In Gedenken
an die von Neonazis ermordeten André K., Karl-Heinz T., Klaus R. und
alle seit 1989 aus sozialdarwinistischen Motiven Getöteten.
Demonstration am Tag X (Tag der Urteilsverkündung – voraussichtlich am 25.01.)
17:00 Uhr, Karl-Liebknecht-Str./Ecke Emilienstr.
Ob und wann das Urteil gefällt wurde/wird, erfahrt ihr unter: twitter.com/RASSISMUSTOETET
Am 28. Mai 1994
wird der 43-jährige Klaus R. in einem Mietshaus in Lindenau von sechs
Neonazis zu Tode geprügelt. Das spätere Opfer und die Täter wohnen zu
diesem Zeitpunkt im selben Haus in der Lützner Str., in dem die Neonazis
eine Wohnung besetzt halten. Nach einem Streit mit Klaus R. treten die
Täter mit Stiefeln auf ihren Nachbarn ein und schlagen ihn mit
Boxhandschuhen. 1995 verurteilt das Leipziger Landgericht den
18-jährigen Hauptangeklagten wegen versuchten Totschlags und schwerer
Körperverletzung zu fünf Jahren Haft. Die fünf Mittäter kommen mit
niedrigeren Haft- und Bewährungsstrafen davon.
Am 23. August 2008
wird zwischen 1:30 und 2:00 Uhr der 59-jährige Wohnungslose Karl-Heinz
T. am Schwanenteich von dem 18-jährigen Neonazi Michael H. angegriffen.
Ein 21-jähriger Freund von H. soll während der Tat dabei gewesen sein.
T. lag schlafend auf einer Parkbank, als er von dem Neonazi tödlich
angegriffen wurde. Neben schweren Kopfverletzungen wurden ihm auch
Prellungen am ganzen Körper zugefügt. Eine Studentin entdeckte T. am 23.
August, um 6:00 Uhr, und verständigte die Polizei im nah gelegenen
Revier, die die Meldung zuerst ignorierte. Erst gegen 7:30 Uhr erhielt
Karl-Heinz T. Hilfe.
Zwei Wochen später,
am 6. September 2008, erlag T. seinen Verletzungen. Im März 2009
verurteilt das Leipziger Landgericht den Neonazi wegen „heimtückischen
Mordes“ zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren und drei Monaten. Das
Gericht wertet den Mord nicht als rechts-motiviert. Im Urteil heißt es:
„Aus seiner schlechten Laune heraus störte ihn der Anblick des
schlafenden Mannes, dessen Schlafplatz er willkürlich als unpassend
bewertete“. Die Polizei stuft den Mord als „normale Straftat unter
Alkoholeinfluss“ ein.
In der Nacht zum
27. Mai 2011 wird der schlafende Wohnungslose André K. (50) am Oschatzer
Südbahnhof von mindestens fünf Männern im Alter von 16 bis 36 Jahren
brutal zusammengeschlagen. Der schwer verletzte Mann wird nach dem
Gewaltexzess hilflos zurückgelassen und erst am Morgen des 27. Mai
aufgefunden. K. erlag am 1. Juni 2011 seinen schweren Verletzungen. Am
8. Juni nahm die Polizei drei Männer im Alter von 25 bis 36 Jahren fest.
Unter den Tätern befand sich Ronny S. (27) aus Oschatz, der der
ehemaligen JN Oschatz bzw. dessen Nachfolger, der JN Nordsachsen,
zuzurechnen ist.
Seit Dezember 2011
wird gegen fünf Angeklagte wegen gemeinschaftlichen Totschlags und gegen
einen Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung vor dem Leipziger
Landgericht verhandelt. Ende September erteilte das Gericht einen
rechtlichen Hinweis, wodurch die Angeklagten Sebastian B. und Ronny S.
wegen Mord aus niederen Beweggründen sowie die drei Heranwachsenden zu
Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt werden könnten. Der Prozess
gegen die Täter soll voraussichtlich am 25.01.2013 abgeschlossen und ein
Urteil gesprochen werden.
Mythos der unpolitischen Morde
Die Fälle weisen
mehrere Parallelen auf: Die Täter sind Neonazis, die aus
sozialdarwinistischen Motiven gehandelt haben. Doch können sie nur als
Spitze eines gesamtgesellschaftlich verbreiteten Sozialdarwinismus
gesehen werden. Das Handeln von Gerichten und Polizei ist dafür
exemplarisch, auch in diesen drei Fällen: Das Tatmotiv wurde
ausgeblendet, die Täter werden als „unpolitisch“ eingestuft. Die
„normalen Straftaten“ geschehen unter Alkoholeinfluss oder „aus einer
schlechten Laune heraus“. Die Täter werden wegen Totschlags verurteilt,
in Teilen auch wegen Mordes. Nie wird jedoch ein sozialdarwinistisches
Tatmotiv in Betracht gezogen, geschweige denn sich überhaupt für das
Tatmotiv interessiert.
Der bisherige
Prozess zum Mord an André K. zeigt dies deutlich. Mindestens einer der
Tatverdächtigen, Ronny S., wird in der Neonaziszene verortet. Es
existieren Fotos, die ihn bei einer Aktion der NPD-Jugendorganisation JN
sowie unter einer Reichskriegsflagge posierend zeigen. Zeug_innen
sagten in der Verhandlung aus, sowohl S. als auch der wegen
unterlassener Hilfeleistung angeklagte Silvio H. seien Anhänger der
rechten Szene. Beide haben Tätowierungen, so den Zahlencode „88“ sowie
die sogenannte „Schwarze Sonne“, die weitere Hinweise auf die rechte
Gesinnung geben. Der Angeklagte Chris K. war laut Zeugenaussagen in
Oschatz als „Thor Steinar Chris“ bekannt.
Ein Beweisantrag
der Nebenklagevertretung, der darauf abzielt, mögliche rechte bzw.
sozialdarwinistische Tatmotive zu beleuchten sowie zu prüfen, wurde
abgelehnt. Lange Zeit wurde in den Medien das Eintreiben von Schulden
als Haupt-Tatmotiv im Fall von André K. vermutet. Doch stellt sich die
Frage, warum ein Wohnungsloser, ein ökonomisch Benachteiligter, als
Opfer für einen Überfall ausgewählt wurde?
Vor Gericht gab
Sebastian B. zu, dass es nicht wirklich um das Eintreiben von Schulden
ging: „Es gab sicher keinen Anlass gegen Herrn K. vorzugehen. Wir haben
uns im Suff einen sinnlosen Grund eingeredet.“ Nicht Schulden
eintreiben, sondern Sozialdarwinismus und Entmenschlichung lassen sich
dabei als Motiv erkennen. Anders ist die – selbst vom Gericht erkannte –
„Gewaltorgie“ K. gegenüber nicht zu erklären, bei der das Opfer mit
einem Samuraischwert attackiert und sein Kopf möglicherweise auch
kurzzeitig auf die Eisenbahnschienen gelegt wurde. Die Enthemmung der
Täter, ihr Ungleichwertigkeitsdenken, beides irrelevant für das Gericht.
Richter Göbel und Sozialdarwinismus
Doch sollte dies
nicht verwundern. So sind Gerichte sowie dessen Beteiligte nicht gefeit
vor sozialdarwinistischen Denken, sind sie doch bekanntermaßen Teil der
Gesellschaft. So auch der Richter im aufgeführten Prozess, N. Göbel.
Selbiger war auch Richter im Prozess um den rassistischen Angriff auf
Nuno L. im Juli 1998 in Gaschwitz bei Leipzig. L. starb im Dezember 1998
an den Folgen dieser Tat. Richter Göbel lies damals die Witwe auf den
Kosten der Nebenklage sitzen, den Tätern wurden nicht mal die
Prozesskosten auferlegt und einen Haftantrittstermin kam erst auf
überregionalen medialen Druck zustande. Auch im Prozess um den Mord an
Karl-Heinz T. war Göbel Vorsitzender Richter und beachtete selbst den
von der Verteidigung des Täters erbrachten Hinweis nicht, ein rechtes
bzw. sozialdarwinistisches Motiv in der Tat zu untersuchen.
Damals wie heute
ist das Handeln des Richters nicht nachvollziehbar. Im aktuellen Prozess
äußerte er sich bei der Vernehmung eines wichtigen Zeugen
herabwürdigend über Erwerbslose. „Sie müssen sich doch erinnern können,
Sie haben als Arbeitsloser doch sonst nichts zu tun“, hielt Göbel dem
Zeugen vor und versuchte ihn auf diese Weise unglaubwürdig zu machen.
Auch in weiteren Verlautbarungen sowohl den Tätern als auch Zeug_innen
gegenüber, würdigte Göbel die Betreffenden aufgrund ihres
zugeschriebenen sozialen Status herab. Sozialdarwinismus als Tatmotiv,
ein Richter, der es reproduziert!
Gesellschaft und Sozialdarwinismus
Sozialdarwinismus
ist, beruhend auf der Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft, ein Denken,
das Menschen nach ökonomischen Nützlichkeitskriterien bewertet. Es
teilt in Gewinner_innen und Verlierer_innen ein, schreibt ihnen somit
einen gesellschaftlichen Marktwert zu, womit die Abwertung von Menschen
einhergeht. Menschen, denen keine Nützlichkeit zugeschrieben wird,
werden als unnütz angesehen, gar als unwert. Dieser Mechanismus richtet
sich gegen die vermeintlichen Verlierer_innen dieser Verwertungslogik,
denen ihre eigene soziale Situation vorgeworfen wird, sie seien im
Grunde selber Schuld an ihrer Lage. So wird aus einer realen sozialen
Ungleichheit eine Ungleichwertigkeit gemacht.
Grundlage sind
Arbeitsethos und Leistungsprinzip in der bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft. Auf Staatswegen wird beides verankert. „Wenn Arbeiter
keine Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, gibt es keinen
Fortschritt. Gewisse Unsicherheit und Angst sind wichtig.“ Die Aussage
des Wirtschaftswissenschaftlers Samuelson lässt Mechanismen erkennen,
die lohnabhängig Beschäftigte disziplinieren sollen. Soziale
Abstiegsängste werden geschürt, womit eine „erhöhte Flexibilität der
Arbeitskräfte“, die Förderung von „Loyalität gegenüber dem Betrieb“, die
Steigerung von Produktivität und Effizienz und somit gesellschaftliche
Entsolidarisierung einhergehen. Menschen mit Arbeit und die ökonomische
Mittelschicht grenzen sich nach unten ab, sie befürchten einen sozialen
Abstieg, der nur durch Arbeit und Leistung abzuwenden scheint. Es ist
selbst festzustellen, dass mit niedriger Soziallage das Bedürfnis
wächst, sich von Personen am untersten Rand der Sozialhierarchie
abzugrenzen, indem ihnen eine negativere Arbeitshaltung zugeschrieben
wird als sich selbst.
Mehr als die Hälfte
der Besserverdienenden hält Langzeitarbeitslose für „willensschwach, an
ihrer Lage selbst schuld und für die Gesellschaft nutzlos“. Das wird
dann schnell in politische Forderungen übersetzt. Franz Müntefering,
damaliger SPD-Bundesvorsitzender, Vizekanzler und Bundesminister für
Arbeit und Soziales sagte im Mai 2006: „Nur wer arbeitet, soll auch
essen.“ Durch solche Statements werden sozial Benachteiligte
entmenschlicht und abgewertet.
Dieser verbalen
Gewalt folgt dann die körperliche Gewalt. Täter_innen
sozialdarwinistisch motivierter Gewalt setzen um, was durch Politik und
Medien propagiert und gesellschaftlich akzeptiert ist.
„Aus den Augen aus dem Sinn“ – Von Verdrängung aus dem öffentlichen Raum
Parallel findet
eine Vertreibungs- und Verdrängungspolitik im öffentlichen Raum statt.
Diese „Säuberung“ der Innenstädte von Wohnungslosen, Bettelnden oder
Alkohol-/Drogenkonsument_innen ist von vielen gewünscht. Diese Politik
der „Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit“ trifft gerade auf Leipzig zu
und verwehrt zahlreichen Menschen den Aufenthalt in öffentlichen Räumen.
So soll Kameraüberwachung sozial Unerwünschte abschrecken bzw.
Ordnungsbehörden soll zum schnellen Eingriff auf sie aufmerksam gemacht
werden. Die Innenstadt wurde im Interesse des Stadtmarketings zur
„sauberen Zone“ erklärt, in der alle, die als störend empfunden werden,
an den Rand gedrängt oder weg geschickt werden.
Auf dem
Hauptbahnhof achten Bundespolizei, private Sicherheitsfirmen und die
Deutsche Bahn AG darauf, dass es sich Menschen, die nicht in die
Shoppingwelt passen, nicht lange gemütlich auf den vorhandenen Bänken
machen. Ihnen werden Hausverbote erteilt, selbst bei schlechten
Wetterbedingungen. Der Bahnhof, die Leipziger City und zahlreiche andere
Plätze gehören heute beinahe ausschließlich den Einkaufzentren und
deren Konsument_innen. Sitzmöglichkeiten werden sowohl in der Stadt als
auch im Bahnhof so konzipiert, dass sie nicht sehr bequem sind und sich
niemand darauf hinlegen kann. Wohnungslose sollen so aus dem Stadtbild
ferngehalten werden. Bettelnde werden nicht selten verjagt.
Auch die Politik
der Sparkassen engen Rückzugsräume für Wohungslose ein. So wurden im
Winter 2010/2011 und 2012/13 Filialen zwischen 21:00 und 6:00 Uhr wegen
„auftretender Verunreinigungen“ geschlossen. Was unter „Verunreinigung“
zu verstehen ist, wird auf einem entsprechenden Schaufenster-Aushang
nicht erläutert. Durch das nächtliche Schließen der Sparkassenfiliale
werden auch Wohnungslose, die sich dort gelegentlich aufgewärmt hatten,
gezielt ausgeschlossen. Damit trägt die Sparkasse Leipzig dazu bei,
Wohnungslose aus dem Stadtbild zu verdrängen. Die vage Begründung der
Sparkasse ist zudem geeignet, verbreitete Vorurteile zu bestärken, denen
zufolge Wohnungslose per se „verunreinigt“ seien.
Konsens: Sozialdarwinismus!
Sozialdarwinismus
erfährt einen breiten gesellschaftlichen Konsens, wer zur Gemeinschaft
vermeintlich nichts beiträgt, wird stigmatisiert, ausgegrenzt und
abgewertet, was bis hin zur Tötung führen kann. Der gewalttätige
Sozialdarwinismus richtet sich besonders gegen Langzeitarbeitslose,
Menschen mit geistiger Behinderung und Wohnungslose. Wohnungslose sind
noch einmal besonders gefährdet, weil sie über keinerlei sicheren
Rückzugsraum verfügen. Die Folge: Von 1989 bis 2011 wurden nach
Informationen des Bundesarbeitskreis Wohnungslosenhilfe 167 wohnungslose
Menschen von Tätern außerhalb der Wohnungslosenszene getötet.
Daher:
Gegen jeden Sozialdarwinismus! – Gegen jede Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft!
Für eine solidarische Gesellschaft!
Solidarität mit den von Sozialdarwinismus Betroffenen!
In Gedenken an die
von Neonazis ermordeten André K., Karl-Heinz T., Klaus R. und alle seit
1989 aus sozialdarwinistischen Motiven Getöteten.