El Salvador: Friede den Knästen

Erstveröffentlicht: 
12.09.2012

Ein Waffenstillstand zwischen den beiden größten Jugendbanden, den Maras, hat in El Salvador dazu geführt, dass seit Mitte März 2012 die Mordrate um über 60%  zurückgegangen ist. Für die Gesellschaft hat sich ein Fenster geöffnet, um in einem Dialog die sozioökonomischen Ursachen der Kriminalität nachhaltig in Angriff zu nehmen, anstatt wie bisher durch eine repressive Politik der „harten Hand“ die Gewalt noch eskalieren zu lassen.

 

Waffenstillstand zwischen den Maras

 

Samstag, der 14.April 2012 war ein besonderer Tag für El Salvador, denn Präsident Mauricio Funes berichtete seinen AmtskollegInnen auf dem sechsten Amerika-Gipfel in Kolumbien, dass es in seinem Land, das mit offiziell 70 Morden pro 100.000 EinwohnerInnen eine der höchsten Mordraten der Welt besitzt, an diesem Tag keinen einzigen Mord gegeben habe. Am Ende des Tages war ein Opfer eines Gewaltverbrechens zu beklagen. [1]

 

Das Abkommen zwischen Anführern der beiden größten Maras von El Salvador – die Mara Salvatrucha (MS-13) und Barrio 18 (B-18) – wurde am 9.März im Hochsicherheitsgefängnis von Zacatecoluca, auch „Zacatraz“ genannt, unterzeichnet. Bereits eineinhalb Monate später war die Mordrate von etwa 14 auf sechs pro Tag herabgesunken. [2] Als Vermittler des Waffenstillstandes sind der Militär- und Polizeikaplan Fabio Colindres und der ehemalige Berater des jetzigen Sicherheitsministers Munguía Payés und frühere FMLN-Guerillero Raúl Mijango öffentlich in Erscheinung getreten. Kern der Vereinbarung ist die beiderseitige Einstellung sämtlicher Morde an anderen Mara-Mitgliedern, PolizistInnen, Soldaten und GefängnisaufseherInnen sowie deren Familien. [3] Als Geste des guten Willens wurden in der zweiten März-Woche mehr als 30 Gefangene, bei denen es sich laut Sicherheitskreisen um nationale Anführer von Mara Salvatrucha und Barrio 18 handelt, aus Hochsicherheitsgefängnissen in Trakte der niederen Ebene überstellt. Statt Isolationsfolterhaft dürfen die Gefangenen nun Besuch von Familienangehörigen empfangen. Nach einer anonymen Quelle aus Regierungskreisen behauptet die Zeitung El Faro außerdem, dass angeblich Gelder in der Höhe von 10.000 $ den Angehörigen der MS-13 angeboten worden sein sollen. Dies wird von anderen Quellen aber nicht bestätigt. [4] Der Economist berichtet über darauf folgende weitere Entspannungsmaßnahmen: „Seither haben die [Maras] weitere Konzessionen gemacht. Am 2.Mai haben sie versprochen, niemanden mehr in den [zu „Friedenszonen“ erklärten, Anm.] Schulen zu rekrutieren. Fünf Tage später haben Insassen im überfüllten Gefängnis von La Esperanza geschworen, dass sie damit aufhören werden, über Gefängnistelefone Entführungen von Personen zu veranlassen. `Ich möchte die Gesellschaft und jene, die uns die Chance gegeben haben, uns zu verändern, um Verzeihung bitten“, so der Salvatrucha-Anführer Dionisio Arístides. `Wir sind menschliche Wesen, die nicht nur Böses tun´.“ [5]

 

Zu beachten gilt es auch, dass Sicherheitsminister Munguía Payés, ein Ex-Militär und Hardliner, dem Ambitionen auf die nächste Präsidentschaft nachgesagt werden, eine zwielichtige Rolle spielt: „Den Erfolg des Waffenstillstands … steckt sich Munguía Payés gerne an seinen Hut. Ein Eiertanz, um im Fall eines Erfolgs als Sieger und im Fall des Scheiterns der Verhandlungen nicht als völliger Verlierer da zu stehen.“ [6] Zwar lehnt die Funes-Regierung offiziell jeden direkten Dialog mit den Maras ab, da sie angesichts der geringen Popularität von Verhandlungen einen politischen Supergau befürchtet. Insbesondere die überwiegend konservativen Medien und die meisten ParlamentarierInnen des Kongresses artikulieren ihre Ablehnung eines Dialoges mit den Maras. Dennoch kam es zu einem Austausch der Anliegen und Positionen zwischen der Regierung und den Maras, berichtet Inter Press Service am 25.August. [7] Zu den Prioritäten der Maras gehören Gesetzesänderungen bei Bereichen wie der vorzeitigen Entlassung von GefängnisinsassInnen bei unheilbaren Krankheiten oder Personen, die älter als 65 Jahre sind. Das von der Funes-Regierung 2010 erlassene Anti-Mara-Gesetz soll nach dem Willen der Maras zurückgezogen werden. Auch die Aufhebung der Isolationsfolterhaft in Spezialgefängnissen für Marer@s, die als hoch gefährlich eingestuft werden, wird gefordert. Die Maras wünschen sich auch, dass ZeugInnen, die gegen andere Marer@s aussagen, keine Hafterleichterung mehr bekommen sollen – eine Vorgehensweise, auf die sich die salvadorianische Staatsanwaltschaft stützt, um die Gefängnisse zu füllen, während die Maras davon ausgehen, dass diese Praxis missbraucht werde, um den Mangel an Indizien oder Beweisen zu verschleiern. Die Forderung nach Abzug der Sicherheitskräfte aus Gebieten mit starker Präsenz der Maras stößt auf wenig Gegenliebe, vor allem bei den betroffenen Communities selbst. Im Gegenzug verlangt die Regierung laut der konservativen Tageszeitung Diario de Hoy, dass sämtliche kriminellen Aktivitäten, auch die Erpressungen, die trotz Waffenstillstand weitergehen, eingestellt werden; dass sich alle Marer@s, die in ein Verbrechen involviert sind, sich freiwillig der Polizei stellen und dass illegale Waffen und Sprengstoffe abgegeben werden. Schließlich erwartet die Regierung, dass die Maras die Standorte bekannt geben, an denen sich die geheimen Friedhöfe befinden, auf denen sie Opfer verscharrt haben, um jeden Hinweis auf das Verbrechen zu vertuschen. [8]

 

Am 28.März appellierte Präsident Funes an alle Sektoren der Gesellschaft, sich an einem Dialog zu beteiligen, um ausstiegswillige Marer@s bei der Reintegration in die Gesellschaft zu unterstützen. Dabei richtete sich Funes speziell an die Unternehmen und forderte sie dazu auf, Ausbildungsplätze und Jobs anzubieten. [9] Dabei bewegt sich die Regierungspolitik im Spannungsfeld zwischen wie bisher Repression, die auf unmittelbare Ergebnisse abzielt und die Aufrechterhaltung des staatlichen Images als oberster Verbrechensbekämpfer im Auge hat – und einem Ansatz, der die sozialen Ursachen der Kriminalität wie auch der Jugendbanden berücksichtigt und daher nachhaltige und langfristigere Folgen erzeugt. Dazu Präsident Funes: „Ich schlage vor, dass diese nationale Vereinbarung damit anfängt, sich umgehend dem sozialen Problem zu widmen, das an der Wurzel der kriminellen Aktivitäten der Gangs liegt, dazu gehören sozialer Ausschluss und der Mangel an Jobchancen, Bildung, Gesundheit und Erholung für die salvadorianische Jugend.“ [10] Auch Anführer der Maras schlagen in eine ähnliche Kerbe, so wird Oscar Armando Reyes von der B-18 von Associated Press mit den Worten zitiert: „Wir wollen eine endgültige Waffenruhe erreichen, alle kriminellen Aktivitäten der Gangs sollen eingestellt werden. Doch wir müssen Vereinbarungen treffen, denn wir müssen überleben. Es wurde von Plänen für Jobs gesprochen, aber wir haben keine Antworten bekommen und nun ist es an der Zeit, dass die Regierung uns zuhört“. [11]

 

Skeptische Stimmen aus der Gesellschaft

 

In der salvadorianischen Gesellschaft begegnen viele dem Waffenstillstand mit großen Vorbehalten. Während nicht notwendigerweise letale Verbrechen wie Entführungen, Drogenhandel und Schutzgelderpressungen („la renta“) unverändert weitergehen, wird der Regierung vorgeworfen, dass sie in geheimen Verhandlungen durch Hafterleichterungen und andere Zugeständnisse einen Erfolg gegen die Kriminalität „erkauft“ habe. Es wird kritisiert, dass der Rechtsstaat seine Legitimität aufgebe, wenn die Regierung sich zu Zugeständnissen an die Maras „erpressen“ lasse. [12] Zweifel bestehen auch darüber, wie lange der Waffenstillstand halten werde. „Eine Sicher­heits­po­litik, die allein vom guten Willen der Ban­den­chefs abhänge, berge Risiken, meinte dazu der ehe­ma­lige Gue­ril­la­kom­man­dant Dago­berto Gut­iérrez. »So müssen wir uns fragen, wie lange sich die Mit­glieder der lan­des­weit ope­rie­renden Gangs an die Anwei­sung ihrer Chefs halten werden.«“ [13]

 

Auf diese Kritik antwortete die Regierung von Präsident Funes, dass es sich bei dem Waffenstillstand de facto um eine Folge der unabhängigen Mediation durch die katholische Kirche mit Wissen und logistischer Unterstützung seitens der Regierung handle. [14] In einem Interview mit El Faro klärt der Vermittler Raúl Mijango über die Hintergründe auf und sagt, die Verhandlungen gingen darauf zurück, dass ursprünglich Familienangehörige von Marer@s mit der Bitte um Unterstützung an ihn und Monsignore Colindres herangetreten seien. In der Folge sei es zu einer Reihe von Gesprächen mit Marer@s im Gefängnis gekommen. Mijango kommentiert, dass mehrere Mara-Mitglieder aus der älteren Generation, bei denen es noch ein stärkeres Bewusstsein darüber gebe, welchen Schaden die Maras in der Gesellschaft anrichten, die Kontrolle über ihre Cliquen in den Nachbarschaften verloren hätten. Es ginge bei dem Prozess also auch darum, die Macht der älteren Generation in den Maras zurückzugewinnen, damit die Ergebnisse der Verhandlungen auch wirklich auf der Strasse umgesetzt werden. [15]

 

Schliesslich wird von manchen nicht so sehr in Frage gestellt, dass die Regierung mit den Maras verhandeln könnte, jedoch wird kritisiert, dass dies hinter verschlossenen Türen geschehe, und es wird daher mehr Transparenz gefordert. Viele „meinen, dass jede Form von nicht-transparenten Verhandlungen mit kriminellen Strukturen in die Fußstapfen der rechten PolitikerInnen des Landes tritt, denen schon lange dunkle Verbindungen und Kommunikation zu den Strukturen des organisierten Verbrechens nachgesagt werden.“ [16]

 

Die Maras

 

Bei den Maras sind nach offiziellen Angaben 60.000 Jugendliche assoziiert. Die Maras „lieferten sich lange blutige Schlachten um die Kontrolle von Stadtvierteln. Sie arbeiteten als Auftragskiller und Entführer, kontrollieren den örtlichen Drogenhandel und erpressen flächendeckend Schutzgeld im ganzen Land. Kaum eine Schule, kaum ein Friseur- oder Tante-Emma-Laden, der nicht das bezahlt, was die Maras „renta“ nennen - „Steuern“.“ [17] Maras sind nach den Worten von Carlos Álvarez, Sänger einer in der Subkultur verwurzelten salvadorianischen Rockband, „nicht nur einfach Kriminelle. Es ist auch eine ganze Jugendkultur, die sich hinter diesem Phänomen verbirgt, mit ihren Codes, Tattoos, weiten Hosen, Musik und Kultobjekten. … Was die Jugendlichen an den Banden so fasziniert, ist das Ambiente, in dem sich die Gruppe bewegt und in dem gemeinsam Erfahrungen gemacht werden. Dort herrscht eine unglaubliche Solidarität. Das ist etwas Einmaliges und für viele Jugendliche sehr anziehend.“ [18] Angesichts der Tatsache, dass nach offiziellen Angaben 38% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben und die Gesellschaft einer extrem ungleichen Einkommensverteilung ausgesetzt ist, kommt der in den Armenvierteln tätige Salesianerpater José Maria Moratalla zu dem Schluss: „Die Jugendbanden sind eine Rebellion der Armen gegen die Reichen … Die meisten Jugendlichen in diesem Land haben einfach von Anfang an keine Chance, während fünf Familienclans in einem Jahr mehr Vermögen erwirtschaften als die Summe des gesamten Bruttoinlandsprodukts von El Salvador“. [19]

 

Barrio 18 ist die älteste der Maras. Sie wurde bereits in den 1960er Jahren in Los Angeles als Zusammenschluss von Jugendlichen der Chicanos gegründet, die sich gegen die Aggressionen anderer Gangs zur Wehr setzen mussten. Ende der 1970er Jahre entstand die Mara Salvatrucha aus Kindern von Flüchtlingsfamilien. Die MS-13 hob sich schon äußerlich von anderen Gangs ab. Während Mitglieder von B-18 mit rasierten Köpfen, zu weiten T-Shirts und Hosen und Tatoos herumliefen, orientierten sich die Angehörigen der MS-13 eher am Heavy Metal-Look mit engen schwarzen Hosen, Lederjacken und langen Haaren. Nachdem B-18 und MS-13 zunächst als Verbündete auftraten, kam es schliesslich schon in Los Angeles zum Bruch. Auch in El Salvador existierten damals Jugendbanden, die sich Maras nannten. Jedoch fehlt den salvadorianischen Maras dieser Zeit die Affinität zur Gewalt, „Mara“ bedeutete schlicht ein umgangssprachliches Wort für informelle Freundeskreise und umfasste Fußballkollegen genauso wie die Jugendgruppe einer Kirchengemeinde. Maras konnten auch aufmüpfige Jugendliche sein, die in der Nachbarschaft umherzogen und den Leuten Streiche spielten. [20] Maras bildeten sich im Kontext der 1980er Jahre, als noch der Bürgerkrieg in El Salvador wütete, bei dem mehr als 75.000 Menschen getötet wurden. Die UN-Wahrheitskommission kam zu dem Ergebnis, dass der Staat und die mit ihm verbundenen paramilitärischen Todesschwadronen für 95% der Toten verantwortlich sind. 100.00e Familien wurden auseinander gerissen, als die Menschen in die USA und andere Länder flüchteten und dabei zum Teil ihre Kinder zurücklassen mussten. Nach den Friedensvereinbarungen, die Anfang der 1990er Jahre den Bürgerkrieg zwischen der FMLN-Guerilla und dem Militär beendeten, verschärfte die Regierung der USA ihre Asylpolitik und die Abschiebung von papierlosen und anderen SalvadorianerInnen wurde beschleunigt. Mónica Novoa schreibt: „Aber in den Jahren nach dem Krieg war das Land nicht dazu ausgestattet, um die Abgeschobenen zu integrieren oder um der Jugend im allgemeinen ein Sicherheitsnetz zur Verfügung zu stellen.“ [21] „Wesentlich für diese Generation der Bandenmitglieder war der Zusammenhalt. Die Mara war die Ersatzfamilie, das Stadtviertel, auf dessen Verteidigung heilige Schwüre geleistet wurden, war das Zuhause. Wer eintreten wollte, musste ein Prügelritual über sich ergehen lassen und wurde tätowiert. Sogar ein paar wenige Frauen wurden damals von einzelnen Cliquen aufgenommen. Die Verbindung sollte ein Leben lang halten - wie eine Familie eben. Wer austreten wollte, wurde mit dem Tod bedroht. Trotzdem waren die salvadorianischen Banden im Vergleich zur MS-13 und zu B-18 in Los Angeles relativ harmlos. Deren Mitglieder hatten Erfahrung im Drogenhandel, konsumierten Crack und Kokain, waren geübt im Umgang mit Schusswaffen und kannten Gefängnisse von innen.“ [22] Nachdem die USA begonnen hatten, straffällige SalvadorianerInnen verstärkt nach El Salvador abzuschieben, kam es zu einer Vermischung der beiden Mara-Strukturen. „Niemand wartete auf [die Abgeschobenen], niemand kümmerte sich um sie - mit der Ausnahme der heimischen Maras. Von denen wurden die schweren Jungs aus dem Norden bewundert; wegen ihrer Mode, wegen ihrer manchmal sogar im Gesicht getragenen Tatoos, wegen ihres „Spanglish“ genannten Sprachmixes aus Spanisch und Englisch und wegen ihrer Brutalität. So etwas kannte man in El Salvador vorher nur aus Gewaltfilmen im Kino. Die Deportierten waren schnell die neuen Chefs der Maras und führten innerhalb weniger Jahre die autochtonen Banden in die Großverbände von MS-13 und B-18.“ [23] Inzwischen sind aus „den Jugendbanden mit kleinkrimineller Abenteuer-Romantik … in zwei Jahrzehnten mafiöse Strukturen entstanden, deren Grenzen nur noch schwer auszumachen sind.“ [24]

 

Mano dura und „soziale Säuberung“

 

In den Friedensverträgen der 1990er Jahre wurden u.a. Reformen des Sicherheitsapparates festgelegt. Polizei und Armee wurden getrennt und auf Demokratie und Menschenrechte verpflichtet. Dieser Prozess kam nur langsam ins Rollen, doch bereits ab 2003 entschieden sich die Regierungen der rechtsextremen ARENA-Partei für eine Politik der „harten Hand“ (mano dura) gegen Jugendbanden und unterliefen damit die Umsetzung des vereinbarten Reformprozesses.

 

Die Politik der „harten Hand“ geht auf verschiedene zusammenhängende Faktoren zurück: Das wachsende Gewaltausmaß, aber auch eine teilweise sensationalistische Berichterstattung der Medien, verstärken bei den Menschen das Gefühl der Unsicherheit und die Erwartung an die Politik wächst, sich diesem Problem zu widmen. Ein vereinfachendes Verständnis über die Natur der Maras sowie die Tendenz, selbst ohne entsprechende Indizien die Kriminalität allein den Maras zuzuschreiben, erhöhen den Druck zum harten Durchgreifen. „Gangs werden oft als Sündenböcke für diverse andere Sicherheitsprobleme und kriminelle Aktivitäten benutzt, für die sie nicht verantwortlich sind. Die Mehrheit der Jugendlichen, die als „Gang-Mitglieder“ erachtet werden, gehören immer noch zu kleinen Nachbarschaftsbanden und sind nicht in schwerwiegende Verbrechen verwickelt. Leider wird die Angst in den Communities, in denen Gangs präsent sind, manchmal durch feurige Medienberichte geschürt.“ [25]

 

Mano dura „steigerte schnell die Anzahl der Menschen in den Gefängnissen, da sie erlaubte, verdächtige Gang-Mitglieder allein auf der Grundlage ihrer körperlichen Erscheinung einzusperren. Weil es sich auf Jugend-Profiling stützte, kriminalisierte Mano dura die Jugendlichen innerhalb wie außerhalb der Gangs und schloss sie aus. … [Es] wird deutlich, dass diese Politik nicht funktioniert hat und die Kampagnen in den Medien um sie herum haben manchen AktivistInnen zufolge nur dazu gedient, die in Gangs involvierte Jugend noch weiter zu marginalisieren und auszuschließen.“ [26] Die Jungle World zitiert Laura Käser von der Stiftung Quetzalcoatl, die Präventionsarbeit unter marginalisierten Jugendlichen leistet: »Diese Politik hat die Problematik der maras sehr komplex gemacht. … Nachdem die ältere Generation und die Chefs so massiv weggesperrt wurden, haben sich die Banden neu organisiert. Heute haben die neu eingestiegenen Jugendlichen keine Tattoos mehr und keine kahlrasierten Köpfe. Sie sehen ganz normal aus und sind nicht von anderen zu unterscheiden. Das kommt einer tickenden Bombe gleich.« [27]

 

Während Mano dura noch dazu beiträgt, die Gewalt zu verschärfen, ist El Salvador zudem mit der Problematik der „sozialen Säuberung“ konfrontiert. Diese geht noch auf die 1970er und 1980er Jahre zurück, als zivile Sicherheitskräfte und Todesschwadronen zumeist in einer Nacht- und Nebelaktion politische DissidentInnen und soziale AktivistInnen verschleppten und ermordeten. Nach den Friedensverträgen gingen diese politisch motivierten Verbrechen zurück. Dennoch ist zu beobachten, dass die Morde nach diesem Muster nicht aufhörten, sondern nun andere Opfergruppen trafen – häufig fielen ihnen als Kriminelle verdächtigte Personen zum Opfer. Insbesondere Kinder und Jugendliche sind von dieser „sozialen Säuberung“ betroffen, denn gerade die Mordrate an Kindern und Jugendlichen ist seit den 1990er Jahren angestiegen. [28]

 

Im Juni 2010 wurden bei einem Brandanschlag auf einen Linienbus in Mejicanos, einem Vorort der Hauptstadt San Salvador, 17 Menschen getötet – ein Gewaltexzess, der El Salvador in Schrecken versetzte und selbst die ohnehin schon extreme „alltägliche“ Kriminalität in den Schatten stellte. Obwohl die Ermittlungen im Sande verliefen und völlig unklar blieb, welches Motiv hinter dem Brandanschlag steckte, wurde das Verbrechen sofort von Medien und Politik den Maras in die Schuhe geschoben. Diverse Studien belegen, dass es nicht zulässig ist, die Maras als alleinige Verantwortliche für die Kriminalität im Land auszumachen. Dennoch kündigte Präsident Funes, der von einem „terroristischen Akt“ sprach, umgehend an, die Gesetzgebung gegen Jugendbanden zu verschärfen. Henry Campos, der Vizeminister für Justiz und Sicherheit kommentierte das geplante Gesetz mit den Worten: „Die Idee besteht darin, die reine Mitgliedschaft in einer Bande unter Strafe zu stellen, ohne ein anderes Delikt beweisen zu müssen.“ [29] Den Versuch, die Mitgliedschaft in den Maras zu kriminalisieren, gab es bereits im Zuge der Politik der „harten Hand“ und „superharten Hand“ unter den ARENA-Regierungen von Francisco Flores und Antonio Saca. Ein entsprechendes Gesetz im Jahr 2003, das von der FMLN im Übrigen damals noch strikt abgelehnt worden war, wurde vom Obersten Gerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben. Dennoch wurde Präsident Funes’ Gesetzesvorhaben von Unternehmerverbänden, Medien und ARENA-Partei begrüsst. [30] Bereits seit Ende 2009 setzt die Regierung das Militär zur Verbrechensbekämpfung auf der Strasse ein. Mano dura erlaubt nun den Sicherheitsbehörden, Personen ausschließlich aufgrund von äußeren Merkmalen wie Kleidung, Gestik oder den bei Maras beliebten Tätowierungen zu verhaften. Folglich steigen die Zahlen der Internierungen massiv an, während aber in seltensten Fällen Straftaten nachgewiesen werden können. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation FESPAD werden 90% der Zehntausenden Verhafteten zeitnah aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen. [31] Mit den Anti-Mara-Gesetzen geht einher, dass die Maras rechtlich dem Bereich des organisierten Verbrechens zugeordnet werden. Neben einer Ausweitung des Strafausmaßes zielt die von Mano dura inspirierte Gesetzgebung darauf ab, die Beweispflicht stark einzuschränken und auf die Mitgliedschaft zu beschränken, und zwar unabhängig davon, ob ein Delikt vorliegt. Jegliche Unterstützung und Finanzierung von Maras wird dabei unter Strafe gestellt. [32] ARENA-FunktionärInnen outen sich dabei noch als Hardliner, denen die Vorschläge der Funes-Regierung nicht weit genug gehen und die strengere Maßnahmen zur Militarisierung wie eine spezielle Anti-Mara-Polizeieinheit und die Aufstockung der Sicherheitskräfte auf der Strasse fordern. Einfache Bandenmitglieder will ARENA zu einem zweijährigen Militärdienst zwangsverpflichten. Die ARENA-Abspaltung GANA fordert gar die Verankerung der Todesstrafe in der Verfassung. Während die FMLN-Regierung die Forderungen von ARENA überdenken will, wurde doch tatsächlich von den rechten Parteien und gegen die Stimmen der FMLN im Parlament beschlossen, dass im Schulunterricht zu Beginn jedes Tages eine siebenminütige Bibellektüre verpflichtend ist – u.a. mit der Begründung, dass dadurch „der Gewalt vorgebeugt“ werde. [33]

 

Den positiven Entwicklungen seit dem Waffenstillstand zwischen den Maras zum Trotz ist zu beobachten, dass die Regierung von Präsident Funes bislang noch an den alten Mustern der militarisierten Politik der „harten Hand“ festhält. Die von der Regierung Anfang des Jahres gemachte Ankündigung, den landesweiten Ausnahmezustand auszurufen und die Präsenz der Armee zB an den Schulen zu erhöhen, veranlasste Insight Crime zu der Bemerkung, dass diese Politik „ein Teil von Funes’ Eskalation des Krieges gegen die Strassengangs zu sein scheint. … Funes imitiert die … Strategie seiner Vorgänger, indem er ehemaliges Militärpersonal in Toppositionen des Sicherheitsapparates platziert, von denen manche drohen, dass sie mit Masseninternierungen von der Gangmitgliedschaft verdächtigen Personen beginnen könnten.“ [34]

 

Chance für nachhaltige Antworten

 

»In El Salvador wird Jugend mit Kriminalität gleichgesetzt. Sie gilt als Lebensphase, die man möglichst schnell überwinden sollte. Staatliche Angebote für Jugendliche existieren schlichtweg nicht. Ausbildungsplätze sind Mangelware und für Träger eines Piercings oder einer Tätowierung nicht zu bekommen. Jegliche jugendliche Ausdrucksform wird in El Salvador stigmatisiert, und Rehabilitation bleibt ein Fremdwort.« so Jorge Alberto Castro von der Stiftung Quetzalcoatl. [35] Das Washington Office on Latin America  (WOLA) definiert folgende Risikofaktoren für eine steigende Gewalt unter Jugendlichen in Zentralamerika: das Ausgeliefertsein gegenüber häuslicher und/oder sozialer Gewalt; das Fehlen von ökonomischen Möglichkeiten, schwache Community-Institutionen und ein ausgefranstes soziales Beziehungsgeflecht. Zu den weiteren Faktoren zählen früher Schulausstieg und ein leichter Zugang zu Waffen und Drogen. [36] Jean­nette Aguilar vom Mei­nungs­for­schungs­in­stitut der Zen­tral­ame­ri­ka­ni­schen Repu­blik bereitet es Sorgen, „dass die posi­tive Ent­wick­lung [seit dem Waffenstillstand] nicht auf poli­ti­sche Maß­nahmen wie Prä­ven­tion und Wie­der­ein­glie­de­rung zurück­zu­führen ist. »Ein Pro­blem, wie wir es in El Sal­vador erleben, lässt sich nur durch eine nach­hal­tige Ver­fah­rens­weise lösen«, mahnt sie.“ [37]

 

Die Stiftung Quetzalcoatl organisiert im Viertel Atlanta in San Salvador ein Projekt, das auf nachhaltige, Community-orientierte Arbeit zur Gewaltprävention abzielt. Bereits 2010 entschieden sich dort die örtlichen Maras, ihren Kleinkrieg einzustellen. Stattdessen treffen sich die Menschen im Barrio nun bei Workshops über Menschenrechte, HIV-Prävention und Strassenkunst. „Als Ende letzten Jahres ein privater Streit eskalierte und in einem Mord endete, zogen alle gemeinsam die Notbremse. Die von Quetzalcoatl vermittelten Fähigkeiten zur Selbsthilfe trugen Früchte. Anstatt eine blutige Fehde zu beginnen und alte Bandenstrukturen wieder aufleben zu lassen, riefen die jugendlichen Viertelbewohner alle Beteiligten an den Verhandlungstisch.“ Zynischerweise sind es gerade die Maßnahmen der Politik der „harten Hand“, die Projekten wie Quetzalcoatl zum Verhängnis werden können, denn: »Sollte das [Banden-]Gesetz ausgeschöpft werden, könnte man die mit Jugendlichen im Umfeld der Banden arbeitenden Organisationen leicht kriminalisieren«, befürchtet Projektleiterin Laura Käser. »Unsere Arbeit könnte im schlimmsten Fall als ›Unterstützung krimineller Vereinigungen‹ ausgelegt werden.« [38]

 

In Washington DC hat sich inzwischen das transnationale Komitee Transitional Advisory Group in Support of the Peace Process in El Salvador gegründet. Als Ziele nennt das Komitee die Sicherheit für diejenigen, die in den Verhandlungsprozess involviert sind, die Bestandsaufnahme der spezifischen Bedürfnisse der Marer@s und den Aufbau von Unterstützung und Ressourcen für den Community-orientierten Prozess. Als Bedürfnisse wurden bislang von Matratzen für den Familienbesuch über Gesundheitsdienste, Hafterleichterung bei guter Führung bis Berufsausbildung und Arbeitsstellen nach der Freilassung identifiziert. VertreterInnen der beiden Maras fordern zudem Armee und Polizei dazu auf, Menschenrechtsverletzungen in den Griff zu bekommen und den Schutz des Prozesses sicherzustellen. Weibliche Gefängnisinsassinnen wünschen sich den Beitrag von Frauen- und Familienorganisationen, um ihre spezifischen Bedürfnisse anzusprechen. [39] Luis Rodriguez vom Kulturzentrum Tia Chucha, würdigte auf einer Pressekonferenz des Komitees in Los Angeles die Errungenschaften und Möglichkeiten des Prozesses: „Frieden kommt aus den Herzen der Menschen, von einer Zurückweisung der Gewalt durch die Menschen und wenn er sich von unten erhebt, dann müssen wir mit ihnen zusammenstehen. Dies ist schon vorher geschehen, es wurde vorher sabotiert und scheiterte an fehlenden Ressourcen und Respekt, aber aus jedem Scheitern erheben sich neue FriedenskämpferInnen.“ Laut Rodriguez entstehe Frieden „nicht durch die Institutionen, Frieden kommt nicht von den friedvollen Menschen, Frieden kann letzten Endes von den Menschen ausgehen, die mit der Gewalt begonnen haben, das Beste kann manchmal aus dem Schlechtesten entstehen.“ [40] Auch das Ex-MS-13-Mitglied Alex Sanchez von der NGO Homies Unidos stellt fest, dass eine Schlüsselrolle bei der Gewaltreduktion von respektierten ehemaligen Gangmitgliedern übernommen werden kann, indem diese in Konflikten als MediatorInnen auftreten und Alternativen zum gewalttätigen Gangalltag schaffen. Doch seien solche Vereinigungen für die Behörden grundsätzlich verdächtig und würden oft durch Anti-Gang-Gesetze verboten. [41] Luis Cardona von Justice for Gathering meint, dass es zur Versöhnung dazu gehöre anzuerkennen, dass Menschen in den Gangs sich Verletzungen zugefügt haben, doch auch Menschen außerhalb der Gangs sind zu Opfern gemacht worden. Daher sei ein Heilungsprozess wichtig. Luis Rodriguez fügt hinzu: „Du kannst beschädigtes Leben und Besitz nicht wieder herstellen, aber du kannst Vertrauen zurückgewinnen. Eine Möglichkeit besteht darin, Gang-Mitglieder selbst dazu zu bewegen, sich der Community und Veränderung zu widmen.“ Rodriguez geht sogar so weit, aus den Erfolgen in der eigenen Arbeit mit Gang-Mitgliedern abzuleiten, dass auch besonders gewalttätige Menschen auf diesem Weg wieder in die Gesellschaft „hereingeholt“ werden könnten. [42]

 

Der Ex-Guerillero Raúl Mijango erklärt in einem Interview mit El Faro, bei den Verhandlungen mit den Maras gehe es um die Subsistenz und das Überleben. „Denn sie sagen ganz klar …: Bring das nicht durch einander, wir sind keine Guerilla, wir sind eine Gang. Und was meinen sie damit? Dass sie nicht nach politischer Macht streben … Sie sind einfach eine soziale Gruppe, die das Gefühl hat, dass die Gesellschaft ihnen jede Chance verweigert hat, sich zu entwickeln und sie mussten sich zum Überleben zusammenschließen. Das große Ziel ist zu überleben! … Die letzte Überlegung ist: Warum existiert dieser Krieg? Es wird nur dann eine Lösung geben, wenn wir die Ursachen betrachten.“ [43] WOLA fordert die Regierung von Präsident Funes dazu auf, „den Vorteil dieses Moments (zu) nutzen, um mit der salvadorianischen Gesellschaft zusammenzuarbeiten, damit eine solide, langfristige und umfassende Strategie gegen die Gangs entwickelt wird, die Gewaltprävention, Reintegration und Rehabilitation hervorhebt. Schnelle Handlungen, selbst kleine Mengen an Geld für Beratungszentren, Jobausbildung und Beschäftigungsprogramme sowie andere Aktivitäten könnten eine wichtige und positive Botschaft aussenden, die dabei helfen kann, die kurzfristige, den Waffenstillstand begleitende Gewaltreduktion in eine langfristige Senkung der Verbrechens- und Gewaltraten umzusetzen.“ [44]

 

Während bereits aufmerksame Augen in den USA, Guatemala und Honduras, die vor einer vergleichbaren Problematik stehen wie El Salvador, die Entwicklungen in diesem Land beobachten, kommentiert Tom Hayden vom Peace and Justice Ressource Center den Prozess mit den Worten: „Gang-RapperInnen und DichterInnen in El Salvador haben sich selbst lange Zeit als Früchte des Krieges beschrieben – „las frutas de la guerra“. Nun besteht die Chance eines großen Gezeitenwechsels, bei dem Gang-Mitglieder, ihre Familien und ganz El Salvador die Früchte des Friedens ernten.“ [45]