Boston: Wie Fotos zu einer heißen Spur werden können

Erstveröffentlicht: 
19.04.2013

Erst ein Gesamtbild aus unzähligen Aufnahmen erlaubt die Identifikation potenziell Verdächtiger

 

Lauren Crabbe, eine freie Redakteurin für Wired, war auf einer Geschäftsreise in Boston, wo sie Nachforschungen anstellte und sich auf einer Messe mit möglichen Geschäftspartnern für ihren künftigen Coffeeshop vernetzte.

 

Bilderjagd

Sie stattete auch dem laufenden Marathonbewerb einen Besuch ab, wo sie mit ihrem iPhone mehrere Fotos aufnahm, darunter ein Panorama der Rennstrecke im Zielbereich (jpg). 90 Minuten später detonierten am Copley Square zwei Bomben, die mehrere Opfer forderten und 180 Menschen verletzt zurückließen.

 

Das Bild entstand gegen 13:30 Uhr Nachmittag Ortszeit, kurz bevor Crabbe zum Logan Airport aufbrach, wo um 16 Uhr ihr Flieger gehen sollte. Gerade erst am Flughafen angekommen, wurde ihr Telefon mit besorgten Anrufen und Textnachrichten von Verwandten und Freunden geflutet, die sich Sorgen um sie machten.

 

Zu Hause angekommen las sie, dass die Ermittler die Allgemeinheit aufgerufen hatten, alle Fotos und Videos jener Orte, an welchen Bomben gefunden wurden, die zeitlich während und im Vorfeld des Marathons geschossen wurden, einzureichen. Also wählte sie die Nummer der anonymen Hinweishotline des FBI.

 

Ausgefragt

Am Mittwoch meldete sich Yogesh Sharma von der Antiterror-Taskforce des FBI-Büros San Francisco per E-Mail und erkundigte sich nach dem Material, das sie habe. Crabbe übermittelte sieben Bilder. Später erhielt sie einen Anruf des Ermittlers, der ihr Folgefragen stellte, etwa über andere Personen, die sich ihrer Meinung nach verdächtig verhielten. Darunter auch eine Suggestivfrage: "Sie haben das Foto also zwei Stunden vor der Bombenexplosion aufgenommen?". Sie antwortete, dass sie nicht wüsste, wann genau die Bombe detoniert sei, aber ihr Foto von 13:30 Uhr stammt.

 

Mittlerweile gibt es zwei Verdächtige. Einer von ihnen wurde mittlerweile im Zuge einer Schießerei getötet, der andere befindet sich auf der Flucht - so der momentane Stand. Auf ihre Spur kamen die Ermittler angeblich über die Aufnahmen einer Überwachungskamera am Copley Square. 

 

Das beste Analysetool: Die Augen

Das bedeutet nicht, dass Einreichungen, wie die Fotos von Lauren Crabbe, nun nutzlos geworden sind. Die Bilder und Videos aus der Crowd liefern einzigartige Blickpunkte und Perspektiven, die beim Gegencheck von Leuten helfen können, die die Ermittler für verdächtig halten oder befragen wollen. Moderne Software und Analysehardware kann für die Identifikation von Personen selbst kleine Details in Gesichtern registireren und Menschen auch auf große Entfernung unter anderem daran nachverfolgen, wie sie gehen.

 

Muster

Das beste Analysewerkzeug bleiben jedoch die Augen. Auf Bildern wie dem Panoramaschnappschuss von Crabbe untersuchen geschulte Fahnder Dinge wie die Position der einzelnen Menschen relativ zueinander oder ihre Ausrichtung zu natürlichen Fluchtwegen. Für sich gesehen, bringt jedes Bild so ein wenig Orientierung in die Szenerie. Verknüpft man die Erkenntnisse mit jenen von anderen Fotos, ergibt sich ein Gesamtbild, und es lässt sich etwa feststellen, welche der abgelichteten Personen sich natürlich verhielten, und wer etwas im Schilde geführt haben könnte.

 

"Es hat in den letzten Jahren eine Menge Forschung und Zusammensetzung von Daten gegeben, um zu erörtern, was 99 von 100 Leuten in Situationen wie diesen – vor und nach dem Ereignis – tun", erklärt Robert McFadden, einst Terrorismusexperte für die Navy. "Und dann sucht man nach ungewöhnlichem Verhalten. Oft lässt sich dieses erklären, wenn man die betreffenden Personen befragt, aber es ist trotzdem eine erste wichtige Spur, jene zu finden, die nicht ins Muster passen. Das kann wichtige Resultate bringen."

 

Profis vs. Amateure

Das bedeutet auch, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass ein einzelnes Bild ausreicht, um solche Fälle zu lösen. Ein Momenteinblick ist nichts im Vergleich zum Gesamtbild aus unzähligen Eindrücken über einen bestimmten Zeitraum. Diese Vorgehensweise unterscheidet auch Profis von Amateur-Ermittlern, die – wenn auch mit guten Intentionen – auf Plattformen wie 4Chan oder Reddit potenziell unschuldige Einzelpersonen an den Internetpranger stellen. (red, derStandard.at, 19.04.2013)