpfeilern gebauten Stadtautobahn versammelt. Einige halten Steine in den Händen, viele beten auf dem Boden kniend. Sie sind aufgeregt und die Wut ist in ihren Gesichtern zu erkennen. Das Protestcamp ist nur noch einige hundert Meter entfernt. Eine Gruppe Demonstranten rennt verzweifelt eine  der Autobahnauffahrten hinunter. Auf  ihren Schultern tragen sie einen Mann mit blutdurchtränkter Kleidung. In seiner Stirn klafft ein etwa drei Zentimeter großes Loch...."

 

Der ganze Beitrag mit Photos hier, eine eindrucksvolle Sammlung von Photos findet sich auch hier

 

Die wenigen linken Gruppierungen in Kairo haben sich schon vor Wochenfrist gegen die brutale Strategie des Militärs und ihrem ausführenden Arm, den Bullen, positioniert. Versuche, einen Weg jenseits der Konfrontation von Militär und Moslembrüder zu finden, blieben aber marginal. An den Kundgebungen auf dem Sphinx-Platz, dem "Dritten Platz", beteiligten sich im allgemeinen nur einige hundert Menschen.

 

Als einer der ersten Gruppen haben bereits gestern die trotzkistischen Revolutionären Sozialisten in einer Stellungnahme zum gestrigen Massker Position bezogen:

 

"Down with military rule! Down with Al-Sisi, the leader of the counter-revolution!

 

The bloody dissolution of the sit-ins in Al-Nahda Square and Raba’a al-Adawiyya is nothing but a massacre prepared in advance. It aims not only to liquidate the Muslim Brotherhood, but is part of a plan to liquidate the Egyptian revolution and restore the Mubarak regime at its’ military-police state.

The Revolutionary Socialists did not defend the regime of Mursi and the Muslim Brotherhood for a single day. We were always in the front ranks of the opposition to that criminal, failed regime which betrayed the goals of the Egyptian Revolution. It even protected the pillars of the Mubarak regime and its security apparatus, armed forces and corrupt businessmen. We strongly participated in the revolutionary wave of 30 June...."

 

Die vollständige Stellungnahme in englisch hier

 

Vor einigen Tagen hatte bereits Marx 21 ein aktuelles Interview mit Sameh Naguib von den Revolutionären Sozialisten veröffentlicht, in dem er ausführlich die Situation nach der Machtübernahme der Militärs analysiert:

 

"Aber haben wir es nicht mit einer Armee zu tun, die sich bald von der politischen Bühne verabschieden will?


Sie steht sehr im Vordergrund. Formell will sie sich zurückziehen. Es wurde ein Prozess beschlossen, es gibt einen Präsidenten, einen Verfassungsrichter und so weiter. Aber in Wirklichkeit ist sie sehr präsent. Wir haben es nur mit einer zivilen Fassade zu tun, dahinter verbirgt sich die Macht des Militärs. Nichts geschieht ohne Sisis Einverständnis. Er hält alle Zügel in der Hand, genau so wie damals [Feldmarschall] Tantawi, als er und der Oberste Militärrat (SCAF) das Land regierten [nach dem Sturz Mubaraks bis zur Wahl Mursis im Sommer 2012].

Würdest du der Ansicht zustimmen, dass der 30. Juni im weitesten Sinne den Aufstieg liberaler Ideen steht?

 


Der 30. Juni war ein höchst komplexer Tag. Sein Verlauf verwirrt die Menschen überall, sowohl in Ägypten als auch außerhalb, weil er zwei parallele Prozesse beinhaltete. Auf der einen Seite hatten wir eindeutig eine revolutionäre Welle von Abermillionen Ägyptern. Auf der anderen Seite haben die Armee und das alte Regime diese noch nie dagewesene Mobilisierung genutzt, um sich wieder in den Sattel zu hieven und sich der Muslimbruderschaft zu entledigen.

Formell betrachtet haben wir es daher eindeutig mit einem Putsch zu tun. Das ist offensichtlich. Das Militär hat den Präsidenten entfernt, und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Er war der gewählte, demokratisch gewählte Präsident, somit handelt es sich um einen Putsch.

Aber gleichzeitig gab diese enorme Eruption, größer noch als der Aufstand von 2011. Das hat es noch nie gegeben. Sie war dehnte sich geographisch viel weiter aus und fand auf dem Höhepunkt der bisher größten Streikwelle überhaupt statt. In den Monaten vor dem 30. Juni - das weißt du vielleicht nicht - hatte Ägypten das höchste Niveau an Streikaktivitäten, nicht nur in der Geschichte Ägyptens, sondern der ganzen Welt, mit etwa 500 Streiks pro Woche, im Durchschnitt.

Aber um nochmals auf deine Frage zurückzukommen: Um sich sowohl im Inneren als auch nach außen - vor allem gegenüber dem Westen ist das wichtig - zu legitimieren, hat sich der Putsch ein gewisses liberales Image gegeben. Daher wurden all diese Leute mit einem gutem demokratischem Ruf wie el-Baradei an die Spitze gesetzt, ganz so, als ob wir es mit einem echten demokratischen Prozess zu tun hätten. Zudem kontrollieren diese Leute und ihre Finanziers die ägyptischen Medien. Sie haben die größten Privatmedien zu ihren Diensten, die von den Milliardären kontrolliert werden, die diese beiden Parteien unterstützen...."

 

Das vollständige Interview findet sich hier

 

Vor einer Stunde wurde nun auf der facebook Seite des Tahrir Medienkollektivs ein weiteres kritisches Statement in englisch veröffentlicht:

 

"Authoritarian methods, used today by Sisi, are a sample of the state terrorism against the people. Claiming that this excessive violence is directed against a certain segment because of its ideology is intellectually nonsense. That terrorism was practiced by the military and police force...s not only against the Brotherhood, but days before military forces attacked workers in Suez, and charged them with incitement to strike as if the right to strike has become a punishable offense. The same we are back now to the emergency law. The Army and the police now gives the pretext for the party of parties to exercise violence against the various segments of society, including also the state and its agencies into the game, working in collaboration with the media to create and image for the people that there is a monster to destroy and to kill him becomes a community's mission. But the parties involved in the massacre of today seeks only to their advantage. The conflict, since its inception, between the two parties was for seats and positions in the state, and both parties do not care about the blood, both parties pay the poor against the poor in the skit to distraction and claim their rights from the remnants of businessmen and statesmen. that polarization does not only serve the owners of capital and owners of high-level positions in the state.  


THERE IS NO WAR BYUT CLASS WAR! FALL OF THE STATE! FALL OF THE MILITARY! FALL OF THE POLITICAL SYSTEM! DOWN WITH CAPITALISM!"

  

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Die Entwicklung in Ägypten ist eingebettet in eine globale Hegemonialordnung, deren Sachwalter nicht umsonst dafür sorgen, daß das Militär stets das letzte Bollwerk gegen jegliche sozialrevolutionäre Veränderung bleibt. Ohne die Rückendeckung der NATO-Staaten kann kann sich auch in Ägypten kein sonstwie geartetes Regime halten, daher ist bei der Bewertung der Situation der Blick weiterhin auf die neokolonialistische Neuordnung der gesamten Region zu richten, was wiederum nichts anderes heißt, als daß der Feind im eigenen Land steht.

 

HEGEMONIE/1764: Winter in Ägypten - Neue Herren, alte Interessen (SB)

schattenblick.de/infopool/politik/kommen/hege1764.html

Du nennst das, was die Anhänger der Muslimbruderschaft machen, eine "sozialrevolutionäre Veränderung" ?
Die Muslimbruder sind radikale Islamisten. Ihre Anhänger ebenfalls !
Natürlich gibt das dem ägyptischen Militär kein Recht auf unbewaffnete Zivilisten zu schiessen.
Es gibt mehrere Videoaufnahmen von bewaffneten ZIvilisten mit Maschinengewehren, die in Richtung Polizei & Militär schiessen.
Diese hätten natürlich das Ziel vom Militär sein müssen, anstatt dessen wurde leider wahllos in die Menge geschossen.
Nichts desto trotz ist der "Aufstand" der Muslimbruderschaft-Anhänger sicher keine sozialrevolutionäre Bewegung.
Das wäre so, als wenn tausende NPD Anhänger sich in Berlin versammeln würden und einen Regierungswechsel fordern würden.
Wenn diese NPDler niedergeschossen werden würden, wäre das zwar ein absoluter Verstoß gegen die Menschenrechte und verachtenswert, weil es sich nach wie vor um Menschen mit Grundrechten handelt - es wäre aber keine Niederschlagung einer Revolution.

Gewalt in Ägypten - Ein Land im Ausnahmezustand

 

http://www.freie-radios.net/58018

Ich habe nicht gemeint, daß die Muslimbrüder eine sozialrevolutionäre Bewegung sind, sondern daß ihre Bekämpfung durch das Militär zeigt, daß in Ägypten nichts geht, was nicht letztendlich durch das Militär reguliert würde. So gab es im Widerstand gegen Mubarak anfangs durchaus den Glauben darann, daß zumindest die einfachen Soldaten für die Sache des Widerstands zu gewinnen wären.

 

Später hat sich gezeigt, daß die Armeeführung schnell zum eigentlichen Machthaber aufstieg, der alle maßgeblichen Schritte hin zur Etablierung einer neuen Regierung kontrollierte. Die sozialrevolutionäre Jugend und vor allem Arbeiterschaft, die die Mubarak-Regierung schon Jahre zuvor mit großen Streiks herausforderte, wurde bei der Etablierung einer neuen Ordnung schnell an den Rand gedrängt, da sie über keine Verbündete unter den imperialistischen Akteuren verfügte, für die Ägypten ein strategischer Aktivposten von großem Wert ist. Wer die soziale Frage stellt, sprich die Oligarchie im Lande wie die Kapitalinteressen ausländischer Investoren angreift, der hat es sofort mit dem Militär zu tun.

 

Daß die Muslimbrüder es nicht geschafft haben, das Bündnis mit der Generalität zum Garanten ihrer Regierungsmacht zu entwickeln, ist eine Folge ihrer nur befristeten Verwendbarkeit für die Zwecke der NATO-Staaten. Diese würden zwar gerne moderate Islamisten wie die türkische AKP oder auch die Muslimbrüder für ihre Zwecke nutzen, müssen jedoch immer wieder feststellen, daß deren Zuverlässigkeit dort endet, wo westliche Werte den Primat der Religion in Frage stellen, wo die von westlichen Regierungen und Kapitalinteressen eingebundene Bourgeoisie gegen die Einschränkung ihrer Freiheit durch den islamischen Sittenkodex aufbegehrt und wo die Interessen der israelischen Regierung ohne Rücksicht auf die Palästinenser durchgesetzt werden sollen.

 

Heutigen Berichten zufolge haben sich auch viele Menschen an den Demonstrationen beteiligt, die keine Muslimbrüder sind, die aber auch keine Militärdiktatur wollen. Diese hat ihre Bereitschaft zum blutigen Durchgreifen so überzeugend unter Beweis gestellt,  daß es für diejenigen, die sich vom Sturz Mubaraks mehr Freiheit und vielleicht sogar soziale Gerechtigkeit versprochen haben, kaum finsterer aussehen könnte.

 

Entscheidend für die eigene Analyse scheint mir in dieser Situation zu sein, daß die Haltung der NATO-Staaten, man stehe vor einem Trümmerhaufen und könne rein gar nichts tun,  schon dadurch widerlegt wird, daß die Militärhilfe von 1,3 Mrd. Dollar aufrechterhalten bleibt und die Machtstellung der Generäle seit dem Sturz Mubaraks, der stets ein Gewährsmann der EU und USA war, bis heute in keiner Weise in Frage gestellt wurde. Kurz gesagt, was in Ägypten vorexerziert wird, ist die präventive Antwort auf die Machtfragen an alle, die meinen, man könne im kapitalistischen Weltsystem tatsächlich revolutionäre Veränderungen herbeizuführen, ohne es mit militärischer Gewalt in jeder Konsequenz zu tun zu bekommen.

 

Die sich abzeichnende Qualifikation der kapitalistischen Vergesellschaftung durch die Zurichtung des Menschen auf seine allgegenwärtige informationstechnische Kontrollierbarkeit, die dadurch möglich werdenden Rationalisierung der Arbeit, gegen die der Taylorismus im Fordismus wie ein Ausbund an Freiheit  erscheint, machen diese Gewalt allerdings nur insofern entbehrlich, als der noch gewährte Konsum seine befriedende Wirkung entfaltet. Kommt eine Auseinandersetzung mit dem Mangel, wie er für Millionen Ägypter alltägliche Realität ist, in den westeuropäischen und nordamerikanischen Metropolen an, dann braucht man nicht mehr nach Kairo zu gucken, um sich zu fürchten.