Neonazi-Trio
Von Matthias Gebauer, Sven Roebel und Holger Stark
Erneut geraten die Sicherheitsbehörden in der NSU-Affäre in Erklärungsnot: Nach SPIEGEL-Informationen war Thomas S., einer der 13 Beschuldigten im Verfahren, über zehn Jahre für das Berliner Landeskriminalamt als Informant tätig. Die brisanten Details hielt das LKA sehr lange zurück.
Hamburg/Berlin - Der Mann, der die Ermittlungspannen zum "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) zur Staatsaffäre machen könnte, lebt zurückgezogen in einer Mehrfamilienhauswohnung in einer verkehrsberuhigten Seitenstraße in Sachsen. Im Garten stehen Tannen, auf dem Sportplatz gegenüber spielen Kinder Fußball. Mit Journalisten will er nicht sprechen: Als der SPIEGEL ihn im August befragen wollte, rief er nur "ich sage nichts" in die Gegensprechanlage.
Dabei hätte Thomas S. Brisantes zu berichten: Der 44-Jährige ist einer von derzeit 13 Beschuldigten, gegen die der Generalbundesanwalt im Zusammenhang mit dem NSU-Terror ermittelt. Von BKA-Ermittlern ließ sich S. inzwischen mehrfach vernehmen und gestand unter anderem, in den neunziger Jahren Sprengstoff an die Terrorzelle um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe geliefert zu haben.
Ein zentrales Detail seiner bewegten Vergangenheit findet sich jedoch nicht in den Aussage-Protokollen: Nach SPIEGEL-Informationen wurde Thomas S. mehr als zehn Jahre lang als "Vertrauensperson" (VP) des Berliner Landeskriminalamts (LKA) geführt: Von Ende 2000 bis Anfang 2011.
Fünf Treffen mit V-Mann-Führern
Der Kontakt des LKA zur Quelle S. war offenbar intensiv. Doch erst in diesem Jahr, genauer gesagt im März 2012, informierten die Berliner den Generalbundesanwalt: Zwischen 2001 und 2005 habe S. bei insgesamt fünf Treffen mit seinen V-Mann-Führern Hinweise auf die NSU-Mitglieder geliefert.
Auch wenn die Ermittler mittlerweile recherchiert haben, dass die meisten Tipps von S. nur auf Hörensagen basierten, stellt sich die Frage, ob und warum die Berliner Behörden nicht schon viel früher die Landesbehörden in Thüringen oder auch den Bundesverfassungsschutz informierten. Schließlich wurde das Trio seit 1998 steckbrieflich gesucht.
Von den jahrelangen Verbindungen eines engen Vertrauten des Terror-Trios zu den Behörden erfuhr der Untersuchungsausschuss des Bundestags erst am Donnerstagmorgen - allerdings nicht etwa vom Land Berlin, sondern von der Bundesanwaltschaft, die den Ausschussbeauftragten im Juli abstrakt über die Causa S. in Kenntnis gesetzt hatte.
Einigen im Ausschuss platzt langsam der Kragen nach der schier endlosen Reihe von nicht bereitgestellten Akten. "Es ist unbegreiflich, dass Berlins Innensenator uns nicht über die V-Mann-Tätigkeit von Thomas S. informiert hat", sagt Eva Högl von der SPD, "das ist ein Skandal, den Herr Henkel nun erklären muss".
Ein eilig zusammengestelltes Geheim-Fax von Innensenator Frank Henkel beruhigte da wenig. Bis auf die zehnjährige Kooperation mit S. konnte Henkels Apparat auf die Schnelle auch noch nicht viele Details zu dem Fall nennen - zum Beispiel, was S. tatsächlich lieferte und an wen Berlin die Infos damals weitergab.
"Techtelmechtel" mit Beate Zschäpe
Ein mutmaßlicher Terrorhelfer in Staatsdiensten - die Nachricht markiert den vorläufigen Tiefpunkt in einer Affäre, die das Vertrauen in den deutschen Sicherheitsapparat in der Öffentlichkeit inzwischen gegen null sinken lässt. Immer neue Enthüllungen um verschwundene, zurückgehaltene oder eilig vernichtete Akten zum Umfeld der Neonazi-Zelle kosteten bereits den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, sowie seine Länderkollegen aus Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt das Amt.
Der heute Beschuldigte und Ex-Informant Thomas S. war einst eine Größe in der sächsischen Neonazi-Szene. Er gehörte den sogenannten "88ern" an, einem gewaltbereiten Skinhead-Trupp, der in den neunziger Jahren Chemnitz terrorisierte. S. stieg in die Spitze der sächsischen Sektion des militanten Neonazi-Netzes "Blood & Honour" (B&H) auf. Er war außerdem verstrickt in Produktion und Vertrieb von Neonazi-Rock und frequentierte illegale Skin-Konzerte.
Bei einem Auftritt der Band "Oithanasie", so erinnerte er sich in einer Vernehmung im Januar, habe er wohl auch Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe kennengelernt, bevor er wegen Körperverletzung in Haft kam. Nach seiner Entlassung sei er von Ende 1996 bis April 1997 mit Beate Zschäpe liiert gewesen, in seinen Vernehmungen sprach er von einem "Techtelmechtel".
Erstaunlich zugänglich
Etwa in dieser Zeit, so räumte Thomas S. im Januar 2012 gegenüber dem BKA ein, habe er Mundlos auf dessen Wunsch rund ein Kilo TNT-Sprengstoff beschafft. Das "Päckchen in der Größe eines kleinen Schuhkartons" will er dem Rechtsterroristen in einem Keller übergeben haben. Wenig später flog in einer Garage in Jena die Bombenwerkstatt von Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt auf; nach dem Fund der 1392 Gramm TNT flüchtete das Trio und ging in den Untergrund.
Dort, in Chemnitz, half Thomas S. nach eigenen Angaben den Kameraden bei der Suche nach einem Versteck. Er habe herumtelefoniert und das Trio zunächst für ein paar Wochen in der Wohnung des B&H-Sympathisanten Thomas R. untergebracht.
Danach, so S., habe er gehört, dass die drei bei Max-Florian B. wohnten, aber keinen Kontakt mehr zu ihm wünschten. Da er ein Verhältnis mit Zschäpe gehabt habe, würde die Polizei bei ihm als erstes suchen. Seit 1998, so S. in seinen Vernehmungen, habe er das Trio nicht mehr gesehen.
Dem Berliner LKA fiel Thomas S. erstmals auf, als er für die Neonazi-Band "Landser" CDs vertrieb und dabei half, die Hass-Musik konspirativ herzustellen. Als die Polizisten ihn ansprachen, war S. erstaunlich zugänglich - und willigte schließlich ein, den Beamten Informationen aus der rechten Szene zu liefern.
"Vertrauensperson" heißen solche Leute bei der Polizei. Es ist allerdings oft nicht ganz klar, wer wem dabei vertraut. Jedenfalls versprach die Behörde, S.' Identität zu schützen. Auf dieser Zusage soll S. noch im Frühjahr 2012, bei seinen Vernehmungen beharrt haben.
Abgeschaltet im Jahr 2011
Die Berliner verpflichteten S. im November 2000 formal als VP. Zu diesem Zeitpunkt hatten die drei Rechtsterroristen zwar ihre ersten Verstecke verlassen, hielten sich offenbar aber immer noch in Chemnitz auf. Laut Akten berichtete S. das erste Mal 2001 über das Trio. Was genau, ist bislang noch unbekannt. Seine Rolle bei der Sprengstoffbeschaffung und der Organisation konspirativer Wohnungen verschwieg er dem LKA jedoch offenbar.
2002 schließlich gab er den Berliner Polizisten immerhin den Hinweis, wer Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe suche, müsse sich auf den "Landser"-Produzenten Jan W. konzentrieren. Der war bereits von einem V-Mann des brandenburgischen Verfassungsschutzes als möglicher Waffenlieferant des Trios genannt worden. Mit den Informationen aus Berlin hätte sich der Verdacht verdichtet, die Zielfahnder hätten W. noch intensiver als ohnehin schon überwachen können. Bis heute ist unklar, was mit den Angaben, die S. in Berlin machte, geschah.
So ging es weiter. Offenbar drei weitere Male lieferte Thomas S. den Berliner LKA-Beamten Informationen über die untergetauchten Neonazis, zuletzt 2005. Für die Beamten blieb er auch danach noch eine ergiebige Quelle: Er wurde laut den Akten erst im Januar 2011 abgeschaltet - ein dreiviertel Jahr vor dem Auffliegen des "Nationalsozialistischen Untergrunds". Es sollte aber bis zum 20. März 2012 dauern, bis die Berliner ihre Erkenntnisse aus den Jahren 2001 bis 2005 mit dem Generalbundesanwalt in Karlsruhe teilten.
Berlins CDU-Innensenator Frank Henkel, seit Dezember 2011 im Amt, muss nun erklären, wieso er und seine Polizei die brisanten Informationen nicht meldeten. Denn der Untersuchungsausschuss des Bundestages kennt den Vorgang nur mittelbar, über die Karlsruher Bundesanwaltschaft. Der hatte dem Berliner LKA ein Behördengutachten geschickt, in dem abstrakt über S.s Angaben berichtet wird.
Henkel wird auch aufklären müssen, an wen die Erkenntnisse damals gegangen sind. In Thüringen, so viel hat der dortige Ausschuss bisher herausgefunden, findet sich in den Akten der Zielfahnder, die dem Terror-Trio auf den Fersen waren, jedenfalls nichts.
Dass Thomas S., der wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung beschuldigt wird, verurteilt wird, gilt als unwahrscheinlich. Die Vorwürfe sind wohl verjährt.